Von beleckten Buntstiften und zermanschten Kartoffeln

Kürzlich hat sich der Journalist und Titanic-Kollege Bernd Fritz das Leben genommen. Er wurde 71 Jahre alt und hat in seinem Leben Beachtliches geleistet. Den medialen Nachrufen war zu entnehmen, worin seine wichtigste Lebensleistung bestand. Er hat im Fernsehen an Buntstiften gelutscht und deren Farbe angeblich am Geschmack erkannt. Damit habe er sich ins „kognitive Gedächtnis der Deutschen gemogelt“, hat ein Fernsehmoderator namens Thomas Gottschalk der Bildzeitung gesagt. Ich kann bei Bild aus Gründen nicht nachschauen, habe deshalb aus der Stuttgarter Zeitung zitiert. Vielleicht stammt der Fehler von dort, denn sinnvoll ist in dem Zusammenhang doch nur das „kollektive Gedächtnis.“ Die Kollegen der anderen Blätter zitieren übereinstimmend denselben Quatsch. Vielleicht verstehen aber Gottschalck und die komplette Journaille nicht den Unterschied zwischen kognitiv und kollektiv. Zum Mitschreiben: „Kognitiv“ bedeutet grob „die Erkenntnis betreffend.“ Ein dressierter Affe kann erkennen, ob einer an Buntstiften lutscht. Eine derart schwache Verstandesleistung kann nicht gemeint sein. „Kollektiv“ bedeutet „gemeinschaftlich.“ Wie es das „kognitive Gedächtnis der Deutschen“ nicht geben kann, höchstens „eines Deutschen“, ist das „kollektive Gedächtnis der Deutschen“ zwar sinnvoll, aber ein Konstrukt, eine Metapher. Es gibt keine Entsprechung in der Dingwelt. Gemeint ist, woran sich eine Gemeinschaft erinnert. Diese Gemeinschaft scheint leider nur so verständig zu sein, wie ihre dümmsten Mitglieder, denn das „kollektive Gedächtnis“ speichert nur kindliche Sachen wie Buntstiftlutschen.

Anderes Beispiel: Wenn sich noch jemand an den Schauspieler Raimund Harmstorf erinnert, dann vermutlich, weil er in dem TV-Mehrteiler „Der Seewolf“ vom Dezember 1971 mit der bloßen Hand eine Kartoffel zerdrückt hat. Schon hatte das kollektive Gedächtnis Harmstorf auf die Rolle des Kraftmeiers festgelegt, obwohl später bekannt wurde, dass die Kartoffel gekocht gewesen war. Auch Harmstorf ist freiwillig aus dem Leben geschieden. Das Drehbuch dieser Tragödie haben die Bildzeitung und RTL geschrieben.

Am 2. Mai 1998 hatte die Bildzeitung in großen Lettern getitelt: „Seewolf Raimund Harmstorf in der Psychiatrie“ und weiter: „Mit aufgeschnittenem Handgelenk von der Polizei aufgegriffen.“ Die Falschmeldung war am Abend vom RTL-Magazin „Explosiv“ aufgegriffen und einem Millionenpublikum ins kollektive Gedächtnis gedrückt worden, ein schweres Stigma für einen Seewolf. „Das ist mein Todesurteil“, soll Harmstorf zu seiner Lebensgefährtin gesagt haben. Stunden später, am 3. Mai 1998, erhängte er sich. Die Einzelheiten hier.

Derzeit vernebelt man das kollektive Gedächtnis mit Warnungen vor Fake News im Internet. Es wäre zu wünschen, die Deutschen würden mal nachhaltig speichern, welches Drecksblatt die Bildzeitung ist, und sie nicht mehr kaufen, noch anfassen. Populäre TV-Moderatoren sollten sich schämen, sich von der Bildzeitung, der charakterlosen Mutter aller Fake News, zitieren zu lassen und Bundesinnenminister Lothar de Maizière sollte nicht ausgerechnet dort seine fragwürdigen Grundsätze unserer Leitkultur veröffentlichen. Nach dem gestalttheoretischen Prinzip: „Paarung wirkt auf die Partner“ lautet die Botschaft: Die Deutschen sind rundum unerfreuliche Menschen, nämlich kollektiv gewissenlos, sensationsgeil, blutrünstig, menschenverachtend, schlicht doof. Von solchen kulturellen Ideen möchte man sich schon aus kognitiven Gründen lieber nicht leiten lassen.

