Beobachtung auf Höhe der Hasenpfote

Zuerst sei er nur überrascht gewesen von der Ähnlichkeit der Frau im Publikum der Kabarettsendung mit seiner verflossenen Geliebten. So ein Gesicht gäbe es vermutlich nicht zweimal. Ihr Gesicht sei „zierlich“, hatte der Optiker vor mehr als vier Jahren im Schwabinger Brillenstudio gesagt, als er ihr von einem zu mächtigen Brillengestell abriet. „Ein zierliches Gesicht“, das habe er damals gedacht, sei ein zutreffendes Attribut. Vier Jahre habe er sie nicht mehr gesehen. Jetzt habe da eine im Publikum gesessen, halb verdeckt hinter den auftretenden Kabarettisten mit eben so einem zierlichen Gesicht, aber mit langen blonden Haaren. Er habe sie als Brünette gekannt. Und kurz vor ihrer Trennung habe sie sich einen Bob schneiden lassen, ich wisse schon, die Haarspitzen bis zum Kinn. Ob ich wüsste, wie lang die Haare des Menschen im Jahr wachsen könnten? 15 Zentimeter? Das wären ja 60 Zentimeter in vier Jahren! Die Länge könnte hinkommen, und aus einer Brünetten könne mit Hilfe der Friseurhandwerkskunst leicht eine Blonde werden.

Bei Youtube habe er sich die Aufzeichnung mehrmals angeschaut. Warum, könne er auch nicht sagen. Das sei nämlich ziemlich nervig gewesen, den Moderator und seine Gäste mehrfach anzuhören. Den Moderator würde ich kennen, es sei der, der im Fernsehen immer so oft „ficken“ gesagt habe, so lange, bis es alltäglich geworden wäre und die Leute bei dessen Auftritten schon gewusst hätten, gleich sagt er wieder „ficken“, und das ist auch schon seine beste Pointe. Inzwischen habe der eine richtige Schweinsvisage, dass man ihn Kindern als abschreckendes Beispiel vorführen könnte. „Wie der hässliche Onkel da werdet ihr einmal aussehen, wenn ihr dauernd schmutzige Wörter sagt.“

Aber nicht nur die Schweinsvisage habe er genau ansehen müssen, denn die Kameraeinstellung sei so gewesen, dass die Blondine, die vielleicht mal seine geliebte Freundin gewesen war, immer in Hüfthöhe des Moderators aufgetaucht wäre, wenn der Kerl sich mal leicht nach links bewegt habe. Da habe ihn die Beule in dessen Hose irritiert, so eine, als hätte der sich eine Hasenpfote hineingesteckt wie damals Nurejew, dieser russische Ballett-Tänzer, bei dem die Damen reihenweise in Ohnmacht gefallen wären, aber der habe ja nur eine enge Strumpfhose getragen, so dass die Hasenpfote sich deutlich abzeichnen konnte. Und die Damen hätten Essig getrunken gehabt, um schön bleich auszusehen. Wären also wegen der Blutverdünnung so leicht in Ohnmacht gefallen, nicht wegen der Hasenpfote. Mick Jagger auch? Ohnmacht in Strumpfhose? Ach so, Hasenpfote hinterm Hosenlatz.

Jedenfalls habe er manchmal einen Blick auf die Schönheit im Publikum werfen können, immer an den Hüften der Kabarettisten vorbei, habe die Blondine klatschen, lachen, schmunzeln und am Weinglas nippen gesehen. Sie habe sich in den vier Jahren wohl stark verändert. Zu seiner Zeit habe sie sich überhaupt nicht geschminkt und auch keine fetten Ringe getragen. Jetzt wirke sie auf erschreckende Weise künstlich. Dann sei etwas geschehen, was ihm einen Stich gegeben habe. Neben ihr habe ein älterer Mann gesessen, so einer auf Hip gestylt, mit einem roten Schal im Jackett, einer, dem man das Geld angesehen habe. Die meiste Zeit habe sie den ignoriert, aber sich plötzlich einmal ihm zugeneigt, und vertrauliche Blicke seien hin und her gegangen.

Das wäre ihm plausibel vorgekommen. Sie hätte sich nach ihm natürlich wieder einen viel älteren Mann gesucht. Und bei ihm habe sie es damals genauso gehalten. In der Öffentlichkeit habe sie vertrauliche Gesten vermieden, um nicht blöd angeschaut zu werden. Er selbst habe damit kein Problem gehabt, sich in der Vorstellung gesonnt, die Leute würden denken: „Entweder ist er reich oder ein Genie.“ Und dass er nicht reich sei, daran habe jeder tippen können.

