Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 6) Die unendliche Setzerei

Folge 1 Antikes Geschrei
Folge 2 Lesen wie Bienensummen
Folge 3 Faustischer Buchdruck
Folge 4 Fraktur versus Antiqua
Folge 5 Aufstieg und Abschaffung der Fraktur

Eine Handsetzerei der bis in die 1970-er Jahre währenden Bleizeit war in Regalgassen gegliedert. In jeder Gasse konnten zwei Schriftsetzer mit dem Rücken zueinander arbeiten. Sie hatten darin Zugriff auf die Lettern verschiedener Schriftcharaktere in verschiedenen Größen und Stärken. Die Lettern wurden in schmalen Schubfächern, den Setzkästen, aufbewahrt, die wiederum untereinander in tischhohen Regalen untergebracht waren. Ein Paar, das in einer Gasse arbeitet, hieß in der Druckersprache „Arschgespann.“

Handsetzerei und Arschgespann aus: Bruckmanns Handbuch der Drucktechnik

Für die Unmenge an Schriften verschiedenen Charakters, unterschiedlicher Stärke und Größe, über die ein heutiger Computernutzer verfügt, hätte man in der Bleizeit einen Setzereisaal benötigt, so groß, dass in der zentralen Gasse schon ganz leicht die Erdkrümmung wahrzunehmen gewesen wäre. Diese Vorstellung beflügelt schon lange meine Phantasie. Wie du aber in der Regel allein am Computer sitzt, so stündest du in diesem Saal voller Setzkästen in unüberschaubarer Fülle von Schriften völlig allein, wärst nicht Teil eines Arschgespanns, könntest niemanden fragen. Wie lässt sich ein Überblick gewinnen? Der Setzereisaal ließe sich in Stadtviertel einteilen. Das Viertel der Frakturschriften lassen wir diesmal links liegen, obwohl sie heutzutage für konservatives oder rechtes Gedankengut stehen. Warum die Fraktur aus dem Gebrauch kam, ist in Folge 5 behandelt. Bevor wir uns den Antiquaschriften zuwenden noch ein Wort zum Verbot der Fraktur durch die Nationalsozialisten. Ein derartiger Kulturbruch lässt sich nur in Diktaturen durchsetzen. In einer Demokratie würde sich eine heiße Diskussion erheben vergleichbar der um die Orthographiereform. Nur wenige würden sich die Fraktur verbieten lassen. Mag sein, dass die Fraktur allmählich aus der Mode gekommen wäre, aber viele würden sie heute noch nutzen, könnten sie flüssig lesen und ihre handschriftliche Form, die Kurrent, schreiben. Wie konnte es geschehen, dass das Frakturverbot klaglos akzeptiert wurde, auch von Fachleuten? Das Verbot kam zwar für die Öffentlichkeit überraschend, in Fachkreisen war es aber argumentativ vorbereitet worden. Im einflussreichen Gutenberg-Jahrbuch waren 1939 und 1940 schon Aufsätze erschienen, in denen einerseits bestritten wurde, dass die Fraktur eine deutsche Schrift wäre, andererseits hervorgehoben wurde, dass die Antiqua in Rom zuerst von den deutschen Druckern Sweynheim und Pannartz gedruckt worden war. Da die dubiose Nazi-Organisation „Ahnenerbe“ gleichzeitig von der Runenforschung den irrigen Beweis erzwungen hatte, dass das griechische und das lateinische Alphabet von den nordischen Runen abstammte, konnte man die Antiqua zur „Normalschrift“ erheben.

