Theorie und Praxis der Handschrift (1.1) – Die versehentliche Verfälschung der Buchstaben

Die schöne Urform unserer Handschrift: Die Cancellaresca des Schreibmeisters Ludovico Arrighi, nachgeschrieben von Bernhard Linz

Im Beitrag gestern hatte ich geschrieben, dass ich als Kind die Form des kleinen S nicht verstanden habe und daran schier verzweifelt bin. Den Grund für die kleine Einbuchtung oben habe ich erst als Erwachsener verstanden, und zwar als ich mich mit der Urform unserer Handschrift beschäftigt habe. Es ist die in Italien im 16. Jahrhundert entstandene Renaissance-Kursiv. Ihre schönste Form findet sich im Schreibbuch „La Operina“ (1522) des Schreibmeisters Ludovico Arrighi: Sie heißt Cancellaresca, im Bildbeispiel nachgeschrieben vom Kalligraphen Bernhard Linz. Er hat die Cancellaresca mit der Wechselzugfeder geschrieben. Der Aufstrich, mit dem die Buchstabenverbindung hergestellt wird, unterscheidet sich deutlich vom Formstrich. Man sieht, dass der obere Bogen des kleinen S seine Entsprechung im großen S hat. Er fällt nur aus Platzgründen kleiner aus. (1)

1) Cancellaresca
2) Lateinische Ausgangsschrift (LA)
3) Schulausgangsschrift (SAS)
4) Vereinfachte Ausgangsschrift (VA)

In all unseren Ausgangsschriften ist der Anstrich zum Formelement geworden. Der Grund ist die Einführung der Gleichzugfeder bei modernen Füllfederhaltern. Mit ihr erscheinen alle Striche gleich dick. Der obere Bogen ist bei LA und SAS zudem verkümmert, bei der VA ganz verschwunden. Heinrich Grünewald, der Schöpfer der VA, kritisiert an der Lateinischen Ausgangsschrift:

„Vergleicht man ausgeschriebene Handschriften mit der einstmals gelernten (..) Ausgangsschrift, erkennt man vielfach überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen den beiden Schriften. Die Erwachsenenschrift hat ihr Gesicht so sehr gewandelt, dass eine Identität mit der Ausgangsschrift verloren gegangen ist.“ (Grünewald 1981)

Diesen übertriebenen Verschleifungen wäre sinnvoll zu begegnen, indem man in der Vorstellung des Schreibers Klarheit über die Grundform festigt. Wer das „s“ als Garderobenhaken zu schreiben lernt wie in der VA, kann nicht entscheiden, mit welcher Verschleifung er sich unzulässig von der Grundform entfernt. Wer Anstrich und Formstrich nicht unterscheiden kann, verfälscht die Schrift, ohne es zu wollen. Was nutzt dann die von Grünewald geforderte Formkonstanz, wenn sie sich in Elementen etabliert, die gar nicht zum Buchstaben gehören? Daraus folgt nur maschinenmäßiges Schreiben ohne Sinn und Verstand.

weiter: Begraben unter Perücken – Handschrift an die Luft!

21 Kommentare zu “Theorie und Praxis der Handschrift (1.1) – Die versehentliche Verfälschung der Buchstaben

  1. Ich habe in der Schule die lateinische Aussgangsschrift gelernt. Dachte ich jedenfalls. Bis ich eben, weil ich da unbedingt etwas nachgucken wollte (das ß habe ich anders gelernt) feststellte, dass das kleine R teilweise (aber nicht überall) in den Vorgaben für die lateinische Ausgangsschrift irgendwo in der Luft herumhängt und mit den anderen Buchstaben nicht verbunden ist. Oder dass alternativ der zweite Bogen so tief endet, dass es fast wie ein N aussieht.
    Nur wenn Kinder diese Schrift schreiben, sieht sie so aus, wie ich sie gelernt habe. Sobald ein Erwachsener oder ein Computer das versuchen, geht das in die Binsen.

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          • Danke für den Trost, dass meine Grundschullehrerin doch nicht alles falsch gemacht hat.
            Übrigens erinnere ich mich sehr gut daran, wie unsere Lehrerin uns am Anfang unserer Grundschulzeit einen Vortrag über die lateinische Ausgangsschrift hielt. Sie sagte, es sei beschlossen worden, dass wir Kinder diese zu lernen haben, da sie gut für unser Schriftbild sei. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob mir als Sechsjähriger die Feinheiten eines sarkastischen Untertons schon geläufig waren – ich erinnere mich aber sehr gut daran, dass sie sagte, sie sei ja nun schon alt und werde uns die Buchstaben daher zwar zeigen, selber aber in ihrer eigenen Schrift weiterschreiben, da diese von Generationen von Kindern als sehr gut lesbar eingestuft worden seien. Und das tat sie dann auch.
            Ihre Schrift würde ich heute noch wiedererkennen.

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            • Gerne. Das heißt also, deine Grundschullehrerin hat noch eine Vorform der LA gelernt. Dann muss sie alt gewesen sein. Vor der LA wurde ja die Deutsche Normalschrift gelehrt und gelernt.
              Deutsche normalschrift ab 01091941
              Sie löste 1941 die Sütterlin ab.

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              • Wie 1941 will ich aber auch nicht schreiben … Und die Worte „Deutsche Normalschrift“ in Verbindung mit einer Jahreszahl zwischen 1933 und 1945 lösen bei mir eher Brechreiz aus, ganz unabhängig davon, wie die Buchstaben aussahen. Wann wurde denn die lateinische Ausgangsschrift eingeführt?

