Der Preis der Küsse

Gerade ward mir der letzte Kuss gegeben, so einer, von dem man sich sehnlichst wünscht, er werde niemals enden. Ich reiße mich los. Mitternacht ist schon vorüber und wer kann, ist um diese Zeit zu Hause. Und ich habe noch 12 Kilometer Radfahren vorm Bauch. Nicht die Entfernung, der Weg durch die Nacht lässt mich schaudern. Natürlich hat das verliebte Geplänkel meine Phantasie überhitzt. Denn es ist doch ein Weg im zivilisierten Rheinland. Was soll es da schon Gruseliges geben?

Foto: JvdL

Gibt es etwas Trostloseres als Laternen, die eine leere Dorfstraße bescheinen? Aber nein, auch diese Laternen spenden Trost. Könnte man ihn sonst vermissen, wenn man über den letzten Lichtkegel hinaus auf die unbeleuchtete Landstraße radelt? Aber auch die einsame Chaussee inmitten der Felder wünscht man sich zurück, wenn sich plötzlich schwarz und bedrohlich der Wald herandrängt und die Straße verschlingt. Und rolle ich hinein in diesen Kohlensack, dann nur mit einem Rest Zuversicht, denn ich weiß nach wenigen hundert Metern liegt mitten im Wald das große Kloster. Ich spähe hoffnungsfroh hinüber. Die Lichtung tut sich auf. Da ist der Torbau in der Klostermauer, und im Tunnel schaukelt ein flackernd Lämpchen, aber das mächtige Kloster liegt im fahlen Grau. Es wirkt völlig verlassen, als wären alle Mönche über Nacht vom Glauben abgefallen, hurtig entsprungen und hätten sich eilends in alle Winde zerstreut. Ich fasse nicht fünf Gramm neuen Mut, bevor ich wieder in den finsteren Wald eintauche. Hier ist nur noch der Lichtkegel meiner Fahrradleuchte. Er macht mir Sorgen. Wenn da Augen sind im Wald, dann ziehe ich sie auf mich. Welche Augen? Ich fasse nach vorn zum Dynamo und biege ihn zur Seite, bis er einrastet. So ist’s besser. Aber jetzt kann ich den Verlauf der Straße nur noch ahnen. Es ist eine alte Römerstraße, ein Abzweig von der nordsüdlichen Fernstraße zum Kastell am Rhein.

Ich bin zwar noch jung, aber weiß schon, was Horaz über Wege gesagt hat: „Auf dem Mittelweg gehst du am besten.“ Manche verstehen das metaphorisch, doch ich weiß, dass militärische Erfahrung dahinter steckt. Von der Mitte des Wegs hast du beide Seiten im Blick, denn die gepflasterten Römerstraßen sind in der Mitte höher als am Rand. Wenn unklar ist, von welcher Seite ein Angriff erfolgt, ist der Mittelweg die maximale Entfernung von potentieller Gefahr. Am Straßenrand zu gehen, empfiehlt sich nicht, denn man ist dem Gebüsch zu nahe und sieht die Gefahren zu spät. Ach, verflucht, im Finstern bin ich vom Mittelweg abgekommen und beinah in den Graben gefahren. Von weither höre ich ein Auto kommen. Jetzt ist’s besser, Licht zu haben. Sonst nietet es mich im Vorbeirauschen um, und hast du nicht gesehen, finde ich mich genau in diesem Graben wieder. Licht an, Licht wieder aus. O Mann, endet der Wald denn nie? Auf der Chaussee draußen werde ich wieder mehr sehen können, aber sonst wartet da wenig Erfreuliches, nämlich eine Einöde, ein trocken gelegtes Moor, mühsam zu durchqueren, weil es da nicht rollt. Die Chausseebäume hat Napoleon wohl pflanzen lassen, damit seine marschierenden Soldaten Schatten hatten. Aber dass an fast jedem Baum schon jemand sich totgefahren hat, den ich kannte, lässt mich schaudern. Und es wird nicht besser, denn die Chaussee geht über in einen stark ansteigenden Hohlweg, und just an seinem Beginn warten die verkommenen Gemäuer der alten Ziegelei.

Wie ich endlich den Waldrand erreicht habe, bellt irgendwo in der Ferne ein Hund. Linker Hand. Ich ahne wo, denn abseits der Straße liegen mitten im Feld die Gebäude einer Gärtnerei. Dort haust ein Bösewicht, ein Mann, den die amerikanischen Soldaten schon haben sein eigenes Grab schaufeln lassen für eine Scheinhinrichtung. So sehr hat er sich schuldig gemacht an den polnischen Zwangsarbeiterinnen. Einer, der Frauen gequält und gemordet hat, so einer hält sich keinen Pinscher, nicht so ein nervend kläffendes Etwas, das man gerne in die Küche eines chinesischen Restaurants scheuchen würde, auch wenn man sonst ein friedlicher Mensch ist. Nein, ein Mann wie dieser Gärtner hält sich garantiert einen großen Hund in einem Zwinger mit rostigen Gitterstäben, wo auch das friedlichste Tier den Hass und das Böse in sich entdeckt. Das zähnefletschende Biest hat sich längst heiser gebellt und heult nun so jämmerlich wie nur der Köter eines abgrundtief bösen Menschen heulen kann. Ein Gefühl der Verlorenheit schnürt mir die Brust ein. All die Kraft meiner Jugend droht mich zu verlassen. Ich werde immer langsamer.