Schon 1937 hatte der Buchwissenschaftler Ernst Roselius behauptet, die Fraktur sei schädlich für die Augen: „Nichts zeigt besser die Notwendigkeit der Augenhygiene in der Schrift als die Tatsache, daß die Kurzsichtigkeit unter den schwedischen Schulkindern bedeutend abnahm, als man vor wenigen Jahren die verschnörkelte Fraktur durch die klare Antiqua ersetzte.“

Schauen wir uns die Antiqua an. Sie liegt in den ältesten Gassen unserer Setzerei, quasi in der Altstadt. Wir befinden uns in der Renaissance. Die Renaissance-Antiqua zeichnet sich durch ihre Serifen aus, mit denen sie an die römische Monumentalschrift CAPITALIS erinnert. In der Abbildung zeigt Albrecht Dürer, wie sich die Serifen mit einem Zirkel konstruieren lassen. Die Serifen der Capitalis sind aber nicht mit dem Zirkel entstanden, wie die Konstruktionszeichnung nahelegt. Zur Erinnerung: Die Capitalis monumentalis wurde in Stein gemeißelt. Die römischen Steinmetze haben die Buchstaben mit dem Flachpinsel vorgeschrieben. Die Serifen sind entstanden, wo der Pinselstrich an- oder abgesetzt worden war. In der Druckschrift sind sie also funktionslos. Dürers Rekonstruktion zeigt, dass die Serifen in der Antiquaschrift zu einem ästhetischen Element geworden sind. Die Untersuchungen von Stanley Morison bei der Entwicklung der Times New Roman haben allerdings gezeigt, dass die Serifen den Leseprozess begünstigen, also jetzt die neue Funktion haben, das Schriftbild zu vereinheitlichen.

Als am Anfang des 19. Jahrhunderts Schriften ohne Serifen geschaffen wurde, empfand man diese nackte Skelettform als grotesk. Entsprechend heißen serifenlose Schriften im deutschen Sprachraum „Grotesk“, fachsprachlich „serifenlose Linearantiqua.“
Die bekannteste Groteskschrift ist die 1927 von Paul Renner geschaffene Futura. Sie begegnet uns oft in der Werbung. Auch das seit 2015 von Google verwendete Logo in der neu geschaffenen Product Sans basiert auf der Futura. Durch das Windows-Textverarbeitungsprogramm Word wurde die Groteskschrift Arial weltweit bekannt. Sie ist eine ausdrücklich für die Bildschirmdarstellung geschaffene Adaption der bekannten Druck-Grotesk Helvetica. Die Schweizer Schriftschöpfer Adrian Frutiger hat die Varianten der bekanntesten Groteskschriften verglichen und auf dieser Basis seine klar lesbare Univers entworfen.
Groteskschriften wie auch die unter Computernutzern beliebte Verdana eignen sich für die Bildschirmdarstellung besser als Renaissance-Antiqua mit ihren feinen Serifen, obwohl sich das Problem bei modernen hochauflösenden Bildschirmen nicht mehr stellt.

Die Grotesk finden wir auch auf Verkehrsschildern. Die Schrift ist in Deutschland wie zu erwarten in einer DIN -Vorschrift genormt. DIN-1451-Schriften finden wir überall, wo nützliche Informationen möglichst nüchtern zu lesen sein sollten, neben den Verkehrs- und Hinweisschildern auf Hydranten, sogar auf Schraubenschlüsseln.

DIN 1451 – verschiedene Breiten

Die Aufschriften aus dem Bereich der Bahn zeigen, dass auch in der nüchternen Normschrift ungewollte Nebenbedeutungen mitschwingen können. Wir sehen, wie Raucher sich breitmachen können, Nichtraucher müssen zusammenrücken und Körperbehinderte sich ganz dünn machen. Über das Thema Nebenbedeutungen von Schriften demnächst mehr – im übernächsten und – puh! – letzten Beitrag der Reihe voraussichtlich am kommenden Sonntag.

Im 19. Jahrhundert ist eine weitere Schriftgruppe entstanden, die serifenbetonte Linearantiqua, kurz „Egyptienne.“ Obwohl sie als Reklameschrift gedacht war, finden wir sie vor allem bei der Schreibmaschinenschrift. Weil dort aus mechanischen Gründen alle Buchstaben gleich breit sein müssen, verhindern die betonten Serifen auch bei schmalen Buchstaben dass in Wörtern disfunktionale Löcher erscheinen. Zum Vergleich habe ich in einer Phase des Gifs die Serifen getilgt.

