Kleine Lektion in Fremdschämen

Auf dem Dorf meiner Kindheit kannte ich den Sohn eines Gärtners, zwei Jahre älter als ich, Feltens Karl-Richard. Nach Abschluss der Volksschule besuchte Karl-Richard das Internat einer Landwirtschaftsschule irgendwo weit weg in Deutschland. Einmal zu Besuch im Dorf erklärte er uns erstaunten Kindern: „Mir spreche jo nit richtisch Deutsch, mir sare „isch.“ Ävver et heeß nit „isch“, et heeß: „Üs.“ Seine rheinische Zunge weigerte sich, hochdeutsch „ich“ zu sprechen. Auch neue Versuche brachten nur „üs, üs.“ Es war sehr ulkig, wie er darin scheiterte, seine sprachlichen Wurzeln zu verleugnen.

Es hat mich nie geschämt zu sagen: „Ich komme vom Dorf.“ Und einiges von meiner bodenständigen Herkunft kann ich nicht leugnen. Beispielsweise bin ich unfähig, einen „Latte macchiato“ zu bestellen. Für mich heißt es immer „Milchkaffee“, wobei mir klar ist, dass zwischen den beiden Getränken ein kleiner Unterschied besteht. Ich könnte die Laute des Italienischen durchaus hervorbringen, aber sie mögen im Ernstfall nicht über meine Lippen kommen, nur um den kleinen Unterschied herauszufinden. Bis vor kurzem konnte ich auch nicht „Laptop“ sagen. Für mich ist das Ding ein Klapprechner, bis mich mal mein Sohn deswegen ausgelacht und einen Sprachpuristen geschimpft hat. Aber es besteht ein Unterschied zwischen beiden Fällen. „Latte macchiato“ steht für die Lebenshaltung hedonistischer Kreise, die mir Fremdschämen bereitet, Laptop ist einfach nur ein unnötiges Fremdwort.

Heute morgen war ich in der hannoverschen Filiale der Bundesbank, um Euromünzen einzutauschen. Das Münzgeld zu sammeln, habe ich mir bei einer Exfreundin abgeschaut. Man hat immer eine leichte Geldbörse und muss an der Kasse nie nach Kleingeld kramen. Ich sammle die Münzen in einer Kaffeedose, und die bordete schon eine Weile über. Die Bundesbankfiliale liegt im Bankenviertel an der oberen Georgstraße, wo auch die richtig teuren Läden und Lokale sind. Man saß bei der linden Herbstluft draußen. Ich sah, wie einem gutsituierten Paar zwei Prosecco serviert wurden. Morgens schon Prosecco saufen? Selbst wenn ich den nicht bestellen müsste, sondern die Frau das mit spitzem Maul übernehmen würde, wollte ich nicht, Prosecco nicht und die Frau erst recht nicht. Es ist obszön und zählt für mich zur Prollkultur genau wie SUV-Fahren im Stadtverkehr oder das „Manni“-Schild hinter der Windschutzscheibe eines Lastkraftwagens. Das hätten die Herrschaften von der Georgstraße jetzt nicht gedacht, mitsamt SUV und Fernfahrer Manni in einem Pott zu landen. Es ist natürlich ungerecht – dem hart arbeitenden Manni gegenüber.

Hart arbeiten musste auch ein Brautpaar in der Gasse des alten Rathauses, wo das Standesamt ist. Ein Hochzeitsfotograf ließ sie springen. Hochspringende Brautpaare, ein beliebtes Motiv bei Hochzeitsfotografen, und weil ich die heutigen zu flüchtig gesehen habe, hier meine erste Begegnung mit Luftsprungchoreographie. Es war im Jahr 2010 auf dem Aachener Lousberg, wo ich mich aufhielt, um im Kerstenschen Pavillon zu lesen. Dort gibt es auf halber Höhe ein Plateau, auf dem einst das Gesellschaftshaus Belvedere gestanden hat. Es wurde im zweiten Weltkrieg zerstört, aber da stehen und liegen noch ein Dutzend klassizistische Säulen auf dem Rasen. Ein Brautpaar nutzte die Kulisse und ließ sich von einem Fotografen und einer Fotografin ablichten. Der Fotograf war ein Großmeister der Hochzeitsfotografie. Er lag mit der Kamera im Anschlag auf dem Bauch und ließ das Hochzeitspaar springen. So hoch sie konnten, sollten sie springen. Was die beiden boten, reichte ihm nicht. Sie sollten springen und dabei ulkig die Beine verrenken. Sie sprang aus dem Stand viel höher als er. Der Fotograf ermahnte den dicklichen Bräutigam, er müsse sich mehr ins Zeug legen. Wie sieht denn das aus, wenn er wie ein Sack kaum über der Grasnarbe hängt, derweil ihm das weiße Brautkleid um den Kopf flattert, weil die Braut oben aus dem Bild gehoppst ist. Ach, wie mussten die beiden springen, bis der Fotograf zufrieden war. Die Fotografin hockte derweil an der Seite und schoss Fotos aus einer anderen Perspektive.

