Meister der Falschnehmung

.Kategorie MedienWie mein Blick aus dem Fenster fällt, sehe ich, dass die große Fichte mächtig hin und hergezaust wird. Selbst die kahlen Bäume neigen sich im Wind. Der Wind rast. Er schüttelt die Bäume aus dem Winterschlaf. Auf Kölsch heißt das: „Dä Wenk is am rose.“ Das kölsche Wort „rose“ bedeutet „rasen“, „toben“. Es wird mit langem O gesprochen wie in Tor. Dieses „Rosen“ gab dem Rosenmontag den Namen. Ihn mit einer Blume gleichzusetzen und in Analogie vom Veilchendienstag zu sprechen, ist demnach Volksetymologie. Volksetymologie beruht auf falschen Zuweisungen, Irrtümern, erfundenen Analogien. Auf diese Weise treibt sie den Sprachwandel voran und nährt eine lebendige Sprache. Sprachwandel vollzieht sich als Strömung und ist vom einzelnen Besserwisser nicht aufzuhalten, wie am Beispiel halbschwarz zu sehen.

falschnehmer2In der Volksetymologie spiegelt sich die Bereitschaft des Menschen, irgendwas zu glauben. Wir gehen nicht mit einem permanenten Wahrheitsanspruch durch die Welt. Was wir glauben, wie die Dinge sind und wie sie sich verhalten, muss nur plausibel sein. Plausibilität nah an der Wahrheit ist erforderlich, wo unser unmittelbares Handeln davon abhängt. Darüber hinaus ist Wahrheit nicht von Interesse. Es reicht das Ungefähr. Solange man einen Ort nicht bereisen will, reicht eine ungefähre Idee, wo er sich befindet. Störend ist eigentlich nur das Ungefähr anderer, vorausgesetzt, man weiß es besser.

Sachliche Richtigkeit ist eine Erscheinungsform der Schrift. Erst wenn ein Sachverhalt aufgeschrieben ist, kann er überprüft werden. Demgemäß verlangsamt sich der Sprachwandel, sobald der Wortschatz einer Sprache aufgeschrieben ist. Erst dann kann jemand in seiner Sprache Fehler machen.

Der rasche Zugriff auf digitale Lexika verändert unsere Gesprächskultur. Was früher im launigen Kreis am Biertisch oder beim Kaffeekränzchen im vermuteten Hörensagen übermittelt wurde, wird per Smartphone zeitnah überprüfbar. Was leichthin gesagt wurde, kann als falsch enttarnt und richtig gestellt werden, wodurch sich der Wahrheitsanspruch des Schriftlichen auf das Mündliche überträgt. Die Grenze zwischen Mündlich und Schriftlich verwischt nicht nur dort, umgekehrt nähert sich im Chat, in Foren und im [Micro-]Blogging das Schriftliche immer mehr dem Mündlichen, bedingt durch die zeitnahe wechselseitige Kommunikation und das situative, zeitgebundene Schreiben aus der eigenen Stube. Weil wir in diesen Bereichen die technische Schrift benutzen, die aus der Buchkultur die Aura der überindividuellen Objektivität besitzt, wird der Wahrheitsanspruch auch dort gestellt. Das Ungefähr des Miteinander Redens wird zur aufgeschriebenen Fake News. Wer die Schriftlichkeit der Buchkultur mit der verschriftlichen Mündlichkeit, der Pseudoschriftlichkeit des Internets, verwechselt, schwafelt dann von „postfaktisch“. Das musste mal in Ruhe aufgeschrieben werden, derweil man in Karnevalshochburgen noch den Veilchendienstag feiert und am rose ist.

Arcade Fire – Intervention

24 Kommentare zu “Meister der Falschnehmung

  1. Das Ergebnis ist ein seltsames Hin- und Hergerissensein zwischen der Genauigkeit der gegoogelten Information und der Unmöglichkeit, jede Nachricht und jede Information so zu prüfen. Ein Millimeter Genauigkeit auf einen Kilometer Ungewissheit.

    Gefällt 3 Personen

    • „Ein Millimeter Genauigkeit auf einen Kilometer Ungewissheit“, ist treffend gesagt. Vor dem Internet waren wir zufrieden mit wenigen Millimetern Gewissheit. Ich glaube, das Enzyklopädische ist eine Idee der Romantik. Letztlich wird die Entscheidung für Genauigkeit jedem von seinen Lebensumständen diktiert. Wo wir frei sind, liegt die Kunst im Auswählen des Wissenswerten.

