Rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf! – Vor 100 Jahren starb Ludwig Sütterlin


Gestern vor 100 Jahren, am 20. November 1917, verstarb in Berlin im Alter von 52 Jahren der deutsche Grafiker Ludwig Sütterlin. Er ist vermutlich verhungert, bedingt durch die „Hungerblockade“ genannte britische Seeblockade. Sütterlins Name ist im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zum Synonym geworden für die handschriftliche Variante der Frakturschrift, die Kurrent. Das preußische Schulministerium hatte Sütterlin im Jahr 1911 beauftragt, eine neue Schulausgangsschrift zu entwickeln, die nicht mehr mit der stählernen Spitzfeder geschrieben werden sollte, sondern mit der leichter zu handhabenden Kugelfeder (Gleichzugfeder), wie wir sie heute noch von den Schulfüllern kennen. Die von Sütterlin 1914 vorgelegte Kurrentschrift wurde vom preußischen Kultusminister und einem Sachverständigenausschuss für schultauglich befunden und nach einer Erprobungsphase mit einem Erlass vom 13. Juni 1918 für ganz Preußen, ab 1935 leicht abgewandelt in ganz Deutschland als verbindlich erklärt. In Österreich wurde weiterhin die Kurrent gelehrt. Über seine neue Schulschrift sagt Ludwig Sütterlin:

„Unsere neuen Buchstaben wollen weiter nichts sein als schlichte Vorbilder für den Anfangsunterricht, die an die kindliche Auffassungs- und Darstellungsfähigkeit nur geringe Anforderungen stellen. Sie wollen die Grundlage sein, auf der im Verlaufe der Unterrichtsjahre die weitere Entwicklung zu flüssigen, schönen und deutlichen Handschriften sich vollziehen kann.“

Was ist neu an der Sütterlinschrift? Anders als die bis dahin geschriebene Kurrentschrift haben die stark gerundeten Buchstaben keine Schräglage, sondern stehen aufrecht. Ober- Unterlänge und Mittelband stehen im Maßverhältnis 1:1:1. Die Sütterlin ist aber noch eine Duktusschrift, das heißt, ihre erlernten Formen sollen möglichst genau nachvollzogen werden, bis in die erwachsene Handschrift hinein. Sütterlin folgt mit seiner Schulschrift also nicht dem neuen Konzept der Ausgangschrift, das der österreichische Typograf, Schriftgestalter, Grafiker und Hochschullehrer Rudolf von Larisch entwickelt hatte. Solange nämlich die Handschrift das Speicher- und Kommunikationsmedium der Verwaltungen gewesen war, hatte man Schreiber gebraucht, die den überindividuellen Duktus schrieben. Mit dem Vordringen der Schreibmaschine nach der Jahrhundertwende wird die Schreibhand von dieser Pflicht entbunden, die Handschrift wird Privatsache. Das neue Konzept der „Ausgangsschrift“, angeregt durch Rudolf von Larisch und theoretisch begleitet von dem Pionier der Graphologie Ludwig Klages, erlaubte dem Schreiber eine expressive, persönliche Ausformung der erlernten Grundform.

Dass Sütterlins Kurrentschrift wie auch seine weniger bekannte Lateinschrift noch  Duktusschriften waren, brachte unter anderem ihr Verbot durch die Nationalsozialisten am 3. Januar 1941. In einem Rundschreiben von Martin Bormann werden die Fraktur und ihre Handschriftvarianten Kurrent und Sütterlin als „Schwabacher Judenlettern“ bezeichnet und die Lateinschrift zur verbindlichen Normalschrift erklärt. Die ab dann in Schulen gelehrte Deutsche Normalschrift ist eine Ausgangsschrift, die von Schülerinnen und Schülern individuell zur Persönlichkeitsschrift abgewandelt werden darf. Von der Persönlichkeitsschrift erhofften sich die Nationalsozialisten Auskunft über den Menschen. Mit Hilfe der Graphologie versuchte man nicht nur charakterliche, sondern auch rassische Merkmale aus der Handschrift zu gewinnen.

Das Verbot der Fraktur tilgte die Sütterlin aus dem öffentlichen Schreibgebrauch, so dass ihre Kenntnis rasch versunken ist. Im Jahr 1957 schrieb der Kunsthistoriker und Kalligraph Werner Doede: „Schon haben […] viele Jahrgänge die Schulen hinter sich gelassen, sie vermögen die gebrochenen, handgeschriebenen oder gedruckten Schriften mit ihren rätselhaften Gebilden der Großbuchstaben kaum noch zu lesen […]. Der Gedanke, dass künftig das geistige Erbe einer vielhundertjährigen Überlieferung in den Schränken der Bibliotheken und Archive zum Verstummen verurteilt sein könnte, ist bedrückend.“

Handschriftprobe in Kurrent

Handschriftprobe in Sütterlin

Entsprechend schwer zu lesen sind die hier gezeigten Abschriften dreier Strophen einer Ballade, obwohl die Buchstaben sauber ausgeführt sind. Es heißt dort:

Schwedische Heide, Novembertag,
Der Nebel grau am Boden lag,
Hin über das Steinfeld von Dalarn
Holpert, stolpert ein Räderkarrn.

