Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 9) Von der Macht des gedruckten Wortes

An einem schönen Frühlingsmorgen hatte der Buchantiquar an der Limmerstraße Bücherkisten nach draußen gestellt. Auf dem Weg zum Georgengarten kam ich vorbei und stieg vom Rad, um in den Auslagen zu stöbern und etwas Lesestoff zu kaufen. Da lachte mich ein gut erhaltenes Insel-Taschenbüchlein an: “Lichtenbergs Funkenflug der Vernunft – eine Hommage zu seinem 250. Geburtstag“. Das Büchlein versammelte Texte von gut 30 bekannten Autoren, die jeweils über eine Sentenz von Georg Christoph Lichtenberg geschrieben hatten. Die Aussicht, mich damit im ergrünenden Georgengarten in die Sonne zu setzen, über mir ein makelloses Himmelsblau, das nur durchschossen wurde vom aufgeregten Tirilie, Pfeifen und Zwitschern der Vogelwelt, schien mir ein unschätzbarer Luxus zu sein. Er sollte mich nur drei Euro kosten.

Lichtenberg, * 1. Juli 1742 – † 24. Februar 1799 lehrte Physik in Göttingen. Der Nachwelt ist er bekannt durch die posthume Veröffentlichung seiner Sudelbücher. Über ihre Entstehung schreibt er: „Wenn jemand alle glücklichen Einfälle seines Lebens dicht zusammen sammelt, so würde ein gutes Werk daraus werden. Jedermann ist wenigstens einmal im Jahr ein Genie. Die eigentlichen so genannten Genies haben nur die guten Einfälle dichter. Man sieht also, wie viel darauf ankommt, alles aufzuschreiben.“ Lichtenberg fügt hinzu, er habe gesehen, dass die Kaufleute ein Sudelbuch hätten, worin sie alle ein- und ausgehenden Lieferungen vermerkten. Deshalb nannte er seine „Sammlung „glücklicher Einfälle“ so: „Schmierbuchmethode bestens zu empfehlen. Keine Wendung, keinen Ausdruck unaufgeschrieben lassen. Reichtum erwirbt man sich auch durch Ersparung der Pfennigs-Wahrheiten.”

Doppelseite aus: Lichtenberg, Funkenflug der Vernunft, Frankfurt am Main und Leipzig 1992 (größer: Klicken)

Lichtenberg sudelte seine Einfälle in Hefte. Im Büchlein sind Heftseiten abgedruckt. Es gibt Leute, die solche Manuskriptseiten, „Autographe“ genannt, sammeln. Was nicht in privaten Sammlungen verschwindet, wird in Bibliotheken und Archiven aufbewahrt. Für die meisten von uns wäre Lichtenbergs Funkenflug schlicht unzugänglich, weil Autographe ja einmalig sind und weil es der Übersetzungsleistung aus der Handschrift in die überindividuelle Druckschrift bedarf, damit Texte allgemein zugänglich werden. Um ein Buch herzustellen, ist ein gewaltiger technischer Apparat nötig und die Arbeit vieler Spezialisten – in Lichtenbergs Fall haben Literaturwissenschaftler den Nachlass gesichtet und die Manuskripte einem Verleger angetragen. Der hat Lektoren beauftragt zu entscheiden, was vom Manuskript die Schriftsetzer absetzen und somit lesbar machen, Korrektoren haben den Satz mit dem Manuskript verglichen und Fehler getilgt. Damit ein Buch entstand und in viele Hände geraten konnte, waren außerdem beteiligt: Schriftgestalter, Typografen, Drucker, Buchbinder und Leute im Vertrieb bis hin zum Buchhändler. Ein riesiger technischer Apparat und ein Heer von Spezialisten machten die hin gekritzelten Gedanken eines Menschen allgemein zugänglich und verliehen ihnen Wucht und Wirkung. Das alles begründet die sprichwörtliche „Macht des gedruckten Wortes.“

Ähnliche Machtfaktoren begründen den Einfluss von Zeitungen. In der Buchkultur besaßen die Buch- und Zeitungsverlage als einzige diese Produktionsmittel. Sie sicherten ihre Herrschaft über die Köpfe der lesenden Menschheit. Buch- und Zeitungsverlage bestimmten, was gedacht und worüber diskutiert wurde. Wenn man bedenkt, dass die Verlage meistens im Besitz von wenigen reichen Familien sind, müssen wir in ihnen die Elite sehen, die das kulturelle Leben prägt. Ein Autor oder Journalist, der in ihrem Auftrag etwas schreibt und in Druck gibt, fühlt sich ebenfalls zur Elite gehörig. Wer schon einmal eine der gewaltigen Rotationsmaschinen beim Druck einer Zeitung erlebt hat, gesehen, wie sich von dicken Papierwalzen eine straff gespannte Papierbahn abrollt und um Druck- und Gegendruckzylinder gewunden durch so ein haushohes Wunderwerk der Maschinenbaukunst rast, wer einmal ihrem Getöse gelauscht hat, wer die vibrierenden Erschütterungen des Fundaments gespürt hat, kann sich vielleicht das erhebende Gefühl vorstellen, dass den Autor erfasst, dessen Gedanken da millionenfach gedruckt werden.

