Es wurde hell, dann wieder dunkel, wieder hell, dunkel – und das hin und her den ganzen Sonntag. Ich kam mir vor wie der Mönch von Heisterbach. Aber es waren vermutlich nicht vorbeirauschende Jahre, sondern die Regenschauern, die immer wieder hereinzogen. Gegen 17 Uhr kam kurz die Sonne hervor. Ich entschloss mich zu einer kleinen Radtour. Als ich in die Davenstedter Straße einbog, bedauerte ich, keine Sonnenbrille bei mir zu haben. Man dürfe nicht „dabei“ sagen, behauptete ein Germanistikdozent am Anfang meines Studiums. Ich habe ihn längst vergessen, weiß nicht mehr, ob er mich auch was Vernünftiges lehrte, aber an sein Dabei-Verdikt halte ich mich immer noch. Ich rolle also die Davenstedter Straße gen Westen, wo sich eine verwaschene Sonne zeigt, die mich immerhin blinzeln lässt, denn ich habe keine Sonnenbrille
da …bei mir. In Hafennähe wird der Radweg immer wieder von gepflasterten Einfahrten unterbrochen. Hier rollt es nicht. Weil auf der Davenstedter sonntags kaum Verkehr ist, wechsele ich auf die Fahrbahn.
Es ist eine öde Gegend rund um den Hafen. Sonntags sieht man fast niemanden – doch da eine schmale rothaarige Frau mit Kurzhaarschnitt. Sie schiebt einen Kinderwagen mächtig voraus wie jemand, der eine weite Wegstrecke zu bewältigen hat und sich von der öden Straße nicht entmutigen lassen will. Während ich an ihr vorbei rolle, ahne ich, dass sie in ihrem Leben weit größere Widerstände zu bewältigen hat als Kopfsteinpflasterpassagen von Einfahrten. Ich überquere einige Gleise zum Hafen und biege dann in eine ruhige Nebenstraße des an den Hafen grenzenden Gewerbegebiets. Eine seltsame Subkultur hat sich hier in der sozialen Brache auf dem Parkstreifen angesiedelt.
Ein Truck reiht sich an den anderen. Die meisten Fahrerkabinen sind verhangen. Bei einem Truck steht die Klappe der Motorhaube offen. Daran hängen an Bügeln zwei dunkle Hemden. Leerlaufende 500 PS sind schon eine merkwürdige Weise, Wäsche zu trocknen. Wie lange mag es dauern? Drei Fahrer stehen beisammen und reden was. Man kann sich Schöneres vorstellen als den Sonntag im Gewerbegebiet des Lindener Hafens zu verbringen. Aber immerhin ist es hier ruhig, anders als auf dem Parkplatz einer Autobahnraststätte.
Im Traum letzte Nacht war ich in Berlin unterwegs. Ich sah durch ein offenes Fenster in eine Wohnung so arm. Der Raum war vollgestopft mit altem Krempel. Mitten in diesem Chaos von unfassbar sinnlosem Zeug spielte ein kleiner Junge. Obwohl ich ja nur im Vorbeigehen war, sprach er mich an, und zwar auf eine so charmante, liebenswürdige Weise, dass ich stehen blieb und durchs offene Fenster mit ihm redete. Eine Tür zum ebenso chaotischen Nachbarzimmer stand offen. Halb verdeckt war da seine Mutter und schien etwas zu bügeln. Dann trat sie hinzu und folgte schweigend unserem Gespräch, eine ausnehmend hübsche Frau mit einem guten ruhigen Gesicht. Sie war schwanger. Mein Gott, dachte ich, sollte sie noch ein Kind in dieses Elend gebären? Es war der Junge, der mich zum Wiederkommen einlud. Am nächsten Tag erzählte er mir eine komplizierte Geschichte, warum man nichts habe einkaufen können. Man könne mir nicht mal Wasser anbieten. Der Ladenbesitzer habe seinen Laden, in einer Villa gelegen, einfach vor ihrer Nase zugemacht. Vermutlich schämte sich die Mutter vor ihrem Sohn, die bittere Notlage zuzugeben und hatte ihm mit einer sinnverwirrenden Geschichte erklärt, warum nichts zu essen da wäre. Ich war versucht, mit den beiden einkaufen zu gehen, ihre Vorräte wenigstens einmal richtig aufzufüllen. Gleichzeitig warnte mich eine Stimme, mich nicht verstricken zu lassen. Die schöne Frau forderte nichts, sah mich nur an als würde sie denken: „Meinen weißen Ritter habe ich mir nicht so grau vorgestellt. Aber gut …“
Als ich erwachte, haderte ich mit mir, dass ich mich beinah von einem hübschen Antlitz in eine schwierige Situation hätte locken lassen. Dabei ziert den Schluss meines Buches eine Schreiber-Nachschrift aus dem Gesta Romanorum, abgeschrieben im Jahr 1476 (nicht von mir. So grau bin ich dann doch wieder nicht.) – die weltklugen Bitte eines Schreibers mit einem genau gegenteiligen Wunsch.