Schauen wir uns nochmal um in unserer kosmischen Setzerei. Wir haben hier die ausgemusterten Fraktur, dort die Renaissance-Antiqua mit ihren Varianten, daneben die serifenlose Grotesk und die serifenbetonte Egyptienne. Warum setzen sich die Regalgassen aber noch weiter fort? Was liegt da hinter der Erdkrümmung noch alles? Weil ursprüngliche alle Schriftcharaktere von der Handschrift und der Auseinandersetzung zwischen Gestaltungswillen und Material geprägt waren, finden wir unter den Druckschriften auch idealisierte Handschriften, sogenannte Schreibschriften. Daneben Zier- oder Auszeichnungsschriften. Sie eignen sich nicht für längere Texte.

Weil es so viele Auszeichnungsschriften gibt, können wir uns nicht alle ansehen. Unser kosmischer Setzereisaal wird noch immer erweitert. Die Werbewirtschaft verlangt ständig neue Schriften, um Aufmerksamkeit für beworbene Produkte zu sichern. Beständig wandeln Schriftentwerfer den Formenkanon der Alphabetschrift ab. Wozu? Druckschrift ist uniform. Doch gerade das reizt zu Neuschöpfungen. Das Individuelle der Handschrift soll sich auch im unverwechselbaren Charakter der technischen Schrift finden.

Mehr in der Neuerscheinung „Buchkultur im Abendrot“

17 Kommentare zu “Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 6) Die unendliche Setzerei

  1. ich finde Deine Beiträge sehr interessant, lieber Jules. Einer meiner nächsten Beiträge wird einen Font beschreiben, den eventuell nicht einmal Du kennst 😉 Liebe Grüße, Ann

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    • Der Anteil der Frakturdrucke war zum Beginn des 20. Jh. auf etwa 5 Prozent abgesunken. Stieg jedoch unter dem Einfluss nationalistischer Strömungen in den 1930-er Jahre auf 50 Prozent. Die wichtigsten Bücher der Deutschen, die Bibel und der Duden erschienen in Fraktur, in den Schulen wurde Kurrent, die Handschrift der Fraktur, gelehrt, heute bekannt als Sütterlin. Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten stieg die Begeisterung für die Fraktur. Die Fraktur sei deutsche Eigenart, wurde nicht nur vom eifrigen Bund für deutsche Schrift propagiert. Darum muss der Kulturbruch durch das Verbot der Fraktur im Jahr 1941 ziemlich heftig gewesen sein. Freilich hatten die meisten Menschen seit Kriegsbeginn 1939 andere Sorgen.

      Der Bund für deutsche Schrift wurde 1941 ebenfalls verboten, aber besteht noch heute.

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  2. Der Gedanke mit dem gigantischen Setzereisaal ist interessant, das gäbe eine schöne Karikatur :-). Und gleichzeitig ist das unglaublich beängstigend, mit welchen „Verdichtungen“ in der digitalen Welt die analogen Dinge in kleine Computer gepackt werden. Und es geht ja weiter, für die Menschen wird es vordergründig einfacher, tatsächlich aber auch oft komplizierter im Umgang damit. Wobei es einem andererseits aber schon völlig irrational und extrem aufwändig vorkommt, dass es gerade mal knapp 50 Jahre her ist, dass Texte mit Bleibuchstaben entstanden sind. Hast Du ein Kapitel über proportionale und nicht porportionale Schriften geplant, oder hab ich das vllt. überlesen? :-O VG Willi