Dass ihm das Einvernehmen seiner Exfreundin mit diesem Mann einen Stich gegeben habe, wundere und wurme ihn. Er habe gedacht, die Sache sei für ihn erledigt. Schließlich habe man sich einvernehmlich getrennt. Jetzt tröste er sich, sie sei es vermutlich gar nicht gewesen. Er wolle sich die Aufzeichnung auch nicht nochmals ansehen, um Klarheit zu bekommen – einmal wegen der Hasenpfote, dann weil die schmalen Witze der auftretenden Kabarettisten beim nochmaligen Hören kaum zu ertragen wären. Davon werde man ja blind im Ohr. Soll sie es in Gottes Namen gewesen sein – oder auch nicht. Was gehe ihn das an?

21 Kommentare zu “Beobachtung auf Höhe der Hasenpfote

  1. Eine Sendung mit dem guten Ingo ist schon kaum zu ertragen, wie soll man dann die Wiederholungen aushalten? Aber man kennt das, also ich kenne das: Da ist eine Frau, die sieht aus wie…, also die sieht so aus, wie X aussehen könnte, wenn sie sich total verändert hätte. Oder, auch das ist mir schon passiert, die sieht so aus, wie X mal ausgesehen hat, kann aber nicht X sein, weil da ja nun Jahrzehnte dazwischen liegen und ich definitiv auch nicht mehr aussehe, wie ich damals, also in den Siebzigern, vielleicht mal ausgesehen habe. Und eigentlich ist es ja auch völlig egal. Aber neugierig, ja, neugierig wäre man schon.

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    • An dieser Neugier verdienen Seiten wie Stay Friends gewiss ordentlich. Jemanden im Netz wiederzufinden, der genauso gealtert ist wie man selbst, ist ernüchternd. Besser ist’s die schöne Erinnerung zu bewahren. Als ich mal eine Jugendfreundin aus Amsterdam nach über 40 Jahren wiedertraf, war ich mächtig enttäuscht und versuchte vergeblich, in ihr das Mädchen noch zu entdecken. Für sie wirds nicht anders gewesen sein.
      Zum Kabarett, was eigentlich noch in den Text gehört, aber es würde ihn zu sehr verlängern: Sissi Perlinger kam letztens mit einem uralten Witz daher: „Wissen Sie, warum Politiker nicht mit der Bahn fahren? Weil der Bahnhofsvorsteher immer „Zurücktreten!“ ruft. Damit im Fernsehen aufzutreten, ist schon frech.

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  2. Der Mensch ist (notwendigerweise) eitel. Zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehört daher fatalerweise das Vergleichen, und da wurmt schon mal die – selbst bei einvernehmlicher Trennung – Tatsache eines Nachfolgers. Sich in diesem Zusammenhang solche Fernsehsendungen anzuschauen, kommt für mich schon einer modernen Form von Selbstgeißelung nahe. Ich hielte es da eher mit der Figur eines (vermutlich) japanischen Dichters. In einer Erzählung schildert der Autor einen verheirateten Mann, der entdeckt, dass seine Frau ihn betrügt. Er liebt sie aber und will sich nicht trennen. An einem Nachmittag, an dem er seine Frau in den Armen des Liebhabers weiß, stellt er sich mitten in die gemeinsame Wohnung, schließt die Augen und konzentriert sich auf den Schmerz, um ihn, letztlich, als Ausdruck höchster Lebensintensität zu: genießen. Großartig!

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    • Es ist natürlich mit einem gewissen Lustgefühl verbunden, was du „Selbstgeißelung“ nennst. Der ungenannte Protagonist meines Textes zeigt eine Verhaltensweise, die ja erst durch die neuen Medien möglich geworden ist. Zu den zufälligen Beobachtungen wie im Text gesellen sich neue Verhaltensweisen, wie das Aufspüren von Personen im Netz. Früher gab es das Nachspionieren auch, aber nie zuvor war es so leicht möglich. Die Technik drängt es geradezu auf. Ich hörte mal im Zug die Wehklage eines jungen schwulen Mannes, dass sein Partner ihm bei Facebook über die Abendstunden nicht geantwortet habe, obwohl der die ganze Zeit online gewesen wäre, was er habe sehen können. Jetzt quäle er sich mit der Frage, mit wem sein offenbar untreuer Freund den ganzen Abend gechattet habe. Ähnliches hatte ich auch schon in Ansätzen erlebt in meiner Fernbeziehung. Die Konsequenz war, dass ich mich bei Facebook abgemeldet habe, weil ich derlei Erfahrungen nicht wollte. Sie rauben einem die Seelenruhe.
      Und ein ständiges Wissen um, was ja mehr Ahnung ist, denn die Gründe können auch ganz anders gelagert sein, das hat wenig Großartiges, sondern untergräbt Vertrauen..

