Geradeaus fahren und niemals mit schwarzen Socken

Springer war kein schöner Mann, und dass er nur ein Unterhemd trug, als er an diesem Sonntagmorgen oben aus dem Fenster schaute, machte ihn nicht schöner.
„Was wollen Sie?!“, rief er.
„Na, was wohl? Radfahren!“
„Die Straße ist noch nass.“
„Das trocknet. Eben kam sogar die Sonne durch.“
„Das hätten Sie fotografieren sollen. Sonst glaubt das keiner.“
Ich lachte.
„Also gut“, entschied er sich, „wenn Sie eine Viertelstunde warten, fahre ich mit.“
Angetan mit einem unförmigen braunen Frotteebademantel öffnete er mir. Wir redeten gedämpft, weil seine Frau noch schlief. Ich setzte mich still in einen Sessel, während er sich leise hantierend fertig machte.

Er war Elektroingenieur, berechnete in seinem Job den Strombedarf von Großanlagen. Eigentlich mochten wir uns nicht besonders. Wir waren einander zu unähnlich, blieben auch über die zwei Jahre unseres gemeinsamen Sports immer beim Sie. Den Kontakt hatten unsere Frauen hergestellt. Unsere jeweiligen Töchter waren Freundinnen im Kindergarten. Ich hatte nach einem Sport gesucht, der mir zusagte, nachdem ich vergeblich versucht hatte, am Laufen Gefallen zu finden. Springer hatte im flämischen Löwen gearbeitet und war dort Mitglied in einem Radsportverein gewesen. Er brachte mir das Radfahren bei. Ich lernte, dass alles vom runden Tritt abhängt, dass man so leicht wie möglich treten und nicht den schwersten Gang fahren soll, wie Anfänger es tun, dass der Oberkörper beim Treten nicht in Bewegung ist, sondern möglichst ruhig zu bleiben hat, dass man schon vor einem Anstieg schaltet und nicht erst mittendrin, wenn die Kette unter Last gespannt ist, und wie man bei anderen am Hinterrad fährt, um Kraft zu sparen, dass man nachfolgende Radsportler mit einem Handzeichen vor einem Schlagloch oder vor Glassplittern auf der Fahrbahn warnt, wie man bei Abfahrten den Rahmen zwischen die Beine klemmt, um ihn zu stabilisieren, wie man wann den Lenker fasst. Springer leitete mich an, immer schön geradeaus zu fahren, keine unvorhergesehenen Manöver zu machen, die den Mitfahrer in Probleme bringen. Ich lernte wo und wie man im Wiegetritt fährt, dass Radsportler niemals schwarze Socken tragen, immer fahren, unterwegs nicht absteigen, aber beizeiten essen und trinken müssen. Wenn sich Hunger oder Durst einstellen, ist es zu spät. Dann droht der gefürchtete Hungerast. Dann kommt dir der Mann mit Hammer entgegen und streckt dich nieder. Ich lernte weitere Radsporttermen. Das große Kettenblatt heißt Scheibe, niederländisch: „Het grote Mes.“ „Aan het elastiek zit“, am Gummiband hängt, wer nur mit Mühe und Not das Tempo der anderen halten kann, mal zurückfällt und sich wieder herankämpft. „Vals plat“ (wohl schiefe Ebene) heißt eine Wegstrecke, die ganz leicht ansteigt. Wer keine Führungsarbeit verrichtet, ist ein Hinterradlutscher. Tausend Kleinigkeiten brachte Springer mir bei und mehr noch schaute ich mir bei ihm ab. In der Summe machte es den Unterschied zu einem gewöhnlichen Radler. Allmählich näherte ich mich seinem Leistungsniveau an. Ab dann fuhren wir die Trainingsstrecke der Aachener Radamateure. Sie führte nach Ostbelgien ins Hohe Venn, über die Staumauer der Wesertalsperre, hinunter nach Eupen-Unterstadt, durchs Wesertal nach Dolhain und durch das hügelige Vorland der Ardennen zurück nach Aachen.