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    • Dieses halbe Jahrhundert hatte es in sich. Die Denokratisierung der Druckschrift begann auch in den 1970-er Jahren mit den Anreibschriften von Letraset.
      https://de.wikipedia.org/wiki/Letraset
      Doch spätestens mit dem Atari ST (1985) konnte jeder auf True-type-Schriften zugreifen und professionell am Bildschirm gestalten. Die nicht proportionale Schrift der Schreibmaschine habe ich nur nebenher erwähnt beim Abschnitt über die serifenbetonte Linearantiqua. Die Maschinenlesbaren Schriften OCR-A und die von Adrian Frutiger entwickelte OCR-B sind natürlich auch nichtproportional wie die Schrift im alten WordPress-Editor, den ich noch immer gerne nutze.
      Beste Grüße,
      Jules

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  3. Wiedermal spannende Details, etwa die Entstehung der Serife aus den Unzulänglichkeiten des Pinselstrichs! Und es zeigt sich auch hier, dass beim Übergang in ein neues Medium / eine neue Technik die Menschen mitgenommen werden müssen. Bei der Gestaltung der ersten beweglichen Lettern orientierte man sich, wie Du ja auch erwähntes, am Erscheinungsbild der Handschrift, man versuchte also, die Anmutung handgeschriebener Texte beizubehalten. So war das auch vor nicht allzu langer Zeit im Bereich der Musik, als analoge Synthesizer in der digitalen Welt emuliert wurden. Diese waren große Kästen mit großen, sehr ergonomisch handhabbaren Drehknöpfen. Bei den Digitalen Nachfolgern musste man dann mit der Maus überaus umständlich das Bild dieser Drehknöpfe auf dem Monitor „anfassen“, was zum Schreien unpraktisch war, aber eben der alte analoge Optik geschuldet war. Und ich bin mir sicher, wenn das sich jetzt schon verbreitende betreute Autofahren dereinst durchs automatisierte Autofahren abgelöst wird, werden die Autos noch eine ganze Zeit lang Lenkräder haben.

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    • Nicht nur bei den Medien greifen die Neuerungen zunächst alte Formen auf, um die Menschen mitzunehmen, wie du treffend gesagt hast . Schön, wie du die Perspektive erweiterst. Mir fällt dazu ein, dass die ersten Eisenbahnwaggons wie aneinandergehängte Kutschen ausssahen,in England noch lange ohne Verbindung zueinander waren. Und auch die ersten Autos konnten ihre Abkunft von Kutschen nicht verbergen. Oft steckt die alte Form noch lange Zeit in der neuen, bis jemand merkt, dass der Formenballast aus vergangener Zeit verzichtbar ist.

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  4. Pingback: Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 7) Kanonen der Form

  5. Pingback: Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 8) Typografisches Messen

  6. Unsereiner wählt seine Schriftart nach Gefühl und Wellenschlag, hält Serifen für irgendwas mit religiöser Bedeutung – und stellt beim Lesen deines Textes fest, genau das stimmt so auch. Das ist doch grotesk.
    Deine kleine Reihe bestätigt mir wieder einmal, dass es so viel gibt, was sich zu wissen lohnt, ohne dass man es wissen müsste. Genau das ist meine Baustelle, weg von der puren Verwertbarkeit, hin zum… ja, was eigentlich? Vielleicht verstehen, einordnen können, verknüpfen.

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    • Das wirft die Frage auf, wozu die Reihe über Typografie eigentlich gut ist. Bedingt durch die technische Entwicklung ist uns quasi über Nacht ein Arbeitsmittel in den Schoß gefallen, das wir nach Belieben nutzen können. Mir liegt daran zu zeigen, in welcher kulturellen Tradition wir stehen, wenn wir unsere Gedanken publizieren und ihnen Wucht verleihen, indem wir sie in technische Schrift einkleiden. Wenn daraus ein bewussterer Umgang mit unserem Ausdrucksmittel folgt, ist schon viel gewonnen – getreu dem Spruch von Egon Friedell: „Kultur ist Reichtum an Problemen.“

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  7. Pingback: Die Kulturgeschichte der Typografie in einer Nussschale 10) Mediale Revolution

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