Dem Leibniz seine Entengemeinde

Der Leibniztempel im hannoverschen Georgengarten erhebt sich auf einer erhöhten Halbinsel. Von dort hat man einen schönen Blick auf Baumgruppen, Wiesen und Teiche. Der Tempel ist dem Mathematiker, Philosophen und Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz gewidmet. Im Rund von zwölf ionischen Säulen steht auf einem Sockel die Kopie seiner Büste, deren Original aus Carrara-Marmor der irische Bildhauer Christopher Hewetson in Italien geschaffen hat. Der Tempel trägt in goldfarbenen Lettern die Inschrift „Genio Leibnitii.“

Letztens saß ich auf den Sandsteinstufen und wollte mich inspirieren lassen. Es schrieb sich leicht, und wäre nicht die Dame auf dem Fahrrad vorbeigekommen, stünde hier vermutlich ein anderer Text. Den muss ich leider verschieben, der Enten wegen. Man stelle sich eine attraktive Frau mittleren Alters auf einem schwarzen Hollandrad vor, schwarze Pumps an den Füßen, schwarze Strümpfe, schwarzer Rock, schwarze Bluse, Sonnenbrille und eine perückenhafte Mähne aschblonder Schillerlocken. Wir haben keine Zeit zu erwägen, ob sie vielleicht einer Theaterbühne entsprungen ist, denn sie radelt schnell über den Weg heran und will den Leibniztempel umrunden. Im Vorbeifahren ruft sie mir zu:
„Die ganze Entengemeinde fehlt! Haben Sie die gegessen?!“
„Ich bin Vegetarier“, sage ich wahrheitsgemäß.
„Ich auch in solchen Momenten!“, ruft sie über ihre Schulter hinweg. Wie sie schon hinterm Säulenrund verschwunden ist, höre ich noch: „Wo sind die denn alle? Nur Boris ist hier!“ Und ich heiße noch nicht mal Boris.

Leibniztempel Hannover, Georgengarten, Foto: JvdL

Auf dem Teich unten hatte ich zuvor durchaus Enten gesehen. Sie waren panisch über die Wasserfläche geschossen, weil zwei Hundebesitzer ihre Tölen ins Wasser gescheucht hatten. Wohin die Enten sich entfernt hatten, war nicht zu sehen gewesen, weil sie unter dichtem Laub verschwunden waren. Derweil ich mich noch frage, welchen Knoten Leute im Kopf haben, die gewisse Tiere sorgenvoll suchen und andere bedenkenlos verspeisen, hat die Frau den Tempel umrundet und schickt sich an, wieder in den Weg einzubiegen. Ich bin ihr noch ein bisschen böse, weil sie mich verdächtigt hat, Enten zu verschlingen und frage: „Sind Sie etwa die Entenbeauftragte?“ Darauf antwortet sie nicht, sondern ruft aufgeregt: „Die sind reviertreu, die müssten sich hier aufhalten, treue Freunde!“ Und schon hat der Park sie samt Fahrrad verschluckt.

Eine Weile saß ich noch schreibend auf den Stufen, hielt gelegentlich Ausschau, doch Enten und Entenbeauftragte blieben verschwunden. Vermutlich wurden sie von Hunden gerissen. Die haben schließlich auch Rechte, obwohl sie ja eigentlich nichts tun, wie jeder Hundebesitzer zu versichern weiß. Leider konnte ich das nicht verifizieren, denn ich bekam plötzlich ebenfalls Hunger, verließ den Georgengarten und scheuchte im Supermarkt ein paar wehrlose Tomaten auf.

17 Kommentare zu “Dem Leibniz seine Entengemeinde

  1. Lieber Jules, als ehemalige Hundebesitzerin und Fleischesserin konnte ich Deinem Beitrag bis zu den abfaelligen Bemerkungen ueber Hundebesitzer einvernehmlich folgen 😉 PS: Diese Art von schwarzen Ladies gibt es zu 100en in den Niederlanden 😉

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    • Liebe Ann, das ist schade, denn ich habe mich gemäßigt und finde nichts „abfällig.“ Was genau meinst du? Zu deinem P.S.: In Hannover ist diese Lady sicher einzigartig, obwohl gerade der angrenzende Stadtteil Linden und speziell die Limmerstraße reich an Sonderlingen ist.

