Zerschellte Gläser, ein Sack Reis und Spurweite H0

Wir trafen uns letzte Woche Mittwoch zu einer fröhlichen Kneipenrunde im Glückskind, das neuerdings gar nicht mehr so heißt. Ich habe den Namen gelesen, weigere mich aber, ihn zu nennen, denn dass sich immer alles ändern muss, geht mir auf die Nerven. Glücklicher Weise ist wenigstens die Inneneinrichtung geblieben, sonst hätte ich gar nicht gewusst, dass ich in der richtigen Kneipe war. Herr Leisetöne kam auch bald. Er hatte einen Tisch reserviert. Der Kellner schob für uns vier zwei kleine Tische zusammen, wobei hier nur zufällig vier und zwei (42) hintereinander  stehen.

Leisetöne und ich saßen nebeneinander auf einer Bank. Er wollte wohl den Raum überblicken, und ich wählte die Bank, weil ich Rücken habe. Jedenfalls streckte ich nach dem ersten Bier mal meine Beine aus, wirklich nur ein bisschen. Trotzdem ruckelte der kleine Tisch vor mir weg, mein leeres Bierglas fiel um und zerschellte. Wie in einer Art Kettenreaktion fielen links und rechts von mir weitere Gläser um. Die anderen Gäste erschraken fürchterlich. Kurz darauf kam Filipe, der Musiker in unserem Kreis mit einem Doktortitel in Quantenphysik, und Herr Putzig traf auch ein. Filipe mag nicht gern auf die Physik angesprochen werden, vermutlich aus Höflichkeit, damit sich ihm unser und besonders mein universales Unwissen nicht offenbart, das physikalische Prozesse des Mikro- wie auch Makrokosmos betrifft.

Aber es gilt für mich das Gleiche wie für den Mann, der sich als Wissenschaftler der Technischen Hochschule vorstellte, als er einst im Aachener Alten Kurhaus die Werbeveranstaltung zur Transzendentalen Meditation (TM) gemacht hat. (Man weiß schon, dass ist die Lehre des Maharishi Yogi, bei dem die Beatles meditiert haben.) Der „Wissenschaftler“ projizierte Folien mit Schautafeln an die Wand, die in Torten- und Balkendiagrammen die Erweiterung der Gehirnkapazität durch TM belegen sollten, bis hinter mir jemand sauber anmerkte: „Sie erzählen uns hier was von Bewusstseinserweiterung und Verbesserung der Gehirnkapazität durch Transzendentale Meditation, aber müssen alles vom Blatt ablesen und können das nicht mal fehlerfrei.“ Da sagte der Mann: „Dann hätten Sie mich mal früher erleben sollen“, und jeder ahnte, dass er wohl früher ein Kaspar Hauser gewesen ist und erst mittels TM den aufrechten Gang und die menschliche Sprache gelernt hat, woraus folgt, dass TM primär für Leute mit Kaspar-Hauser-Syndrom gedacht ist.

Jetzt zu mir. Unser Lehrer Eugen Schmitz, seinerzeit gestrenger Hauptlehrer der Zwergschule, die ich besucht habe, hat uns nicht mal etwas Simples wie Wurzelziehen beigebracht mit dem Argument: „Keiner, keiner von euch Dummbratzen, die ihr da seid, wird in seinem Leben je Wurzelziehen müssen, also machen wir das nicht. Ihr würdet es doch nicht begreifen.“ Folglich habe ich mich lange Zeit gefragt, was daran so schwer sein sollte und absolut rätselhaft war mir, wie Hauptlehrer Schmitz glauben konnte, ich Junge vom Land würde niemals mit noch in der Erde steckenden Radieschen, Möhren oder anderem Wurzelgemüse in Berührung kommen. Folglich musste ich mir das Wurzelziehen autodidaktisch aneignen. Also, man greift das oberirdisch wachsende Laub, umschließt es nah am Boden mit der Faust und zieht dran. Wenn sich die Möhre einmal ergeben hat, flutscht sie ohne Widerstand aus der Erde. Bei Radieschen geht es ähnlich. Auch haben wir bei Hauptlehrer Schmitz gelernt, wie es um Elektrizität bestellt ist. Er fragte: „Was ist Elektrizität?“, und der Dümmste in der Klasse riss sich einen Arm aus, so dass Schmitz wusste, der würde ihm die richtige Antwort liefern. Also: „Was ist Elektrizität? – Paul?“ „Das weiß man nicht.“ „Richtig. Gut aufgepasst, Paul.“

Ich habe also eine „Man-weiß-es-und-braucht-es-nicht-Schule“ besucht und kann inzwischen immerhin ganze Sätze schreiben, kann berichten in Gegenwart und Vorzeitigkeit und mich äußern zu Ereignissen, die noch älter sind als Vorzeitigkeit, und das ganz ohne TM.

