Herr Ober! Der Kaffee hat Kork!

Zu Mittag bei Fräulein Schlicht sah ich durchs Fenster auf der anderen Straßenseite einige I-Dötzchen nach Hause hüpfen. Ein etwas größerer Junge ging vorbei, hielt den Kopf gesenkt und drehte seinen Pullover verstörend um seine Hände. Ich fragte mich, wann und warum Kinder aufhören zu hüpfen. Das Wann hat sicherlich etwas mit dem Wachstum zu tun. Erwachsene, wenn sie nicht Sportler oder Tänzer sind, hüpfen nicht mehr, weil sie zu schwer sind. Meine früher woanders aufgestellte Behauptung, mit zunehmendem Alter erhöhe sich die Schwerkraft, verdreht den Sachverhalt. Das Körpergewicht erhöht sich. Ich erinnere mich, wie sich bei einer Trainingsfahrt durch die Ardennen ein Radsportler uns anschloss und von sich sagte, 90 Kilogramm zu wiegen. Wir bewunderten, dass er dieses Gewicht in unserem Tempo den Berg hochwuchten konnte. Heute wiege ich 92 statt damals 72 Kilogramm, also jedes Jahr ein Kilo zugelegt, und käme nicht mal mehr auf die Idee zu hüpfen, weil mich die Erdenschwere gefangen hält.

Metaphorisch betrachtet, ist Erdenschwere die Sorgenlast des Menschen. Wann beginnt die kindliche Sorgenlast? Im April 2008 habe ich Am Hof, einem beliebten Platz der Aachener Altstadt, die hier zu sehenden Zettel vom Kopfsteinpflaster aufgesammelt. Kinder im Vorschulalter orientieren sich beim Zeichnen an der Grundlinie, und das ist der untere Papierrand. Doch da die Sonne so freundlich schien und für den nächsten Tag ein Spaziergang durch den frühlingshaften Wald geplant war, hatte das Kind die vertraute Grundlinie mit einem Bein verlassen und ließ sein Männlein fröhlich tanzen, die zeichnerische Entsprechung zum kindlichen Hüpfen.

Ich saß an diesem Apriltag vor dem Café Mohren und trank einen Milchkaffee. Derweil holten gutsituierte Mütter ihre Kinder vom anliegenden Kindergarten ab und zogen plaudernd an mir vorbei. Da war von Eis die Rede, das man beim Café Mohren zu kaufen gedenke und von derlei harmlosen Sachen.

Zwischendrin gab es auch eine erkennbar sorgenvolle Mutter. Das Kind an ihrer Hand trug einen Schulranzen und war offenbar in der Nachmittagsbetreuung des Kindergartens gewesen. Beide waren ein wenig übergewichtig. Zwischen Mutter und Kind wurde nicht gesprochen, und man zog eilig davon, ohne dem Eisverkauf des Cafés einen Blick zu gönnen. Die beiden sind mir nicht aus dem Kopf gegangen, weil sie in so krassem Gegensatz standen zu den gutgelaunten Müßiggängern an den besonnten Cafétischen und den anderen Mutter-Kind-Paaren.

Damals habe ich darüber nachgedacht, wieso man in Aachens Innenstadt eher selten solche Kontraste sieht. Ähnliches gilt für den gentrifizierten Stadtteil Hannovers, in dem ich jetzt lebe. Unsere Gesellschaft sortiert sich. Wo es schön ist, sind die Plätze gut besetzt von Menschen, denen die Gesellschaft Chancen bietet. Die Armen müssen sich bescheiden, und schon aus Schutz vor dem Gefühl der Erniedrigung bleiben sie meist in ihrem Umfeld. Diese schädliche und schändliche Sortierung unseres Gemeinwesens beginnt für ein Kind bereits vor dem Kindergarten. Arme Kinder lernen bald, dass sie wenig Grund haben, fröhlich zu hüpfen oder die Männlein auf ihrem Papier hüpfen zu lassen.

Derzeit betrifft es im reichen Deutschland 2,5 Millionen Kinder. Diese Zahl stammt aus einer Veröffentlichung des Deutschen Bundestages. Die Verursacher zeigen hier das Ergebnis ihrer neoliberalen Politik. Die verantwortlichen Parteien, CDU/CSU und SPD sollten sich was schämen.

16 Kommentare zu “Herr Ober! Der Kaffee hat Kork!

    • Ja, der Junge, der seinen Pullover um die Hände drehte, sah aus, als wüsste er schon gar nicht mehr wie Hüpfen geht.
      Hüpfende Erwachsene kann man sicher in Kursen sehen. Du kriegst das bestimmt noch hin. Ich bei meinen Rückenproblemen würde es nicht mehr wagen.