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      • Lieber Jules, Ich fühle mich nicht verletzt, aber ich mag Hunde, sehr sogar (wie sagt man: Brauchst Du enen wahren Freund, such Dir einen Hund;-), Du magst sie eher nicht, macht nix;-) zu meinem PS: Mir ist gerade in den Niederlanden aufgefallen, dass tolle Frauen mit High heels (Pumps) perfekt mit dem Fahrrad fahren, das fasziniert mich, in Deutschland hat Fahrradfahren einen eher „down to earth“ Kleidungsstil..und mögen es mehr in Hannover und generell Deutschland werden. LG Ann

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  2. Zu manchen Texten höre ich im Kopf Musik. Bei Deinen Texten ist das oft was Klassisches und manchmal was Lustiges. Doch heute lief im Kopf: Lady in Black von Uriah Help. Ich habe heute versehentlich zwei Enten bei der schleichenden Umrundung ihres Revierteiches mit Flüsterrad aufgescheucht. Nicht, weil ich laut war, sondern weil ich zu leise war und die Enten waren schwer beschäftigt. Frag bloß nicht mit was. Sie wurden jedenfalls dabei gestört. Ich blieb sofort stehen mit schamroten Ohren und entschuldigte mich bei Boris und Berta. Es waren Stockenten. Ich nenne männliche Stockenten manchmal Boris und weiß nicht warum. Kenne ich diese schwarze Frau auf dem Fahrrad? Na ja. Habe jedenfalls schon jahrelang keine Ente mehr vertilgt. Die gab es bei meiner Großmutter immer. Ich wuchs praktisch mit Enten auf, zweimal im Jahr und mit voller Verwandtschaftsbesatzung, also die ganze Sippe samt ihren diversen Anhängseln wie Schwippschwagern und guten Familienfreunden. Ich hatte immer ein schlechtes GEfühl bei diesen Entengelagen. Ich meine zwei Enten und zwanzig Leute mit Riesenhunger. Da wurden dann die ganzen Operationen am Tisch besprochen. Augen fand ich besonders gruselig. Ich konnte meine Ente nicht mehr essen, mir war der Appetit vergangen und das obwohl ich (noch) kein Vegetarier bin, noch nicht so ganz konsequent. Doch wenn ich höre, was mit unserem Fleisch los ist, habe ich keine Lust mehr darauf. Meine Tochter ist auch schon auf dem Weg. Lange kann es nicht mehr dauern, bis wir Gemüse aufschreckend, stellend und erbeutend durch die Supermärkte streifen. Einen Tomatenfangkorb hab ich schon, brauch noch einen Gurkenköcher.

    Feiner Text und wieder sehr gern bei Dir gelesen!

    Lieben Gruß von der Fee

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    • Liebe Fee, du erweist dich als Expertin, kennst dich sowohl mit lebenden Enten aus, was ich aus dem locker aus der Hüfte verwendeten Fachwort „Revierteich“ schließe, als auch mit dem Verzehr von Enten. Ich habe noch nie eine Ente gegessen, aber mein Bruder hat mal neben einem gesessen – der hat eine Ente gegessen 😉 Sag, liegen bei den Familien-Festtagsgelagen nicht eigentlich Gänse auf dem Tisch? (Den biologischen Unterschied kenne ich jetzt nicht, sah aber bei meiner Radtour durch deine Heimat, genauer in der Stromberger Schweiz (Zitat aus meinem Reisebericht „auf einer Anhöhe ein großes Gehöft. Vor ihm erstreckte sich den Hang hinab eine Hauswiese, groß wie zwei Fußballfelder. Auf dieser Wiese standen unzählige Gänse. Wäre das eine feindliche Heerschar, die Stromberger Schweiz würde sofort ihre Neutralität erklärt haben. Oben lagern die Gänse dicht an dicht und bilden einen weißen, dräuenden Wall vor dem Haupthaus. Vermutlich konnten sie St. Martin nicht erwarten oder sehnten Weihnachten herbei. Die Backröhre ist warm, und ihre Daunen hätten Aussicht auf ein trockenes Bett. Andere Gänse hingen trotz des trüben Wetters noch am Leben, und so ergoss sich ihre weiße Flut über die Hangwiese bis zum Fahrweg hin. Sogar das angrenzende Maisfeld hatten sie okkupiert, standen da einfach nur rum oder hatten sich trotzig in Schlammpfützen gelegt.“
      Es hat da übrigens dauernd geregnet.
      Freut mich zu lesen, dass du dich an pflanzlicher Kost zu orientieren beginnst, obwohl Deutschlands Komiker behaupten, sie wäre freudlos. Aber „Tomatenfangkorb“ und „Gurkenköcher“ zeigen das Gegenteil. 😉
      Danke fürs Lob und deinen launigen Kommentar!
      Lieben Gruß,
      Jules