Weil wir weiterhin fallende Gläser klirrend zerschellen hörten, lenkte ich die Rede schlau auf die jüngst im All gemessenen Gravitationswellen [Teestübchen berichtete.] Die Existenz der Gravitationswellen war bereits von Albert Einstein in seiner Relativitätstheorie vorhergesagt worden, aber erst 2015 hat man derlei Schwerkraftwellen gemessen. Wer wie ich weiß, dass man über Elektrizität nichts weiß und auch noch beidhändig Wurzelziehen kann, und zwar Möhren und Radieschen, dem ist die Relativitätstheorie so leicht verständlich wie ein fertig ausgefülltes Kreuzworträtsel. Daher sagte ich voraus: „Wenn bereits einmal Gravitationswellen gemessen worden sind, kann das kein singuläres Ereignis gewesen sein, sondern es muss weiterhin passieren, jederzeit wird die Welt davon erschüttert, auch jetzt eben in der Minute ist garantiert eine solche Stoßwelle durch den Raum gegangen, für Sekunden ist unsere Welt auf das Format einer Märklin-Eisenbahnlandschaft in H0 geschrumpft, um sich dann zu schütteln und wieder zur alten Größe aufzuplustern, weshalb in der Folge all die schönen Gläser im zu Recht ehemaligen Glückskind zerborsten sind. Das erklärt auch, warum in China so oft ein Sack Reis umfällt, so dass er schon sprichwörtlich werden konnte.“ Da htten die drei es plötzlich sehr eilig, nach Hause zu kommen, vermutlich um nachzusehen, ob die Möbel noch standen.

Gar nicht gefiel mir, dass mich der Kellner fragte, ob ich gegen Glasbruch versichert wäre oder den Schaden gleich mit meiner Zeche begleichen wolle. Ich sagte: „Hallo? Es geht hier um ein astronomisches Ereignis von Bedeutung, für dessen Beobachtung es garantiert den Physiknobelpreis gibt. Mein Ausrutscher mit dem Fuß ist keinesfalls der Auslöser der Gravitationswelle gewesen, sondern zweifellos die Folge. Vor fünf Fantastilliarden, das ist eine Fünf mit 80 Nullen, vor fünf Fantastilliarden Lichtjahren sind irgendwo weit hinter dem Pferdekopfnebel zwei Sterne oder schwarze Löcher kollidiert und haben just heute im Glückskind die Tische gerückt und mein Bierglas sowie weitere Gläser zerdeppert. Und in China fiel vermutlich schon wieder ein Sack Reis um. Konsultiere deine Nachrichten-App!“ Pro forma taten meine drei „Freunde“ noch solidarisch, doch vor der Tür haben sie sich rasch in eine Seitenstraße verdrückt und ließen mich mit meinen Gravitationswellenproblem allein. Immerhin schickte mir Filipe tags drauf den Nachweis weiterer Gravitationswellen. Auf meine Frage, ob denn jetzt der Nobelpreis an den Entdecker von alltäglichen Auswirkungen, also mich, gehen würde, da ich meine H0-Hypothese nachweislich schon im Juli 2007 veröffentlicht habe, hat er nicht mehr geantwortet. Den Preis haben inzwischen drei US-Physiker abgestaubt.

9 Kommentare zu “Zerschellte Gläser, ein Sack Reis und Spurweite H0

  1. Verspätet ist die Gravitationswelle hier im Rheinland angekommen und hat bei mir den Anstoß zum Lesen Deines vergnüglichen Textes ausgelöst, lieber Jules.
    Glasklar: der Preis hätte dir zugestanden.
    Liebe Grüße!
    Lo

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  2. Pingback: Einiges über unsere Buchstaben

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