Die Leser der Buchkultur brachten dem gedruckten Wort ein fast blindes Vertrauen entgegen. (Dazu eine ulkige Episode am Schluss des Eintrags.) Gedrucktes war geadelt durch den immensen Aufwand an Menschen, Material, Produktionsmittel und Kapital. Das alles signalisieren die Druckbuchstaben. Auch meine Gedanken hier sind mit solchen Druckbuchstaben allgemein lesbar gemacht. Sie profitieren vom gewaltigen kulturellen Hintergrund, den ich oben und in der gesamten Reihe über Typografie skizziert habe. Indem sich der Druckbuchstabe völlig vom Material gelöst hat und nur noch Form ist, wurde er allgemein verfügbar. Von dieser Demokratisierung der Druckschrift profitiert jeder, der im Internet publiziert. Es ist nachvollziehbar, dass die alten Alleinherrscher über die Druckschrift nicht erfreut sind über die leichtgewichtige, weil immaterielle Konkurrenz durch digitale Schreiber.

Fehlendes Material geht einher mit fehlender Kontrolle. Ein kultureller Sprengsatz.

Wasseramt Köln – Eine Episode aus der Zeit des Buchdrucks

Der Drucker Heinz Kromscheidt druckte Fahrscheine für die Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) an der großen Rotationsmaschine. Ich war der einzige Schriftsetzer und hatte nicht viel zu tun, also oft Langeweile. Kromscheidt trug die Haare sehr lang. Sie reichten im fast bis zum Hintern. Wir waren etwa gleichaltrig und verstanden uns gut. Aber man musste mit Heinz viel Geduld haben. Er war Stotterer. Die Großdruckerei war in einem Flachbau untergebracht. Eines Tages erwies sich Dach als undicht. Der Regen tropfte herein. Tags drauf kamen die Dachdecker. Aus dem Pausenraum im mehrstöckigen Hauptgebäude der Druckerei sahen wir, wie zwei Dachdecker und mit einer Rolle Teerpappe und einem Schweißgerät auf das angrenzende Flachdach stiegen. Kromscheidt und ich, wir wollten uns einen Jux mit ihnen machen. Ich setzte aus 28 Punkt halbfetten Futura „Wasseramt Köln“ und machte auf der Abzugspresse zwei Abzüge. Wir schnitten uns daraus Schildchen zurecht und hefteten sie an die Brusttasche unserer grauen Kittel. Dann stiegen wir aus dem Fenster des Pausenraums zu den Dachdeckern aufs Dach.

Wasseramt: „Wawawasseramt Kökökököln. Wawawas mamammachen Sie hier?“
Dachdecker: „Das Dach ist undicht. Wir setzen hier und da drüben neue Stücke Teerpappe ein.“
Wasseramt: „Haben Sie eine Genehmigung, die Fläche zu versiegeln.?“
Dachdecker: „Welche Genehmigung?“
Wasseramt: Also nicht. Jede Versiegelung von Flächen über 20 Quadratmeter muss vom Wasseramt genehmigt werden.“
Dachdecker: Aber unter uns ist eine Druckerei. Da regnet’s rein.“
Wasseramt: Leider stand die Druckerei schon, bevor die Bestimmung wirksam wurde. Aber jetzt wo das Dach wieder undicht ist, …Jede neue Versiegelung muss genehmigt werden.
Dachdecker: Aber…
Wasseramt: Bevor Sie weiterarbeiten, setzen Sie sich mit unserem Innendienst in Verbindung und holen Sie sich eine amtlich Flächenversiegelungserlaubnis.
Wir kokokommen morgen wiewiewieder und kokokontrollieren das.

Wir gingen und ließen kopfkratzende Dachdecker zurück. Dass man uns die Rolle abgekauft hatte, war das Erstaunliche. Zwei Langhaarige geben sich als Amtspersonen der Stadt Köln aus, und der mit den längsten Haaren stottert erbärmlich. Das hätte die Dachdecker eigentlich stutzig machen müssen. Einzig unsere gedruckten Schildchen wiesen uns aus.

12 Kommentare zu “Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 9) Von der Macht des gedruckten Wortes

  1. Köstlich, diese Episode!
    Und Dein Satz „Indem sich der Druckbuchstabe völlig vom Material gelöst hat und nur noch Form ist, wurde er allgemein verfügbar“ hätte wahrhaftig auch einen Eintrag in einem Sudelbuch verdient.

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    • Jede Druckerei hatte in ihrem Bestand an Schriften auch eine Schreibmaschinenschrift, um genau dieses Gefälle zu türken. Manche Kunden ließen sich einen Briefbogen drucken mit einem Werbetext in Schreibmaschinenschrift und einer in blau gedruckten Unterschrift, um den Eindruck zu erzeugen, die Wurfsendung wäre ein persönlicher Brief. Ein Anbieter auf Bütten gedruckter Mädchenakte, die lithografisch verfremdet waren, hatte beispielsweise Adressen der Kaufkraftgruppe I gekauft (Ärzte, Rechtsanwälte usw.) In seinem Auftrag setzte ich in Schreibmaschinenschrift: „Aus Ihrem Bekanntenkreis erhielten wir einen Hinweis auf Ihr Kunstinteresse …“

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  2. Pingback: Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 10) Mediale Revolution

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