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      • Lieber Jules,

        Du musst jetzt tapfer sein: Ich habe sowohl Enten als auch Gänse verschlungen und sogar genossen. Ich weiß, einen Vegetarier kommt sowas hart an. Natürlich gab es auch große weiße Vögel an den Festtagen – gibt es immer noch, das ist eben Tradition in unserer Familie, jahrhundertelang eingeübt sozusagen. Meine kleine Großmutter musste auch schlachten, sie ist 1904 in Ossen geboren. Sie erzählte mir als Kind wie das war und ich will nicht ins Detail, ist zu gruselig…doch…eins: Sie sagte, es sei wichtig, dass das Tier glücklich ist und entspannt. Ein respektvoller Umgang sei unerlässlich. Ich fand das echt krude und heute noch…
        Ja. Das Ethische in mir wird immer stärker und das finde ich sehr gut. Ich kann nicht wegschauen vom Seefisch, von der Qual, mit der mein Fleischkonsum bezahlt wird. Das stößt mir arg sauer auf. Unter der Woche gibt es kein Fleisch mehr bei uns. Ich bin bei bestimmten Internetkochseiten Dauerstammgast und ich staune, wie viele köstliche vegetarische Gerichte es gibt! Ich interviewte mal einen vegetarischen Caterer. Er schwärmte von der vegetarischen Küche in Amerika, wie vielfältig diese ist. Doch so weit muss ich nicht reisen, denn ich habe mediterranes Blut und deswegen liegt mir die italienische Küche auch sehr. Das französische Hugenottenblut indes kräht nach südfranzösischer Gemüseküche mit vielen vielen Kräutern. Ja, das macht Laune, darüber zu schreiben. Bei uns regnet es leider dauernd und wenn es nicht regnet, fisselt es wenigstens. So ein ostwestfälisch-lippischer Fisselregen hat schon was, ist sehr gut für den Täng, wie es in meiner Sippe heißt. Hält frisch und jung. Komm doch mal wieder vorbei. Die Stromberger Schweiz lockt im Herbst mit dem Pflaumenfest, da fuhr ich schon mit dem Rennrad hin. Wenn das Wetter mal schön ist (kommt sporadisch auch bei uns vor), leuchten diese Berge blau und sind so schön, dass ich sogar diesen verflixten Regen in Kauf nehme und hier ganz gern wohne.
        Das Elend der Gänse ist kaum lesbar.
        Weihnachten entschuldige ich mich vorher bei dem Viech, dass es glücklich sterben musste. Doch wirklich schmeckt es nicht und mittlerweile esse ich lieber Knödele und schaufele den Rotkohl in mich hinein. Meine Mutter betrachtet diese Entwicklung übrigens mit offensichtlichem Argwohn (früher mochtest Du doch gern Gans…schmeckt es Dir etwa nicht…etc.etc. pp….)…doch das ist eine ganz andere Geschichte.
        Liebe Grüße ins schöne Hannoversche von der Fee

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  3. In der Zoo-Packung der Leibnizkekse von Bahlsen sind sowohl Enten als auch Hunde enthalten, damit wäre die Verbindung zwischen Leibniz und den Enten schon mal gefestigt, Fahrräder gab es aber noch nicht, als der Gelehrte sich und seiner Zeit die Welt zu erklären versuchte. Tempel und Entengemeinde ergänzen sich übrigens auch recht hübsch. Und wenn wir schon einen Tempel haben, dann ist das eine oder andere Opfer doch angebracht. Im Namen der Wissenschaft. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, könnte die Zoo-Packung die Opfertiere doch eigentlich ersetzen. Ungeklärt bleibt lediglich die radelnde Dame, da sie aber eine hübsche Klammer für die Geschichte darstellt, darf sie gern geheimnisvoll bleiben.

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    • Da ich von Bahlsen nur Russisch Brot kenne, muss ich das einfach mal glauben, lieber Manfred. Die Frau, deretwegen ich nach Hannover gezogen bin, hat mich freilich mal in den Bahlsen-Werksverkauf gezerrt, wo sich mir der Zusammenhang von Keks und Leibniz aber auch nicht erhellt hat. (Es verhält sich vermutlich wie beim Bismarckhering.) Damals fehlte übrigens die Leibnizbüste. Die Stadt hatte sie vor Vandalismus schützen müssen. Wo die Büste hingehört,fand ich eine verkohlte Feuerstelle, wo welche ein Brandopfer gebracht hatten, das sie selbst verzehren wollten. Von der radelnden Dame weiß ich leider nichts. Sie geisterte eine Weile durch den Park wie so eine Sorte Schmuckeremit.

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  4. Heute morgen habe ich meine S-Bahn Station verpasst, weil ich gerade einen Kommentar tippte. Das ich eine Station zu weit fuhr, nahm ich der Entenfrau übel. Sie musste schuld sein, weil ich dir, lieber Jules, wegen einer solchen Lappalie schlecht Grollen kann.
    Der ungewollte Spaziergang in der Morgensonne war dann aber so schön, dass ich mich nun artig für den Text bedanke und auch für das verspätete Aussteigen.

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  5. Ihre Geschichte schlägt eine schöne Volte, über die Hunde zu den Tomaten. Freilich antizipiert der Leser an der Stelle, als die schwarze Dame im Vorüberradeln fragt »ob Sie die Enten gegessen hätten?« eine wesentlich banalere Auflösung: dass Sie sich natürlich verhört hätten, weil die Dame ja bloß fragte, ob Sie die Enten gesehen hätten. So wäre lediglich eine erwartungsgemäße Pointe daraus geworden. Ihre gelungene Geschichte aber besticht, indem sie die Antizipation des Lesers eben nicht erfüllt, sondern durch unerwartete Wendung überrascht, Kompliment.

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