An einer T-Kreuzung bog ich nach links, denn ich hatte mir vorgenommen hatte, eine Straße zu erkunden, in die ich bislang immer nach rechts eingebogen war. Ich fuhr durch ein Wohnviertel im Grünen mit Eigenheimen und geriet in eine Schleife, die irgendwann die öde Davenstedter Straße wieder kreuzte. Da an einer unwegsamen Baustelle sah ich die rothaarige Frau wieder, wie sie tapfer den Kinderwagen durch Pfützen schob. Den Kinderwagen sollte ein Mann schieben, dachte ich, möglichst der Vater des Kindes. Aber vielleicht steht der mit seinem Truck irgendwo in Spanien in einem Gewerbegebiet und wäscht seine Hemden auf dem Tankstellenklosett.
Die Sonne verschwand, und es regnete Bindfäden. Aber ich war vorher schon schwermütig.
„Als ich erwachte, haderte ich mit mir, dass ich mich beinah von einem hübschen Antlitz in eine schwierige Situation hätte locken lassen.“
Und ich dachte schon fast, Sie hätten in Ihrem Berliner Traum einkaufen gehen wollen, um ihre Vorräte wenigstens einmal richtig aufzufüllen, nicht wegen einem hübschen Antlitz, dessen Inhaberin von Ihnen nichts fordert. Verstrickungen und Schwierigkeiten erschienen mir nur dann als wahrscheinlich, wenn Sie Bedingungen daran geknüpft hätten.
Außerdem: wo gebügelt wird, ist Kultur (und der Strom nicht abgestellt)
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Leider kann ich nicht verhindern, dass mein Traum-Ich tut und denkt, was es will. „Bedingungen“ waren da nicht, aber Vorstellungen, was sich daraus entwickeln könnte.
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Erfreulicherweise müssen sich Traum-Ichs weder an physikalische Gesetze noch an sonstige Einschränkungen halten noch sich gar den Vorstellungen des Tagsüber-Ichs beugen. Genau das macht sie ja so notwendig wie interessant.
Es war aber Ihr erwachtes Ich, das mit sich hadert, weil sich Ihr Traum-Ich beinah von einem hübschen Antlitz in eine schwierige Situation hätte locken lassen – deswegen meine irritierte Anmerkung. Zunächst hätten sich aufgefüllte Vorräte und das süße Gefühl Ihres Spendierhosen-Privilegs daraus entwickeln können – ob/wie Junge, Frau und Sie weiter miteinander umgegangen wären, ist ein weites Feld, nein?
Schenken ist viel leichter als Geschenke anzunehmen, was vor allem mit der Haltung des Schenkenden zu tun hat, mit dessen Vorstellungen und Erwartungen. Ist ein Thema, das mich im Moment beschäftigt, weil ich eigentlich dringend ein Geschenk bräuchte, das aber an schlimme Demütigungen geknüpft und dadurch unannehmbar gemacht wurde. Sehr schade, für beide Seiten.
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Es war wohl mein Halbwach-Ich, das rückwärts in den Traum hinein haderte. Es fürchtete wohl emotionale Verstrickungen, mit der eine neue Unruhe in mein Leben käme, weil dieses meiner Ichs nicht aus Erfahrungen gelernt hätte. Egal, es waren alles Traumgesichte. Mir gefällt die surreale Idee, dass Traum- und Wachwelt gleichberechtigt reale Zustände des Lebens sind.
nur wissen wir im Wachzustand nicht mehr viel von der Traumwelt, und umgekehrt ragt die Wachwelt nur unvollständig in die Traumwelt hinein.
Dass Schenken leichter ist als beschenkt zu werden, kann ich von mir bestätigen. Ich schenke gern und bedenkenlos, werde aber ungern beschenkt. Schlimme Demütigungen sollten aber nie mit einem Geschenk verknüpft sein.
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