24 Kommentare zu “Von beleckten Buntstiften und zermanschten Kartoffeln

  1. Lieber Jules,
    ich stimme Ihnen in vollemn Umfang zu!
    Ich hätte das nicht so gut zum Ausdruck bringen können.
    Ich schäme mich oft, Mensch zu sein! Ich mache zwar beim konsumieren dieses widerlichen Boulevardblattes nicht mit, aber etappe mich in anderen Bereichen, dass ich mit meiner Nachfrage ein Angebot aufrecht erhalte, das diesem Planeten schadet.
    Die Nebenwirkungen haben wir wohl kollektiv verdient.
    Glücklicherweise treffen wir bei unserem Spaziergang durch die Unterhaltung nicht nur Menschen wie Gottschalk oder Barth.
    Warum ich Unterhaltung anspreche?
    Ich brauche das zum Ausgleich. Wenn ich mich nur mit den „ernsthaften“ Dingen dieser Welt beschäftige, werde ich bestimmt trübsinnig oder gar verbittert?!
    Gruß Heinrich

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    • Lieber Heinrich.
      danke. Wir stimmen nicht nur darin überein. Selbst wenn man ernsthaft anstrebt, die Sache nicht durch eigenes Handeln zu verschlimmern, müssen wir uns oft zerknirscht eingestehen, dass unser Handeln auch nicht einwandfrei ist. Andererseits ändert es nichts, wenn wir ein freudloses Leben führen. Das verbietet die verantwortliche Selbstsorge. Immerhin ist es gut, ab und zu innezuhalten, die Dinge zu durchdenken und ggf. die Stimme zu erheben, wenn es auch nur schriftlich in einem Blog ist.
      Beste Grüße,
      Jules

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  2. Den beiden obigen Kommentaren, kann ich nichts mehr hinzufügen.
    Außer vielleicht…es kann nicht oft genug auf dieses Schrottblatt hingewiesen werde. Ein gutes Wort zum Sonntag (Montag, aber ich hänge hinter her) lieber Jules.

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    • Das geht mir auch so, liebe Mitzi. Ein E-Book zu erstellen und gleichzeitig zu bloggen, ist selbst für mich, der ich kaum Verpflichtungen habe, schwierig.
      Zum Thema Bild hat Max Goldt das Ultimative gesagt:

      „Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem ihrer Redakteure freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muß so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zuläßt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun.“

      (Max Goldt, Mein Nachbar und der Zynismus, in: Der Krapfen auf dem Sims)

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      • Mit der Ausnahme weniger Punkte, stimme ich Max Goldt zu. Ich möchte sie nicht als Arbeitgeber im Lebenslauf stehen haben. Das Unterlassen jeglicher Höflichkeit sehe ich anders. Vielleicht aber muss man es so drastisch ausdrücken um seine Meinung unmissverständlich kund zu tun.
        Zum Buch….ich befinde mich auf der Zielgeraden. Hoffentlich 🙂

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        • Ich kenne den Kontext von Goldts Polemik nicht, eventuell geht es um einen seiner Nachbarn und ist die Begründung, warum er nicht freundlich zu ihm sein mag?

          Schön, du bist mit deinem Buch auf der Zielgraden. Ich kann meins nicht mehr beeinflussen, mein mittlerer Sohn Malte macht das Lektorat und möchte sich nicht drängen lassen.

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  3. Erst gestern sah ich einen Müllmann bildzeitungsschwenkend in sein Auto steigen, dabei will ich gern die Macher – weniger die Leser – an den Pranger stellen, aber irrsinnigerweise hilft alles nichts gegen …

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    • Über einen Bild lesenden Müllmann wollen wir uns nicht erheben, Absolut unverständlich ist mir aber, dass man von unseren Rundfunkgebühren verschmockte Bild-Chefredakteure in die Talkshows einlädt und sie so gesellschaftsfähig macht. Noch weniger begreife ich die Prominenten aus Politik und Kultur, die für Bild werben oder ihr Interviews geben. Ein vernünftiger Mensch muss doch bei sowas kotzen.