Ich fand das zu wenig. Ein Heer von Fotografen müsste sich drängeln, sich gegenseitig anrempeln, und die Fotografen in der hinteren Reihe müssten die Kameras über die Köpfe der anderen halten oder besser noch, ihrerseits hochspringen. Sie müssten dem Brautpaar Kommandos zurufen, um sich gegenseitig zu übertönen sogar schreien. Da müssten Scheinwerfer und reflektierende Schirme von Praktikantinnen gehalten werden. In der Hochzeitsfotografie ist also noch reichlich Luft nach oben.

Uncool: Heiraten ohne Hochsprung – Foto: JvdL

Die Hochsprünge der Brautpaare stehen metaphorisch für eine Gesellschaft, in der man die Bodenhaftung nicht schätzt. Doch sie allein erlaubt Haltung. Haltung bringt Werturteile mit sich. Die sind manchmal ungerecht, aber was ist schon gerecht in dieser haltlosen Welt?

21 Kommentare zu “Kleine Lektion in Fremdschämen

  1. Ein paar schöne Beispiele des Fremdschämens. Ein springendes Brautpaar…ich bräuchte das nicht. Es erscheint mir albern. Ein strahlendes und glückliches Lächeln gefällt mir besser.
    Auch der Prosecco am Morgen erscheint mir unpassend. Den Latte Macchiato bestelle ich. Ich „darf“, ich bestelle einen Schluck alte Heimat. Schlimm finde ich dagegen wenn man arme Kellner in einem italienischen Restaurant mit VHS Italienisch quält. Ich freu mich dann immer, wenn einer der vermeintlichen Italiener sich als zum Beispiel Ungar entpuppt.
    Das Dorf ist nichts zum schämen. Genauso wie zum Beispiel Handwerker. Die Väter meiner Schulfreunde waren fast alle Akademiker. Meiner Schlosser. Der meine war toller 😉.

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    • Ja, liebe Mitzi, du gehörst nicht zur Toscana-Fraktion, die sich in Deutschland mit italienischen Brocken schmückt. Da stimmen wir überein, wie auch in der proletarischen Herkunft. Mein leider früh verstorbener Vater war Kunstschlosser und mein Großvater war Schmied. Uns kann niemand nachsagen, es wäre uns alles in den Schoß gelegt worden.

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      • Ich erinnere mich, lieber Jules, dass wir bereits einmal feststellten, dass unsere Väter ähnliche Berufe haben. Wobei das der deine sicher anders sehen würde ;). Etwas Bodenhaftung hat uns die Herkunft sicher mitgegeben. Ich vermute, dass ich es leichter hatte. In meiner Jugend urteilte man wenig bis gar nicht über die Berufe der Eltern. Liebe Grüße

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  2. …wer weiß, vielleicht hatten die morgendlichen Proseccotrinker beim Springen der Hochtszeitsleute zugeschaut und brauchten nun in ihren eigenen Körpern einen Ausgleich…vielleicht aber hatten sie auch gerade im Lotto gewonnen und meinten, das müssten sie nun so feiern, wie sie es im Film gesehen hatten…

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  3. Oh, oh, hier wurde aber recht flott in Schubladen sortiert..
    Vielleicht ist das „gutsituierte“ Paar ein „ganz normales“ Paar aus der Mittelschicht, das etwas ganz, ganz Besonderes zu feiern hat und sich gesagt hat: „Heute ziehen uns mal mal richtig fein an und trinken in der Stadt einen Sekt!“
    Und der SUV-Fahrer ist vielleicht ein Ranger in einem Nationalpark.
    Und die springenden Hochzeitspaare sind einfach nur etwas verrückt vor Glück?