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      • Da stimme ich dir völlig zu. Das permanente Nachspionieren, in welcher Form auch immer, mag einen genussvollen Anteil haben, ist aber letztlich eine Sackgasse. Da hilft nur, und deshalb das Beispiel des japanischen Dichters, – neben Vertrauen, wie du richtig schreibst – die Konzentration auf das eigene Leben, auch im Aushalten unwägbarer, vielleicht mit Zweifeln behafteter Situationen. Sobald ich anfange, einem Menschen, seinen Umständen etc. hinterherzurennen, habe ich schon verloren.

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  3. Du beschreibst ein Phänomen, das einem bekannt vorkommt, sehr dicht und so, dass man sich wiedererkennt. Inklusive dem Selbstbetrug, dass es einem ja egal ist und all den anderen Gedanken und Emotionen, die einem da durch den Kopf schießen.
    Ingo Appelt ist in diesem Fall gut. Denn eine Aufzeichnung seiner Show schaut man sich sicher nicht noch einmal an.

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    • Appelt tut mir fast ein bisschen Leid, dass er im Text und in den Kommentaren so schlecht wegkommt. Aber er ist ja gut im Geschäft, moderiert beim BR „Kabarett aus Franken“ und sagt das F-Wort offenbar nicht mehr. Der BR würde es vermutlich überpiepen 😉 Ich habe den Text bewusst nicht personalisiert, weil ich dachte, was du jetzt ausgedrückt hast, liebe Mitzi. Es kann jeden treffen. Wer im Publikum von Sendungen sitzt, die man sich in der Mediathek und bei Youtube beliebig oft anschauen kann, wer da sitzt, ist immer der oder die Ex von jemandem. Dann können die geschilderten Gefühle aufkommen.

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      • Er muss dir nicht leid tun, lieber Jules. Wie du schreibst, der Mann hat seine Fans. Es ist nicht verwunderlich, dass man sie bei deinen Lesern nicht findet. Ist euer Humor doch sehr unterschiedlich ;).
        Dein Beitrag hat mich an die Zeit vor Mediatheken und YouTube erinnert. Mein allererster Freund, der eigentlich noch gar kein Freund war, wollte unbedingt Schauspieler werden. Jahre später habe ich ihn in der Werbung für die Hamburg Mannheimer gesehen. Er sagte „Hallo Herr Kaiser“. Ich glaube ich habe noch nie so dicht vor dem Fernseher geklebt wie immer dann, wenn dieser Spot kam.

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  4. Kann es sein, daß das ein allgemeines Phänomen ist? Mir ist es nämlich mal ganz ähnlich ergangen: Nachdem mich eine Freundin wegen eines anderen verlassen hatte, was mich sehr und vor allem lange erschütterte (mich! – wegen eines anderen!!), erschrak ich zutiefst, als ich sie im TV als Gast in der Sendung „Mitternachtsspitzen“ entdeckte, was gar nicht so unwahrscheinlich war, wird die Sendung doch im Kölner „Alter Wartesaal“ aufgezeichnet. Aber vielleicht war das gar nicht meine Exfreundin, vielleicht sah die Person nur so ähnlich aus, und zu dem Zeitpunkt gab es noch kein Internet, ich konnte es also glücklicherweise nicht endlos überprüfen. Weshalb ich so erschrocken war, kann ich mir selbst nicht erklären.

    Davon mal ganz abgesehen: Ein großartiger Text.:-)

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    • Dankeschön, auch für dein eigenes Beispiel. Wie ich schon bei Mitzi schrieb, glaube ich, dass es jeden treffen kann. Wer im Publikum von Sendungen sitzt, (die man sich inzwischen in der Mediathek und bei Youtube beliebig oft anschauen kann), wer da sitzt, ist immer der oder die Ex von jemandem. Das Erschrecken ist vermutlich die normale Reaktion. Man hat den Ex-Partner aus den Vorstellungen verbannt, und plötzlich sieht man, wie sein Leben weitergeht, nur ausschnitthaft, aber das setzt Vorstellungen in Gang. Alles ist natürlich rein hypothetisch. Denn nichts Genaues weiß man nicht. 😉

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  5. Pingback: Mit dem Teufel auf Du und Du | Schreibmans Kultbuch

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