Ich folgte einer Einladung – Aus einem alten Tagebuch

Die Zugfahrt Aachen – Frankfurt/Main ist mit 154 DM arg teuer. Ein Problem wird die Rückfahrt sein. Ich müsste schon am späten Abend in Frankfurt losfahren und säße in der Nacht zwei Stunden auf dem Mainzer Bahnhof rum. Darum fragte ich das Mädel am Schalter nach einer Alternative. Sie befragte vergeblich ihren Computer. Darauf plauderten wir etwas über die Vorzüge des Systems gegenüber dem für Laien unlesbaren Kursbuch (vergl. Zeitungsbericht).

Im Zug nach Köln saß bei mir einer, der unentwegt in seine DIN-A5-Kladde schrieb, weiträumig,mit Fußnoten. Den sah ich wieder, nachdem ich in Köln in den IC 527 Gorch Fock Kiel – Köln – Nürnberg umgestiegen war. Es sollte meine erste Fahrt überhaupt mit einem Intercity sein. Freilich merkte man in meinem Abteil nichts, was den Zuschlag von 6 DM rechtfertigt.

Mir gegenüber saß eine etwa 50-jährige Frau mit kräftigen Gesichtszügen. Sie trug eine weiten rostfarbenen Rock. Die Dame war in Opladen gewesen, wo sie ihre Schwester besucht hatte, und würde mitfahren bis Koblenz, wo sie umsteigen würde, um die Mosel hoch zu fahren nach Konz bei Trier. Sie hatte ein düsteres Weltbild, sagte, dass es ja heute kaum noch gerechtfertigt sei, Kinder in die Welt zu setzen bei all der Gewalt, Arbeitslosigkeit und Umweltverschmutzung. Wann immer ich etwas einwandte, stieß sie mit einfältigem Gesichtsausdruck vor und rief: „Sagen se nur! Is dat wahr? Sagen se nur?“ Hätte sie dabei nicht dieses eselsmäßige Staunen im Gesicht gehabt, hätte ich gedacht, die will mich verarschen. So dachte ich, das eselsmäßige Staunen gilt in Konz vielleicht als Bestandteil höflicher Konversation. Im Himmel über Konz hängt tagein, tagaus ein vielstimmiger Chor von „Sagen se nur! Is dat wahr? Sagen se nur?“ Begleitet vom eselsmäßige Staunen wird es traditionell zwischen den Konzern hin- und hergegeben wie andernorts die Geldmünzen. „Sagen se nur! Is dat wahr?“ ist die eigentliche Konzer Währung. Man weiß es ja nicht als Außenstehender. In Koblenz verließ sie mich mit guten Wünschen für meine Gewalttour Aachen-Frankfurt-Aachen. „Dankesehr! Und Ihnen wünsche ich glückliche Heimkehr nach Konz!“

„Sagen Se nur! Is dat wahr?“

Wie vermisste ich diese prächtige Konzerin schon, als sie gerade erst ausgestiegen war. Als ich ihr geschildert hatte, dass ich in der Nacht noch würde zurückfahren müssen, weil ich am nächsten Tag arbeiten musste, war mir selbst etwas mulmig gewesen.

Bei Mainz rollte der Zug über den Rhein. Mein Mut sank, denn auf der rechten Rheinseite beginnt für mich Rheinländer das finstere Ausland und dehnt sich aus bis in die Innere Mongolei. Immerhin wurde meine Deutschlandkarte für diese Gegend konkretisiert. Wir kamen nämlich auch durch die Opelstadt Rüsselsheim, wo müde Männer auf den Bahnsteigen auf ihre Züge warteten, nicht auf meinen. Der IC ist nichts für sie. Sie passen besser in schmutzige und überfüllte Nahschnellverkehrszüge, befand der Bahnexperte in mir, ein hübscher Experte, hatte gerade erst den IC kennengelernt und trug schon die Nase hoch.

Der Frankfurter Hbf ist ein Kopfbahnhof, und auf Verdacht verließ ich den Kopf auf der linken Seite, wo ich erfreulicher Weise direkt auf die Kaiserstraße zulief. Ich fragte jemanden an der Fußgängerampel, und der hatte den einfachen Job: „Genau geradeaus!“ zu sagen, und da war auch schon die gesuchte Haus-Nummer 74, ein altes, hohes Stadthaus, und „Lissania“ entpuppte sich als Sprachschule. Was man da wohl für eine Sprache lernen kann?

Der Flur wirkte ärmlich, und auf der 2. Etage sah ich einen Mann im Schlafanzug und mit Pantoffeln in einer vernachlässigten Wohnung verschwinden. Ja, dachte ich, was soll ein Armer, der nirgendwo zum Feiern eingeladen ist, wenn um ihn herum die Vergnügungssüchtigen aussschwärmen, was soll der anders tun als ins Bett gehen und die Decke übern Kopf zu ziehen.

Eins höher, an der offenen Tür der Lissania, wollte ein kurzgeschorener Türsteher meine Einladung sehen. Innen großes Herumgerenne bei gedämpftem Licht. Ich rein.
(Fortsetzung)