„Wo bist du?“ Einiges über Fernkommunikation

Auf der Ecke unten hat mal eine Telefonzelle gestanden. Die Telecom hat sie abgebaut, obwohl sie rege genutzt wurde. Ihre Nutzer waren Zwecktelefonierer, denn eine Telefonzelle suchte man nur auf, wenn es sein musste, zumal es wohl Leute gab, die Telefonzellen sogar ausdrücklich aufgesucht haben, wenn sie mal mussten. Telefonzellen werden bald vergessen und mit ihren angeketteten Telefonbüchern nur noch Exponate im Technikmuseum sein. Smartphonebesitzer werden staunen, dass es mal solche Häuschen gab, in die man sich schamhaft zurückzog, um ein Privatgespräch zu führen. Derzeit lagert die Telekom die ausrangierten Telefonzellen nahe Potsdam. Man kann sie kaufen und im eigenen Garten aufstellen.

Staunen wird man auch über eine Erscheinung jugendlicher Folklore, die mit der Telefonzelle verloren gegangen ist: Wir sehen den übermütigen Versuch, 18 Personen in eine Tefonzelle zu pressen, im Jahr 2007 auf dem Aachener Markt, hier von mir mehr schlecht als recht dokumentiert.

Kaum zu glauben, aber selbst gesehen: 18 Jugendliche in einer Telefonzelle, Aachen, August 2007 – Foto: JvdL

Zeitsprung in die Zeit der Smartphones: Einmal sah ich drei junge Männer nebeneinander gehen, und ein jeder hielt sein Mobilfunkgerät ans Ohr. Theoretisch sprachen sie also mit drei anderen Personen, die sich an unterschiedlichen Orten aufhielten. Es hätte aber auch sein können, dass die drei mit drei anderen redeten, die ebenfalls nebeneinander her gingen, und die drei könnten sogar sie selbst gewesen sein, in einer Konferenzschaltung miteinander verbunden. Ich habe das noch nicht ausprobiert, aber vermutlich ergäbe sich eine Dehnung der Gegenwart durch die Zerstörung der Synchronizität. A ruft B und C an und fragt, was als Telefonphrase erst mit dem Mobilfunk entstanden ist: „Wo bist du?!“ B antwortet: „Nieschlagstraße.“ C ergänzt: „Nieschlagstraße.“ A: „Ich auch.“ Und so weiter. Man kann sich so eine gehaltvolle Konferenzschaltung gar nicht ausdenken.

Kommunikationsmedien sind in erster Linie Gefühlsvermittler, und bedeutende Inhalte müssen ihnen abgerungen werden, sind aber trotzdem nur Mittel zum Zweck. Paul Watzlawick unterscheidet zwischen Inhalts- und Beziehungsaspekt der Kommunikation. Diese Begrifflichkeit ist ebenso sinnverstellend wie die Unterscheidung Zwecktelefonierer und Lusttelefonierer. Letztendlich geht es bei menschlichem Sprachhandeln immer um Gefühle, um Lusterzeugung oder Frustvermeidung. Inhalte sind nur Hemd und Hose, mit denen wir unsere bloßen Gefühle bedecken. Fernkommunikation suggeriert Nähe, kann aber den unmittelbaren Kontakt zwischen Menschen nicht ersetzen.

Denn in seinem Kopf ist der Mensch allein, der einzige Bewohner eines ständig wachsenden Universums. In diesem Universum kann er sich verlieren und irrewerden an der Einsamkeit. Es gibt nur ein Gegenmittel, den regelmäßigen Kontakt mit vertrauten Köpfen. Die soziale Gruppe holt den Einzelnen aus seinem Universum zurück auf den gemeinsamen Teppich der physikalischen Realität und erdet ihn durch das Gemeinschaftserlebnis, den Austausch von Gefühlen, Wahrnehmungen und Erfahrungen. Dies geschieht im menschlichen Maß. Es reicht von der sexuellen Verschmelzung, dem Hautkontakt über die Armeslänge bis hin zur Ruf- und Sichtweite. Berührung, Gestik, Mimik und Lautsprache sind die natürlichen Austauschmittel. Die entsprechenden Sozialverbände sind das Paar, die Familie, die Gruppe, der Stamm oder die Dorfgemeinschaft.