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      • Es geht noch, lieber Jules, das Hüpfen ;). Aber es ist nicht mehr das Hüpfen wie früher. Grundlos und einfach aus purer Freude. Mit Vierzig normal. Dem Jungen, der seinen Pullover um die Hände drehte, dem wünscht man, dass er schnell wieder Gelegenheit dazu bekommt.

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        • Einfach nur fröhlich bin ich schon lange nicht mehr gewesen. Aber gestern war ich das erste mal nach Monaten den ganzen Tag schmerzfrei. Da war ich gleich um Zentner leichter. Hab mich aber nicht getraut zu hüpfen 😉
          Was den Jungen betrifft, äußerst du einen frommen Wunsch. Von alleine wird sich an der Situation armer Kinder nichts ändern. Unsere Gesellschaft muss sich besinnen. Wir müssen wieder mehr aufeinander achten.

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    • Danke, meine Liebe. Allerdings habe ich im Beitrag die bis vor vier Jahren mitverantwortliche FDP nicht unterbringen können. Mit dem gleichen Programm, mit dem sie zu Recht aus dem Bundestag geflogen ist, will sie jetzt wieder hinein und unsere Qualitätsmedien helfen, sie hineinzuhieven. Dabei ist der in allen erdenklichen Posen auf Plakaten abgebildete Parteivorsitzende ein Kerl, in dessen Richtung ich mich nicht mal übergeben wollte.

      Und der SPD-Schwafelhannes aus Würselen sieht keinen Änderungsbedarf bei Hartz IV.

      „ganz gut“ hüpfen? Das wollt ich sehen. 😉

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  1. Bei unserer Berg- und Talwanderung hatte ich den Gedanken, daß es auch etwas Gutes hat, daß ich küzlich diese blöde Magenerkrankung hatte – ich mußte 7 Kilo weniger die Berge hinaufschleppen.;-)

    Das ist wirklich eine Schande: Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Erde. Ein CDU-Politiker behauptete vor ein paar Jahren zynisch, daß eine Erhöhung der Unterstützung für Arbeitslose nicht bei den Kindern ankomme, sondern nur den Alkohol- und Nikotinverbrauch der Eltern fördere (Philipp Mißfelder). Eigentlich bin ich nicht besonders aggressiv, aber hier hätte ich gern mal ein paar Backpfeifen verteilt. Und es kommt noch Weiteres auf uns zu, bzw. ist schon da und wächst weiter: Altersarmut, Pflegenotstand, Obdachlosigkeit angesichts ungebremst steigender Mieten. Alles Themen, die im nun bald zurückliegenden Wahlkampf kaum ein Politiker aufgegriffen hat, es sei denn, er wurde direkt darauf angesprochen – und hat dann mit den allseits bekannten Floskeln darauf geantwortet. Wer wundert sich da noch, daß die Leute die AfD wählen? Wäre ich dumm genug, ich würde es vermutlich auch tun.

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    • Manchmal, wenn ich nach dem Einkauf mehrere Literflaschen Getränke auf die erste Etage schleppe, wird mir klar, um wieviel ich früher leichter war. Daher verstehe ich gut, dass du deinen Magenproblemen etwas Gutes abgewinnen konntest.
      Der Zynismus à la Philipp Mißfelder macht deutlich, dass Armut gewollt ist. Wenn Merkel behauptet, „Deutschland geht es gut“, ist diese Ignoranz ein Schlag ins Gesicht vieler unserer Mitmenschen, denen es eben nicht gut geht. Wir haben uns ja leider daran gewöhnt, dass Arme im Zuge der neoliberalen Ideologie verächtlich gemacht werden. Folge: ringsum macht sich eine erschreckende Gleichgültigkeit breit. Himmelschreiendes Unrecht wird auf Erden nicht mehr gehört. Und da oben auch nicht.
      Die AfD ist ebenfalls eine neoliberale Partei. Wer sie aus Protest wählt, wird sich noch wundern, welche Menschenverachtung er da gefüttert hat.

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  2. Es geht uns gut – und wir hüpfen nicht, wir machen große Sprünge. Merkel gibt aber auch keine gute Vorhüpferin ab. Aber wir genießen unseren Wohlstand und wissen, dass wir den verdient haben – und dass die anderen sich mal mehr anstrengen sollen, damit sie wenigstens kleine Brötchen backen können. Nur fest dran glauben: Alles wird gut.

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