Diese Strecke wollten wir auch an diesem Morgen fahren. Im Osten mühte sich ein blasser Sonnenball gegen die Wolkenschicht an. Wir fuhren über den Radweg der Monschauer Straße stadtauswärts. Der Aachener Stadtwald dampfte.
Es geht entlang der Monschauer längere Zeit vals plat bergauf, was mühselig ist, wenn man gerade losgefahren ist. Keiner sprach. Jeder hatte mit sich selbst zu tun. Springer schnaufte eine Radlänge vor mir hoch, ich lutschte an seinem Hinterrad. Aus dem nassen Gras der Böschung waren weinrote Nacktschnecken auf den Radweg gekrochen und verharrten regungslos in ihrer Schleimspur. Ich hatte Mühe, ihnen auszuweichen. Einige waren schon überfahren worden. Ihr Inneres glänzte orange.

Wir kamen nicht mehr weit. Sobald wir den Wald hinter uns gelassen und freien Blick auf die fernen Höhenzügen der Eifel hatten, zogen über die blaugrau verwaschenen Hügel dichte Regenschleier heran. Im Nu hatte der Starkregen uns erreicht, und wir wurden derart ungestüm gewaschen, dass wir auch die Hoffnung aufgaben, wir würden irgendwo ein Wolkenloch entdecken, auf das wir zufahren konnten. Wir bogen in den Augustinerweg, um uns am Ausflugslokal Grüne Eiche vor dem Wolkenbruch unterzustellen. Nicht lange, da kam die mitleidige Pächterin, brachte Handtücher und bat uns herein. Leider hatte weder Springer noch ich Geld eingesteckt, denn irgendwo abzusteigen, war nicht unser Plan gewesen. Radsportler steigen unterwegs nicht ab.

Fortsetzung folgt

9 Kommentare zu “Geradeaus fahren und niemals mit schwarzen Socken

  1. Der letzte Satz, der da steht wie ein Cliffhanger, hat mich erstaunt. Wenn ich mal mit dem Rad gefahren bin, dann fuhr ich immer auf ein Ziel zu, und wenn es nur das nächstliegende Kloster war, in dem man Chimay bleu oder ein Witte Hoegarden trinken konnte. Sonst hätte ich ja im Kreis fahren müssen, was nicht einmal die Teilnehmer der Tour de France machen. Sondern nur die Verrückten von der Formel 1. Schönen Sonntach noch!

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    • Im Radsporttraining ist der Weg das Ziel. Wir fuhren so gut wie nie irgendwo hin, sondern eine Schleife. Denn ist man einmal abgestiegen, schaltet der Körper bald in den Erholungsmodus, und will man wieder los, bekommt man „die Beine nicht mehr rund.“ Im Radrennen dagegen liegen Start und Ziel meistens auseinander, nicht so bei Luik-Bastenaken-Luik, Rund um den Henninger Turm, Rund um Köln, aber die sogenannten Kirmesrennen sind immer Rundkurse, bespielsweise in Aachen „Rund um Dom und Rathaus.“
      Danke gleichfalls!

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    • Den Wiegetritt kennst du gewiss. Man geht beim Fahren aus dem Sattel, um das eigene Körpergewicht auf die Pedale zu bringen. Das bietet sich bei kurzen Steigungen an, wenn man das Tempo hoch halten will, ohne auf eine leichtere Übersetzung zu schalten.
      Warum schwarze Socken verpönt waren, weiß ich auch nicht. Sie verstießen gegen den Dresscode, Ich vermute, anders als schwarze Socken dient das Auf und Ab weißer Socken als optisches Signal der Verkehrssicherheit.

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      • Fachsprache gehört eben auch zu jedem Sport. Ein Dresscode ebenfalls. Vielleicht trugen die Mitglieder der früheren Arbeitersportvereine schwarze Socken – und da musste sich der saubere Sport abgrenzen. Naja, sauberer Sport, vielleicht sollten die Radprofis alle schwarzen Socken tragen.

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  2. Manfred ist mir mit meinen Fragen zuvor gekommen. Die Antwort hast du, lieber Jules, bereits gegeben.
    Mir bleibt anzumerken, dass es von Erzählkunst zeugt, wenn ich morgens um sieben in einem Text über den Radsport versinke und ihn mit Genuss lese.

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  3. Puh! dein Text klingt nach Schinderei. Ich schalte sofort einen Gang runter und lasse die Herrschaften mit ihren Elekororädern vorbei. Ich trete noch aus eigener Kraft. Zwar nicht so locker wie die mit ihren Hilfen, aber immerhin. Und ja, die geringste Ablenkung ist für mich ein willkommener Anlass zu einem Halt … 🙂

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