Hinter Westen liegt Osten (1) – Kathy aus Kelmis

flashbackGut 25 Jahre habe ich in Aachen, der westlichsten Großstadt Deutschlands, gelebt und gearbeitet. Wenn man von Aachen aus noch weiter nach Westen fuhr, landete man im Osten, und zwar im deutschsprachigen Teil Belgiens, der sich seit kurzem Ostbelgien nennt. Als ich anfangs in Aachen war, erschien mir die deutschsprachige Provinz abgehängt. Da war eine baufällige Brücke über der Autobahn Aachen – Brüssel, die über die gesamte Zeit meines Studiums nur einseitig befahren werden durfte. Der Gegenverkehr wurde über eine von Bauholz gestützte Behelfsbrücke geführt. Diese marode Brücke mit ihrem schier ewigen Provisorium nebenan war exemplarisch für den Stillstand der Region in den 1970-er Jahren. Ich war nicht gerne in der Region. Mich dauerte und deprimierte die sichtbare Armut Ostbelgiens. Denn arm war ich selbst, als ich mit dem Studium begann.

Da ich zuletzt als Schriftsetzer in der Druckerei gearbeitet hatte, in der die AStA-Zeitung gedruckt wurde, ich hatte sie mit Zustimmung meines Chefs auf eigene Rechnung layoutet, ergatterte ich zum Beginn meines Studiums einen Job als Projektleiter im AStA-Pressereferat. Dort entwarf und layoutete ich alle AStA-Publikationen und druckte nebenher in der AStA-Druckerei. Der damals reiche AStA der RWTH Aachen beschäftigte zwei Sekretärinnen. Eine der beiden, Kathy, war eine deutschsprachige Ostbelgierin. Ihre Eltern und ihr Bruder betrieben im Grenzort Kelmis eine Tankstelle mit Autowerkstatt, in Ostbelgien „Garage“ genannt. Mit Kathy verstand ich mich gut. Frau Dressel, die grauhaarige Putzfrau im AStA, verriet sie einmal, Kathy würde sich immer vor dem Spiegel die Haare richten, wenn sie vorhatte, mich aufzusuchen. Einmal kam Kathy mit schön gerichteten Haaren zu mir und sagte: „Mein Freund Michél ist Mitglied in einem Discjockey-Verband. Die geben monatlich diese Vereinszeitschrift hier heraus.“ Sie zeigte mir ein zusammengehunztes Heftchen im Format DIN-A5 mit wenigen Seiten, darauf ein wenig Werbung und Texte auf Französisch. „Die macht ja nichts her“, fuhr Kathy fort, „drum hab ich mich gefragt, ob du vielleicht Zeit und Lust hättest, das Heft zu layouten und in der AStA-Druckerei zu drucken.“ Es war in den Endsiebziger Jahren in Belgien die Zeit der mobilen Diskotheken. Disjockeys reisten mitsamt Equipment und Gogo-Girls über Land und mieteten Säle für Tanzveranstaltungen an. Michél war einer von ihnen und daher Mitglied im belgischen Discjockey-Verband, der Union Professionelle des Disc-Jockeys de Belgique (UPDJ).

Ich hätte Kathy küssen können, denn da ich schon eine Familie zu ernähren hatte, war ich froh um jeden Auftrag. Vor allem war ich froh über jeden Auftrag unabhängig vom AStA, denn der AStA wurde vom RCDS und einem liberalen Hochschulverband gestellt, und AStA-Vorsitzender und die Referenten waren durchweg konservative Bürschlein aus gutem Hause, die ihre AStA-Tätigkeit als Sprungbrett für eine politische Karriere oder in leitende Positionen in der Wirtschaft ansahen. Mein Chef, der Pressereferent, ein Arztsohn, wurde später Landtagsabgeordneter und sitzt heute für die CDU als Ärztelobbyist im Bundestag. Der damalige AStA-Vorsitzende wurde bald Pressesprecher der Hochschule. Ich gehörte mit meiner proletarischen Herkunft und als politisch Linker nicht wirklich dazu, wenn man auch meine Arbeit schätzte.

Anfangs liefen alle Kontakte zu den Disc-Jockeys über Kathy. Ich kann aber sagen, dass das Heftchen unter meinen Händen von Monat zu Monat wuchs, nicht größer, aber umfangreicher wurde, so dass es bald nötig wurde, mit dem herausgebenden Discjockey-Verband Kontakt aufzunehmen. Die Zentrale der Union Professionelle des Disc-Jockeys de Belgique (UPDJ) saß in Dolhain, einem Ort direkt hinter Ostbelgien in der wallonischen Provinz Liegé (Lüttich). Ich bat meinen Studienfreund Nebenmann, der einen R4 besaß und fließend Französisch sprach, mit mir dorthin zu fahren. Es war eine Reise ins finsterste Ausland,wo die Welt noch Schwarzweiß war, in der Hauptsache aber Grau.

Teil 2 – Er kann nicht sprechen

7 Kommentare zu “Hinter Westen liegt Osten (1) – Kathy aus Kelmis

  1. … und schon kommen meine Erinnerungen an die Klaus Quirini, der DDO (Deutsche Discjockey-Organisation), an Jack White und den Aachener Scotch-Club wieder.
    Wir schrieben uns schon einmal hierüber, lieber Jules

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  2. Das waren die Jahre, in denen eine Grenze noch sehr viel bedeutete. Ich erinnere mich an Grenzübergänge, die nicht ganztägig geöffnet waren, an das andere Geld, die Fremdheit, die ich empfand, wenn ich die Grenze überquerte. Aber auch an die Neugier auf das andere Land.

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    • an das andere Geld, die Fremdheit, die ich empfand,

      Oh, genau das habe ich eben auch gefühlt! 😉 Holland, Belgien, Dänemark, Frankreich…..,

      Kurz danach kamen die Erinnerungen hoch, wie ich mich am Grenzübergang Marienborn gefühlt habe, wenn wir über die Transitstrecke nach Berlin wollten.
      Das war keine Fremdheit, sondern Unwohlsein, Angst und Ohnmacht.

      Gruß Heinrich

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    • Ich kannte noch in den 80ern in Aachen-Lichtenbusch Leute, bei denen die Grenze durchs Haus verlief. Ihre Küche lag in Deutschland, das Wohnzimmer in Belgien. Es war absurd wie in einer Groteske von Sławomir Mrożek. Es gab da im Haus zwar keine Grenzkontrollen, aber das Zollhäuschen war nur wenige Meter entfernt. Dahinter betrat man Ausland.

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  3. Pingback: Noch etwas Autobiographie

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