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                • Die Umstellung auf Deutsche Normalschrift kam mit dem Verbot der Fraktur und deren Handschriftvariante „Sütterlin“ durch die Nationalsozialisten mit Erlass von 1941. Seit 1953 wurde in Deutschland die LA eingeführt. 1968 ging die DDR mit der SAS einen eigenen Weg. In den Ländern Berlin, Hamburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und dem Saarland ist die SAS die verbindliche Erstschreibschrift. In Bayern, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen kann zwischen der SAS und der Vereinfachten Ausgangsschrift (VA) gewählt werden.

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  2. Sie hatte eine sehr eigene Handschrift. Eckig und nach rechts geneigt; sehr gleichmäßig, mit eher großen Kleinbuchstaben (wenn Du weißt, was ich meine). Jung war diese Lehrerin sicher nicht mehr, aber selbst heute kann ich nicht einschätzen wie alt sie gewesen sein mag.
    Leider habe ich bestimmt nichts mehr hier, wo sie wenigstens unterschrieben hätte.
    Ich habe gerade Freund Google um Rat gefragt. Einige Handschriften erinnern mich ein wenig an ihre, aber es sind alles „künstlerische“ Handschriften; selbst erarbeitet und schwierig zu erkennen, was dem Erschaffer ursprünglich mal beigebracht wurde.
    Hmmm… irgendwie ärgert mich das… hab ich nicht irgendwo noch ein altes Schulheft?
    HA!!! MEINE ZEUGNISSE!!! Wenn ich wüsste, wo die sind…

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    • Dann schrieb sie vielleicht eine Mischform aus Kurrent und Lateinschrift. Das würde auch ihre Vorbehalte erklären, da die Kurrent von den Nazis 1941 verboten worden war. Quasi über Nacht hieß es nicht mehr, das Eckige der Fraktur/Kurrent entspräche dem deutschen Nationalcharakter, sondern die Fraktur wurde nun bezeichnet als „Schwabacher Judenletter.“

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  3. Christa https://wordpress.com/read/blogs/6382306 hat eine Website verlinkt, die in einer „Handschrift“ gesetzt ist:
    http://www.lavialla.it/de/die-erzeugnisse/
    Ich meine mal gehört zu haben, dass ein wesentlicher Grund für die Einführung der VA (?) war, dass sie besser digital zu setzen ist, weil die „Anschlussstellen“ einheitlicher sind. Also eher ein Anliegen der Schulbuchverlage aus Kostengründen… Weißt du da was davon?

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    • Danke für den Hinweis. Die dort zu sehende Handschrift passt gut zur Thematik der Seite, weil sie suggeriert, dass die vorgestellten Produkte handwerklich hergestellt sind.
      Die Vereinfachte Ausgangsschrift wurde in den 1970-er Jahren vom Grundschullehrer Heinrich Grünewald geschaffen. Ihr liegen seine Untersuchungen zur Schreibmotorik der LA zugrunde. Vor allem sollte die VA weniger Deckstriche und Drehrichtungswechsel als die LA haben, gleichmäßige Haltepunkte (daher die „einheitlicheren Anschlussstellen“) und vereinfachte Großbuchstaben. Die Schulbuchverlage waren gegen die VA, weil alle Bücher in LA schlagartig veraltet waren.
      Übrigens hattest du nicht eine Idee für ein Übung angekündigt? Ich bin gespannt.

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  4. Nun endlich hat es doch noch geklappt mit dem Hochladen – aber wenn ich schon solche technischen Probleme damit hatte, ist es wohl eher nicht als „massentaugliche“ Übung geeignet, zumal Videos nur mit den teureren Bezahtarifen direkt in WP hochgeladen werden können… 😦 lg, Anna

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    • Liebe Anna,
      vielen herzlichen Dank für deine handschriftliche Videobotschaft. Es ist ein ästhetischer Genuss, dir beim Schreiben zuzusehen. Du schreibst mit einer erstaunlichen Geläufigkeit und formst deine Buchstaben so flott, dass man glatt neidisch werden kann. Links ragt eine neue Ausgabe des Dudens auf, der Tisch hat die gleiche Farbe, Maserung und Tönung wie meiner, einfach toll! Auch technisch ist das Video überzeugend umgesetzt. Du vermutest mit Recht, dass allein diese Anforderung nicht massentauglich ist, aber die Idee, die Handschrift beim Entstehen zu filmen und dabei zu reflektieren, was passiert, gefällt mir gut. So ist dein Video eine gute Erweiterung und Ergänzung des Handschrift-Seminars.Dass du den Link zweimal eingesetzt hast, erlaubt das Video simultan zu starten, wodurch sich ein surrealer Effekt ergibt.
      Nochmal vielen Dank und schöne Grüße,
      Jules
      Ich werde dein Video aus dem Kommentarkasten ins Teestübchen-Blog heben, damit es nicht untergeht.

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      • Lieber Jules,
        ich fand es selber interessant, es mir danach nochmal anzuschauen. Z.B. würde mich, wenn ich andere Videos von Handschriften sehen könnte, interessieren, ob die Leute die i-Punkte und t-Querstriche erst am Ende des Wortes verteilen oder direkt nach dem „Hauptteil“ des Buchstabens, oder irgendwann dazwischen.
        Der Duden war übrigens mein Stativ, an dem ich mein Handy mit einem Gummiband befestigt hatte – fand ich thematisch ganz passend 🙂
        Ach ja, ich lese allermeistens in der WP-App, und da werden die Videos nicht richtig angezeigt. Deshalb habe ich es zweimal eingesetzt, in der Hoffung dass jetzt wenigstens eines funktioniert. Auch schon wieder eine Idee für ein kreatives Projekt, eine Art simultan-Choreografie…
        Herzliche grüße,
        Anna

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