Jedes Mittel der Fernkommunikation schwächt den Kontakt zum direkten Sozialverband und führt zur Individualisierung. Wer nur noch von Universum zu Universum funkt, ist sogar ständig vom Gefühl der Einsamkeit bedroht, denn Fernkommunikation ist beschränkt auf die vom Menschen abgelösten Zeichensysteme. In einer Welt, die von der Fernkommunikation bestimmt ist, sind auch die Sozialverbünde geschwächt, weil sie sich die Aufmerksamkeit teilen müssen mit Menschen, die an anderen Orten sind.

Drei junge Männer, die telefonierend nebeneinander ausschreiten, bieten ein surreales, aber trauriges Bild. Ein jeder ist seine eigene Telefonzelle und riecht nach Notdurft.

22 Kommentare zu “„Wo bist du?“ Einiges über Fernkommunikation

  1. Es sind seltsame Bilder, wenn mehrere Menschen einer Gruppe angehören und sich trotzdem nicht miteinander sondern fernmündlich unterhalten. Freilich sind die Handys praktisch und ich möchte sie nicht mehr missen. Wenn sie aber die überwiegende Kommunikation mit meinen Mitmenschen darstellen, dann gefällt mir das nicht.
    Telefonzellen vermisse ich. Ohne zu wissen warum. Ich brauche sie nicht (mehr). Aber das sie verschwinden bedaure ich dennoch.

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    • Als ich noch Fernbeziehungen hatte, konnte ich mir ein Leben vor Handy und Smartphone nicht vorstellen. Mobilfunk hat den Alltag verändert. Früher haben wir uns anders verabreden müssen, es mussten eine feste Uhrzeit und ein klarer Ort verabredet werden, sonst verpasste man sich. Unser Kontakt im Blog wäre auch nicht möglich. Ich erinnere mich, dass du mir mal einen Kommentar geschickt hast, als du mit der U-Bahn unterwegs warst. Ja, Telefonzellen waren ein Element der Alltagskultur. Wenn man in einer Notlage war, und plötzlich blinkte in der Ferne die postgelbe Telefonzelle. Das war schon tröstlich.

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      • Die Verabredungen früher waren verbindlicher. Man konnte nicht mehr absagen oder einen Treffpunkt verändern, wenn der andere schon unterwegs war. Einerseits war das schön, andererseits sind die Vorteile heute nicht von der Hand zu weisen. Wie du schreibst, lieber Jules, ist es sehr schön die vielen Kilometer die einen Trennen spielend leicht überwinden zu können.

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  2. Irgendwann kam das Wort von den „Beziehungskisten“ auf. Das war in der hohen Zeit der Telefonzelle. Ob das einen Zusammenhang hat oder nicht, sei dahingestellt. Fakt ist nur, man brauchte höllisch viel von dem Dings.. ähh Dingens und zwar in bar und auch noch passend. Sonst bekam man keine Verbindung. Nichts.

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    • Interessanter Hinweis. „Beziehungskiste“ ist definiert als „komplizierte Liebesbeziehung.“ Bevor ich ein Handy besaß, war ich tatsächlich auf die Telefonzelle angewiesen, um eine komplizierte Liebesbeziehung aufrecht zu erhalten. Aber ich wäre nicht auf die Idee gekommen, die Telefonzelle so zu nennen. Als die Zellen noch gelb waren, kostete ein Ortsgespräch nur 20 Pfennige, niemals mehr. Freilich musste man immer Groschen haben.

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  3. Ps.: Für die Aufgabe, möglichst viele Köpfe, nebst Leibern und Gliedmaßen zur gleichen Zeit in einer Telefonzelle unterzubringen, wurde unser Jüngster einmal gebraucht und überredet. Er hat diese Aufgabe korrekt durchgeführt und das auch noch unbeschadet. (Die Studenten haben den Wettbewerb übrigens gewonnen.)

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  4. So ein Handy bietet auch kaum Schutz bei Regen. Ich habe das nicht ausprobiert, aber ich weiß, das eine Telefonzelle bei Starkregen einen guten Unterschlupf bot.
    Ja, du hast natürlich Recht damit, dass die Fernkommunikation den Kontakt zum sozialen Umfeld reduziert, aber sie bietet bei aller Reduktion der Ausdrucksformen doch auch einen inhaltlichen Gewinn. Fernschach funktioniert ja auch.

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  5. Pingback: Wider das Versinken der Alltagsdinge

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