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  4. Fremdschämen ist, meiner Meinung nach, eine typisch deutsche Eigenschaft, die ich glücklicherweise nicht besitze, obwohl ich mich, für die eine oder andere meiner Dummheiten schon mal schäme. Aber eben nur für eigene, hausgemachte Peinlichkeiten … niemals für die der anderen …

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    • Hast du noch niemals dich abgewandt oder etwa weggezappt, wenn du etwas gesehen oder gehört hast, was dich peinlich berührte? Glücklicher. Das war ein Grund, warum ich nicht mehr für die Titanic „Briefe an die Leser“ schreiben mochte. Ich sah etwas Peinliches, habe weggezappt und dachte dann, dass ich darüber etwas schreiben könnte. Dann musste ich zurückzappen und mir das Ganze in aller Ruhe ansehen, mehr noch, in der Mediathek aufsuchen.

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  5. Fremdschämen habe ich vor ein paar Jahren abgeschafft – dachte ich jedenfalls, bis ich mal aus Versehen in eine deutsche Samstagabendshow geschaltet habe. „Wenn das jetzt noch jemand sieht, möglicherweise gar aus dem Ausland …“, dachte ich, mich windend, dann habe ich schnell weitergeschaltet und daran erinnert: Mir doch egal, was die da machen, fremdschämen ist abgeschafft. Leichter gesagt als getan. Aber ein laut geschmettertes „Latte macchiato con schiuma densa, aber pronto!“ geht mir leicht von den Lippen … okay, das ist glatt gelogen, aber eine normale Bestellung klappt inzwischen ganz gut.

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    • Oja, in Samstagabenshows, in Talk- und in den sich überall breitmachenden unsäglichen Quizshows, wo inzwischen der größte Schwachsinn gefragt wird (Wer weiß dann sowas?) können sich auch Personen, die einem früher ganz sympathisch waren, restlos um ihre Reputation plappern. Eine Weile hatte ich fensehabstinent gelebt. Als ich dann in einem Kurzurlaub erstmals wieder guckte, dachte ich, die Welt ist in den Abtritt gefallen. Du erinnerst dich vielleicht, du hattest kommentiert:
      http://trithemius.twoday.net/stories/ich-will-noch-ein-bisschen-tanzen/

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      • Ach – den Text hatte ich vergessen. Um so besser für mich, so habe ich doppeltes Vergnügen mit ihm. Ist schon ein paar Jahre her, oder? Die Verhältnisse haben sich bis jetzt nicht verbessert, aber das war ja auch nicht zu erwarten.

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        • Nervig, das Twoday die Jahreszahlen nicht anzeigt. Es war November 2010. Ich staune immer wieder, wie lange wir beide uns schon im Internet begegnen. 2010 habe ich noch deutlich harscher geurteilt. Manche werden wohl finden, abgewogene Urteile sind besser.

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  6. Die Hochzeit-Fotos finde ich etwas traurig – einerseits. Nicht weil sie springen, sondern weil sie springen mussten. Von selbst durch die Gegend hüpfen, so dass der Fotograf spontan auf den Auslöser drückt, hätte ich für besser gefunden. Andererseits ist dieser Tag eh verrückt, warum sollte man nicht auch springen und sich blamieren dürfen? Vielleicht muss man sogar. Damit man alles, was danach kommt, mit der notwendigen Gelassenheit nimmt. Die allererste Übung in Sich-ab-nun-gemeinsam-blamieren!

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    • Hochzeitsfotografie ist immer eine gestellte Angelegenheit gewesen. Es ist auch legitim einen glücklichen Augenblick festhalten zu wollen, vor allem wenn man weiß, dass Ehen oft kein Bund fürs Leben sind. Die Fotografen müssen was Besonderes machen, weil die Konkurrenz groß ist und prinzipiell jeder knipsen kann. Dann zwingen sie das Brautpaar eben zu der „Übung in Sich-ab-nun-gemeinsam-blamieren!“

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