Ein Räderkarrn, beladen mit Korn;
Lorns Atterdag zieht an der Deichsel vorn,
Niels Rudbeck schiebt. Sie zwingen’s nicht,
Das Gestrüpp wird dichter, Niels aber spricht:

»Busch-Ginster wächst hier über den Steg,
Wir gehn in die Irr‘, wir missen den Weg,
Wir haben links und rechts vertauscht, –
hörst du, wie der Dal-Elf rauscht?«

Auszug aus der Ballade
„Der 6. November 1632 –
Schwedische Sage“
von Theodor Fontane

Im fächerübergreifenden Unterricht des Wahlpflichtbereichs Deutsch-Kunst-Medien habe ich die Sütterlin noch gelehrt. Die Schülerinnen und Schüler waren mit Eifer bei der Sache. Für sie war die Sütterlin zu beherrschen wie eine Geheimschrift zu können. Aus diesem Zusammenhang stammen die obigen Schriftproben. Die Großmütter zweier SchülerInnen haben sie mir geschrieben. Jetzt erschließt sich auch die Bedeutung des i-Gedichtes von Kurt Schwitters: „Rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf.“ (Abbildung links) (Alle Grafiken lassen sich durch Anklicken vergrößern.)

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24 Kommentare zu “Rauf, runter, rauf, Pünktchen drauf! – Vor 100 Jahren starb Ludwig Sütterlin

  1. Bravo! Den Text haue ich übermorgen meinen faulen Praktikanten um die Ohren, damit sie endlich ihre Schriftübungen zu ende bringen. „…Die Schülerinnen und Schüler waren mit Eifer bei der Sache.“ Ich kann mich erinnern, daß ich mit meinem Freund Dominik „Sütterlin“ lernte um in der Schule Zettel zu schreiben, die der Lehrer nicht lesen kann. Unsere Omas waren unsere Verbündeten in Sachen Aufmüpfigkeit und Anarchie, die brachten uns das bei.

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  2. Seit ich deinen Blog verfolge, ist mit Sütterlin ein Begriff. Und auch nach (wie lange ist es?) zwei Jahren, lese ich diese Aufzeichnungen sehr gerne. Viel zu selbstverständlich ist der Umgang mit der Schrift und viel zu wenig trainiert die Hände.
    Von der Analyse der Handschrift halte ich wenig. Vermutlich, weil ich Angst habe, welch unsteten Charakter man mir bei all meinen Schnörkeln unterstellt.

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    • Du hast Recht, liebe Mitzi, es sind erfreulicherweise mehr als zwei Jahre. Anfang Nov. 2015 hast du dich bereits am Teestübchen-Fotoprojekt „Die 50 Häuser des Leonardo Fibonacci“ beteiligt. In deinem Block kommt die Handschrift noch regelmäßig zu Ehren, einmal durch die Montage deiner Startbilder und durch deine Rubrik „Gefundene Sätze.“ In die vielen Schlaufen in deiner Handschrift bei den sogenannten „Deckstrichen“ wollen wir nichts hineindeuteln, denn ich finde derlei genauso übergriffig wie in fremder Leute Taschen zu schauen 😉

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      • Wir haben unser Zweijähriges also schon hinter uns. Das ist schön, lieber Jules. Ich hätte am Anfang nicht gedacht, dass neben dem Schreiben vor allem auch das Lesen auf anderen Blogs so deutlich im Vordergrund stehen wird. Lesen und sich austauschen.
        Neugierig wäre ich ja schon, was man da hindeuten würde. 😉

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  3. Auch wir mussten die Sütterlinbuchstaben noch in der Schule lernen, allerdings nicht im Deutsch- oder Schreibunterricht sondern in Geometrisches Zeichnen, wo diese gelegentlich zur Beschriftung verwendet wurden.

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    • Interessanter Hinweis, vielen Dank. Nachgefragt: Handelte es sich wirklich um Sütterlin? Nach meinen Informationen ist in Österreich nicht Sütterlin, sondern eine Kurrent gelehrt worden. Die Ansiedlung in Geometrisches Zeichnen ist plausibel, denn einige Buchstaben der Kurrent werden ja weiterhin als mathematische Symbole verwendet. Zudem: Wenn man den Schreibakt als expressive Tätigkeit ansieht, sind Duktusschriften wie Kurrent oder Sütterlin gezeichnet.