Zum ersten Mal erlebe ich das Gefühl der Zeitdehnung, in dem ich mich mühe und mühe, doch nicht entkommen kann, nicht vorwärts komme. Wie ein Insekt im Netz der Spinne, dessen Bewegungen vor Erschöpfung immer langsamer werden. Diese kämpfende Kreatur hat keine Ahnung von einem Vorher, zappelt im Hier und Jetzt, als wäre die ganze Existenz nur ein endloses Zappeln und Sterben. Welche Kräfte lähmen mich? Sind es Gespinste der schauerlichen Geschehnisse in der Gärtnerei oder schwelt etwas im alten Moor, das hier ausdünstet und mir das Atmen erschwert? Dreimal haben die Germanen jene getötet, die sie im Moor versenkt haben. Man findet sie mit einem Loch im Schädel, einem Strick um den Hals und zerschlagenem Brustkorb. Dreimal getötete Leichen aus alter Zeit, und wie die Zwangsarbeiterinnen zu Tode kamen, daran will ich lieber nicht denken.

Da endlich tauchen die Ruinen der Ziegelei auf. Die Wohnhäuser mit ihren schwarzen Fensterhöhlen sind schon einmal Filmkulisse gewesen für Wolfgang Menges „Millionenspiel“, einer fiktiven Spielshow im Fernsehen, wo der Kandidat von drei gedungenen Mördern gejagt wird bis zum Showdown im Studio, wo er durch eine Todesspirale genannte Röhre kriechen muss und die Killer noch drei Freischüsse haben.

Der Mann hält sich in einer der aufgelassenen Wohnungen versteckt, die Killer haben ihn aufgespürt und dringen vor. Die Situation scheint aussichtslos, bis ein Zuschauer die Wohnung wiedererkennt und sich erinnert, wo ein Fenster ist, das er damals mit einer Spanplatte verschlossen hat. Informiert durch den Außenreporter, kann der Kandidat das Fenster aufbrechen und entkommen. Da die Ziegelei, zur Straße offene Schuppen.

Am Kopfende steht ein einsames Haus. Hier wohnt seltsames Volk, außerhalb der Zivilisation, folgt eigenen Gesetzen, setzt Kinder in die Welt, die niemals eine Schule besuchen. Wovon die wilden Menschen leben, ist unklar. Manchmal sieh man Männer an alten Autos herumschrauben, die überall auf dem weiträumigen Gelände herumstehen, zum Teil versunken in einem Meer von Brennnesseln. Ich hoffe, dass nun mitten in der Nacht niemand mehr umgeht, hoffe so sehr dass diese Leute schlafen, nicht als Torwächter auf mich lauern, der ich diese düstere Welt verlassen will. Ich tauche in den Hohlweg ein. Die Furcht treibt mich den Anstieg hinauf, bis die Muskeln übersäuern und mich die Kraft verlässt. Da, zwei, drei Tritte noch und ich biege erleichtert ins Dorf Anstel ein.

Dieser Beitrag wurde unter Kopfkino veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

9 Kommentare zu “Der Preis der Küsse

  1. Man sitzt dem Radfahrenden fast auf der Schulter, wenn man diese Zeilen liest. Kennt man die beschriebenen Gefühle doch nur zu gut. Das mit der Mitte des Weges bzw. der Ursprung waren mir neu, aber ganz automatisch geht man nachts immer in der Mitte und hält sich von den Büschen fern – selbst mitten in der Stadt. Gruselig bin ich ein Stück mitgefahren.
    Den bellenden Hund braucht es natürlich. Erst durch ihn, bekommt die Stille das nötige Gegengewicht um die Verlorenheit mitten in der Nacht deutlich zu machen.
    Neulich las ich, dass die schlimmsten, weil viel zu oft benutzten, Anfänge von Romanen den Protagonisten beim Aufwachen beschreiben. Ich fühlte mich ertappt 😉 Und weiter, dass die Hauptfigur häufig vor dem Spiegel steht, weil dem Autoren keine raffinierte Möglichkeit einfiel, seine Figur zu beschreiben. Ich habe dann aufgehört weiterzulesen. Die schrieben dort von mir.
    Liebe Grüße

    Gefällt 1 Person

    • Ja, hätte ich das damals gewusst, dass du mich begleitest, wäre der Weg durch die Nacht mir leichter gefallen. 😉

      Man darf sich durch apodiktische Urteile nicht stören lassen. Es ist überhaupt eher schädlich, sich mit derlei Bemerkungen zu belasten. Es ist wie beim Kochen. Die Zutaten sind allgemein zugänglich, aber das Ergebnis unterscheidet den Profikoch vom Amateur.
      Lieben Gruß

      Gefällt 1 Person

  2. Du konfrontierst uns mit unseren eigenen Ängsten, auch wenn wir den Weg nicht kennen, wir kennen die Situationen. Sehr gelungen, wie du die Nacht zur Schreckensnacht werden lässt, ohne das irgendein schreckliches Ereignis eintreten muss.

    Gefällt 1 Person

    • Marana, Marana, da war ich noch jung,
      Mit Wagemut und auch noch mehr Schwung,
      Drum hab ich auch in jener Nacht
      Das alles mir nur ausgedacht.

      Ich ahnte nicht wirklich der Küsse Preis
      Die mahnende Stimme war viel zu leis.
      Er hörte nicht, wie die Stimme sprach,
      Das dicke Ende, das kommt nach.

      Gefällt 1 Person

      • Das „dicke Ende“, das kommt schon hin,
        wortwörtlich oder übertragen im Sinn.
        Doch hältst du durch, geduldig ich bin,
        so kriegt die Sache dann wieder Spin,
        jetzt sind wir wacklig, ältlich und dünn,
        und hoffentlich dennoch nicht so bald hin.

        Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

        Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..