Ich bins – nicht

Einmal saß ich in der Aachener Pontstraße vor dem Café Egmond und trank einen Milchkaffee. Ich hatte die Süddeutsche (SZ) lesen wollen, die im Café ausliegt. Die las einer am Nebentisch. Als ich hoch schaute, sah ich gegenüber im Fenster des T-Mobile-Ladens ein Spiegelbild, dachte mehrmals: „Oh, das bin ich!“ und erschrak, dass mein Spiegelbild den Arm nicht hob, wenn ich die Tasse zum Mund führte. Weil ich wusste, dass nicht ich, sondern er in die SZ guckte, sank ich erleichtert in den Korbsessel zurück, und dankte Gott, dass mein Spiegelbild mir nicht die Gefolgschaft verweigerte wie ein junger Hund.

Es ist wahrnehmungspsychologisch keine neue Erkenntnis, dass der Mensch Wahrnehmungen in Mustern abspeichert. Aber wie schwer sich Informationen wieder aus diesen Kontexten herauslösen lassen, habe ich jüngst beim Einkauf erlebt. (Wir sind übrigens wieder in Hannover.) Vor mir am Kassenband packte eine junge Frau einen großen Einkauf aufs Band, wobei ich sie beobachtete, denn ich wartete auf Platz, meinen schweren Einkaufskorb abzustellen und auszupacken. Als sie bezahlte, kam sie mir bekannt vor. Aber erst als sie mich nach dem Einpacken ihrer Sachen ansah und grüßte, war ich sicher, Janine, die Pächterin aus dem Vogelfrei, vor mir zu haben. Sie sah ganz anders aus als im Kontext mit der Stammkneipe der HaCK-Gruppe, viel schlanker, fast zerbrechlich.

Jetzt denke ich mir, dass es umgekehrt auch so sein muss, dass die Leute mich auch im Rahmen von Kontexten wahrnehmen, und jedes Mal sehe ich anders aus, nämlich so, wie diese Leute mich kennen, ich selbst mich aber gar nicht kennen kann. Da sag ich mal prophylaktisch: Egal, was ihr für Phantombilder zu kennen glaubt, das bin ich nicht! Ist schon schwer genug, die eigene Identität zu wahren. Siehe oben …

10 Kommentare zu “Ich bins – nicht

  1. …interessant auch wie wir von anderen empfunden werden. Wenn mir das Innenbild so zurückgespiegelt wird wie ich mir klammheimlich selbst Wünsche zu sein, gibt es manchmal kleine glückliche Momente der Zufriedenheit und ganz besonders, wenn ich mich kein bisschen anstrengen dafür musste, ‚einen guten Eindruck zu hinterlassen.“
    Ich kann nicht immer sein wie ich gern würde, ich bin an jedem Tag wieder anders von den Träumen geklont oder so. Großmutter konnte das englische Wort ‚Clown‘ nicht aussprechen, sie sagte immer: Du Klon! zu mir
    Nuu…was soll ich machen.
    Liebe Grüße zu Dir von der Fee✨

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    • Du sagst es,liebe Fee, der Mensch ist nicht jeden Tag gleich. LIchtenberg schreibt: „Wir glauben öfters, daß wir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Hände schrieben, während als sie einem Dritten immer einerlei erscheinen.“ Man kennt sich halt besser als Außenstehende. „Von den Träumen geklont“ gefällt mir gut. Wenn Mitmenschen einem das genehme Selbstbild spiegeln, ist es zugleich richtig und völlig falsch, oder?
      Fragt mit liebem Gruß,
      Jules

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      • Lieber Jules, die Antwort auf Deine kluge Frage ist: ja.
        Es ist ungesund, sich nur in anderen spiegeln zu können und zu wollen, genauso wie es wichtig ist, sich bei anderen anpassen zu können und dies bestätigt zu bekommen. Kennst Du Dich selbst gut? Ich meine mich immer genau solange gut zu kennen, bis ich mir wieder irgendwelche Blessuren einhandele oder mich selbst total überrasche. Ich rede nicht von Belohnungssystemen. Richtig überraschen mit Dingen, die den betulichen Teufelskreis eingefahrener und lieb gewonnener Gewohnheiten durchbrechen. Immer gleich und berechenbar wie ein Algorithmus würde ich mir sonst auf Dauer vermutlich auch irgendwie zu langweilig werden…
        grüßt Stefanie aus dem matschigen Teuto

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  2. Unser „Ich-Bewusstsein“ ist ja nicht etwas Gottgegebenes, vom Himmel Gefallenes, sondern eine fragile, mühsam aufrecht erhaltene Konstruktion unseres Gehirns. Dass das so ist, wird einem z. B. bewusst durch das Auftreten von psychischer Erkrankungen. Wer mal erlebt hat, wie sich Sicherheit und Ich-Bewusstsein in Angst und Chaos auflösen können, wird das nie mehr vergessen. In der von dir geschilderten Eingangsszene klingt das an. Und wenn sich schon das Eigenerleben beliebig ausdifferenzieren kann, um wie viel mehr dann die Vorstellungen, die in den Köpfen von Menschen über je andere Menschen existieren!

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    • Jack Goody, der schriftlose Kulturen untersucht hat, schreibt, dass Menschen in Kulturen ohne Schrift in einer man-Welt leben, ihr Denken orientiert sich am Denken der Gemeinschaft und ihre Ich-Identität ist nur schwach ausgeprägt. Man sieht daran, dass das von dir genannte Ich-Bewusstsein sich auch über die Gemeinschaft stabilisieren kann und die Sicherheit aus ihr kommt, nicht aus der übertriebenen Ich-Fixierung, die in unseren Tagen um sich greift.

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  3. Ein wenig geht es uns wohl wie den Seriendarstellern, die vom Publikum mit ihrer Rolle verwechselt werden. Nur spielen die absichtlich eine Rolle, während wir ständig in unterschiedlichen Rollen auftreten, häufig, ohne das zu wollen, oft, ohne über die Wahrnehmung dieser Rollen nachzudenken.

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    • Allzuviel über die eigene Außenwirkung nachzudenken, kann auch hinderlich sein. Ein Kollege, der die Theatergruppe leitete, erzählte, dass manche Schüler zum ersten Mal auf der Bühne vor lauter Verlegenheit in den Passgang verfielen.

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  4. Es stimmt, die Bäckerin zum Beispiel sieht außerhalb ihres Ladens ziemlich fremd aus und man würde sie nicht mit Brötchen assoziieren, wie man es wochentags macht …

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