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      • Ja, da habe ich mich wohl geirrt – gewiss handelte es sich um Kurrentzeichen, die wir lernten. Hier* liest man übrigens: »Die Kurrent-Kleinbuchstaben wurden noch bis ins späte 20. Jahrhundert gerne in der Mathematik zur Bezeichnung von Vektoren verwendet.«
        (Kurrent-Handschriften kann ich darum noch heute, obzwar nicht flüssig lesen, doch mit Mühe entziffern.)

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        • Interessante Seite, die Sie da ausfindig gemacht haben. Soweit ich sehe, ist alles sachlich richtig erklärt, Ja, das flüssige Lesen von Kurrent ist mir durch mangelnde Übung auch abhanden gekommen. Ich konnte sie sogar flüssig schreiben, habe aber die meisten Formen wieder vergessen. Interessant ist ja das kleine e, das über den umzulautenden Vokal gesetzt, zu zwei Strichen und dann zu zwei Pünktchen verkam.

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    • Wir haben die Fraktur-Buchstaben noch im Mathematik-Unterricht gelernt; in der analytischen Geometrie. Die Vektoren wurden so geschrieben. Unser Mathelehrer hatte indes den Ehrgeiz, uns das gesamte Alphabet in Fraktur beizubringen. Das war nicht von Schaden. So wurde zumindest bei mir das Interesse für diese Schrift geweckt und ich lernte sie auch flüssig zu lesen. Inzwischen schreibe ich recht flüssig in Sütterlin.

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  4. Interessant! Den Unterschied von Kurrent und Sütterlin kannte ich bisher nicht.
    Meine Mutter, Jahrgang 1924, schrieb eine wilde Mischung aus Sütterlin und lateinischen Schrifzeichen. Wir Kinder hatten bald raus, uns Notizen zu den von ihr geschriebenen Einkaufszetteln zu machen, mit denen sie uns losschickte. In dem Krickelkrackel war das u am leichtesten auszumachen, wegen des Überstrichs, aber e, i, m, n und w waren in der Klaue meiner Mutter kaum auseinanderzuhalten. Auch der i-Punkt war keine Hilfe, der wurde auf die Schnelle nämlich irgendwo über dem Wort gesetzt und führte nur zu größerer Verwirrung.

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    • Jetzt wo du es sagst, erinnere ich mich, dass sich in der lateinischen Handschrift meiner Mutter ebenfalls Anklänge an Sütterlin fanden, weshalb ich sie nie gern gelesen habe. Ich habe solche „Hybridschriften“ schon öfter gesehen, dem Aspekt aber nie die gebührende Achtung geschenkt. Danke für den Hinweis.

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  5. Auch an unserer Schule gab es eine Verfechterin der Sütterlin-Schrift. Sie füllte ihre Vertretungsstunden mit Üben derselben, also wir übten. Unsere absolute Bewunderung hatte sie, dass sie blind „minimum“ schreiben konnte und die I-Punkte die richtige Stelle trafen.

    Die ältere Verwandtschaft schrieb komplett in Sütterlin, außer denjenigen, die ihre Schulzeit in Frankreich verbrachten.
    Wenn sie uns schrieben, war ich diejenige mit Herrschaftswissen (Damschaftswissen), die das vorlesen durfte.
    Unser Merkspruch lautete „auf-ab-auf, I-Tüddel drauf“. Und die Schulanfänger wurden noch einige Zeit „I-Dötzchen“ genannt.

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    • Danke für deinen hübschen Erfahrungsbericht, die Wortprägung „Damschaftswissen“ und den Verweis auf I-Dötzchen. Dass mit Dotz auch der I-Punkt gemeint ist, dass also der Diminutiv Dötzchen Erstklässler und I-Pünktchen bezeichnet, liegt so nah, und trotzdem bin ich nie darauf gekommen. Ich kannte den Merkspruch bislang nur in der Form, die Kurt Schwitters zum i-Gedicht gemacht hat, ein verbales Ready-made.

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  6. „Meine“ Auszubildenden im Notariat müssen immer noch lernen, Sütterlin zu lesen. Aus dem Bestandsverzeichnis eines alten Grundbuchs habe ich Kopien gezogen: Es handelt sich um den Inhalt eines Erbbaurechtsvertrags. Die Auszubildenden erhalten jeder eine andere der 10 Seiten und dürfen sie übertragen. Dann kommen alte Heirats-, Geburts- und Sterbeurkunden und handschriftliche Grundlagen für Grundbucheintragungen. Natürlich wird gestöhnt und mehr oder weniger hinter meinem Rücken gemault. Aber nach der Ausbildung in anderen Notariaten ist es durchaus ein großes Plus, der Einzige zu sein, der flüssig Sütterlin und alte Handschriften des 19. oder beginnenden 20. Jahrhunderts lesen kann.

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    • Das ist interessant und völlig plausibel! Vielen Dank für die Auskunft und die Beschreibung der Methode..Die meisten Urkunden dürften in Kurrent geschrieben sein, denn als die Sütterlin sich verbreitete, wurden ja schon Schreibmaschinen eingesetzt.

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