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  4. Liebe Wildgans,
    wenn ich noch einmal nachdenke, kommt mir folgende Idee. Sie sagen, Sie würden eher die Macher als die Leser an den Pranger stellen. Ist das nicht wieder die Sache mit der Henne und dem Ei?
    Gäbe es keine Leser, die sich DIESE Kost wünschen, gäbe es auch keine Zeitung mit dem Niveau. Gäbe es NIEMANDEN, der Fleisch kauft, würde kein Schlachter Tiere töten. Die „Macher“ machen also immer das, wofür sie Abnehmer finden.
    Klar, kann man auch „Bedürfnisse“ wecken und das Volk zum Kauf von Dingen verleiten. Werbung, Mode und die lieben Nachbarn, die einen Vorsprung haben, animieren uns.
    Mann kann Menschen sogar dazu verleiten, in den Krieg zu ziehen.
    Je mehr ich über all diese Dinbge nachdenke, desto unmöglicher sehe ich eine „Lösung“.
    Wir Menschen wollen unsere Bedürfnisse befriedigen. Nimmt man uns den Tabak weg, essen wir dafür Schokolade.
    Nimmt man dem „Müllmann“ die BILDzeitung weg, geht er dann ersatzweise dafür in die Oper? Oder was denken Sie?
    Vielleicht kommt er dann auf dumme Gedanken, das Sommerloch SELBST zu füllen?
    Wer weiß das schon?
    Die menschliche Psyche ist ein Irrgarten mit Zufallsweichenstellung. Kein Lebewesen ist dermaßen unberechenbar!
    Es wir langsam Zeit, dass die Evolution wieder einen riesigen Sprung macht, die Menschen mit künstlicher Intelligenz „ergänzt“ werden, mindestens einen Chip eingepflanzt bekommen.
    Lässt man sie so weiter wurschteln, ist es VÖLLIG egal, ob eine BILDzeitung einen Teil der Menschen belügt, eine andere Zeitung einen anderen Teil der Menschen manipuliert oder die Menschen von ihrem Smartphone kontroilliert, manipuliert werden!

    Gruß Heinrich

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  5. Inzwischen wird dieses Schmierblatt übrigens von Online-Medien völlig in den Schatten gestellt. Ein Rufmord bei Facebook hat inzwischen eine millionenfach größere Reichweite als BILD.
    Und was ONLINE passiert, ist nicht nur von den „Machern“ der Portale abhängig, sondern von ALLEN, die sich da austoben! Alles „liebe“ Menschen!

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    • Lieber Heinrich. Die niedere Gesinnung, die sich online verbreitet, ist doch von Hetzbättern wie Bild wachgerufen und gehätschelt worden. Indem unsere Politiker das Schmierblatt als Sprachrohr benutzen, machen sie deren Dreck gesellschaftsfähig. Wir müssen immer noch unterscheiden zwischen Idioten, die im Internet hetzen und solchen, die das tagein, tagaus gewerbsmäßig tun. Und dafür müssen auch noch grüne Bäume sterben.

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      • Wachgerufen vielleicht nicht, die Gesinnung war sicher schon immer vorhanden. Aber gehätschelt, verbreitet und gesellschaftsfähig gemacht ja, auf jeden Fall. Und weil sie das gewerblich tun, ist das besonders verwerflich.

        Wenn die kleinen Hetz- und Hassbratzen, die ihre privaten Gehässigkeiten jetzt mühelos weithin sichtbar ins Netz blasen können, ist das unangenehm, schlimm, eklig. Aber die Leute, die mit der gezielten Abfassung vergleichbarer Auswürfe ihr Geld verdienen und sich bei Kritik in die Pose der verfolgten Unschuld werfen wie der ehemalige Chefredakteur des größten deutschen VolksBILDungsorgans oder auch sein Vorstandsvorsitzender, bei denen fehlen mir die Worte. Vor der Niedertracht dieser Leute kann man kaum genug warnen.

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  6. 15 minutes of fame, so hatte Andy Warhol das benannt. Der Ruhm, der Bekanntheitsgrad, der durch einen Auftritt in einer großen TV-Show erlangt wird, ist aber offensichtlich durch nichts mehr zu übertreffen, aber auch durch nichts mehr zu korrigieren.

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    • Die genannten Fälle zeigen, dass diese 15 Minuten Ruhm durch völlig belanglose Dinge erworben werden können, und dass die Betroffenen ihr ganzes Leben lang damit zu tun haben wie mit einer nie abzutragenden Hypothek. Egal, was sie machen, medial werden sie immer auf das eine reduziert wie auf die getürkte Buntstiftwette oder die zerdrückte Kartoffel. Ich hatte vor dem Schreiben nach weiteren Beispielen gesucht, entdeckte dann aber die Tragödie des Harmstorf, die sich morgen jährt, was meinem Text eine neue Zielrichtung gab.

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  7. Ein herausragendes Exempel journaillistischer Schamlosigkeit bringt überdies eine Redaktorin Franziska Pahle dar, indem sie in der Schweizer Dreckspostille Blick am Abend über den Verstorbenen titelt:

    Buntstift-Lutscher Bernd Fritz (†71): «Wetten, dass..?»-Betrüger ist tot

    (Gleich unterhalb dieser niederträchtigen Hervorbringung präsentiert sich das grinsende Konterfei der Autorin – Sie sind ja wahrhaft eine würdige Exponentin der Gossenjournaille, Frau Pahle! möchte man ihr entgegenhalten.)

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  8. Pingback: Von der Klage der Texte wider ihren Erzeuger – Teestübchen Jahresrückblick 2015

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