      Like

  2. Dein Text, lieber Jules, passt zu einem Gespräch das ich gestern mit meinem Vater führte. Er nahm mich mit aus der Stadt und wir stiegen in einem nahen Wald auf einen Aussichtsturm, damit mein Kreislauf endlich wieder in Schwung kommt. Mittig war – vermutlich für Kinder – ein Täfelchen mit allerlei Fragen zum Wald angebracht. Unter anderem die Frage wie weit der Wipfel einer Fichte bei starkem Sturm schwingen kann. Die Antwort war nicht dort, sondern unten angebracht. So überlegten wir beim hochsteigen, verwarfen oben und revidierten beim runtergehen anhand der vielen Gewitter, die wir auf unserer Hütten schon erlebt hatten und dort die Bäume bedrohlich schwanken sahen. Es ist nicht genau das, worüber du geschrieben hast, aber ich währe gestern nicht einmal auf die Idee gekommen mittels Handy nachzusehen. Viel interessanter war es zu überlegen. Es sind bei 36 Meter Baumhöhe übrigens 12 Meter.
    Selbst wenn wir die Antwort unten nicht gelesen hätten, das Überlegen war wesentlich kommunikativer als ein nachschlagen. Verfügbares Wissen ist ein Segen. Aber man muss nicht alles und vor allem nicht sofort wissen.

    Gefällt 4 Personen

    • Ich beobachte es auch bei einem ansonsten geschätzten Freund, der, kaum, dass sich eine Frage über irgend etwas ergibt, reflexartig sein Smartphone zückt und nach der „Lösung“ sucht. Mich stört das. Es nimmt uns den Spaß an der, wie Mitzi schreibt, kommunikativen Möglichkeit des Nachdenkens oder Erratens. Ich bin auch der Überzeugung, dass dieses rasch ergoogelte „Wissen“ flüchtig und nicht nachhaltig ist.
      Bei „halbschwarz“, lieber Jules, fällt mir spontan „aprilfrisch“ ein.
      Liebe Grüße!

      Gefällt 2 Personen

      • Die Neigung, alles gleich nachzuschlagen, beobachte ich auch in Gesprächssituationen, und ich gebe zu, dass ich in unserer Vogelfrei-Runde Herrn Leisetöne schon mal aufgefordert habe, einen Sachverhalt zu googeln. Ich selbst komme fast nie in die Verlegenheit, weil ich das Smartphone meistens zu Hause lasse. Du hast Recht, lieber Lo, die rasch ergoogelten Fakten sind flüchtig. Buchwissen habe ich oft räumlich gespeichert, weiß also noch, wo etwas auf einer Seite gedruckt stand. Auch das händische Aufschreiben ist nachhaltiger als das Tippen. Oft kann ich mich nicht erinnern, etwas zu einem Thema geschrieben zu haben, was freilich auch an der Menge der über 2000 Texte in meinen Blogs liegt.Der Eintrag zu „halbschwarz“ [link] zeigt meinen vergeblichen Versuch, gegen eine volksetymologische Entwicklung anzukommen.
        Lieben Gruß!

        Gefällt 1 Person

        • Siehste? Das mit der „Flüchtigkeit“.
          Beim Anklicken Deines „halbschwarz“-Links habe ich dann bemerkt, dass ich auch einen Kommentar beigetragen habe, an den ich mich nicht mehr erinnerte.
          Bei Bloggerfreund NÖMIX, der gern auch ältere Beitrage bei Twoday wieder einstellt, finde ich sogar Reime von mir, an die ich keine Erinnerung mehr hatte.
          Von Hand Geschriebenes „hält“ sich länger im Hirn 🙂
          Liebe Grüße!

          Gefällt 1 Person

          • Geht mir bei Noemix genauso. Ist eine interessante Erfahrung, sich selbst auf diese Weise wiederzubegegnen.. Ich erinnere mich noch an Zeiten, da ich wegen einer einzigen Information zur Bibliothek gefahren bin, dort wer weiß wie viele Bücher durchgestöbert habe, manchmal was ganz anderes fand. Vermutlich ist der körperliche Aufwand Teil des Merkprozesses.

            Gefällt 1 Person

            • Ja, denn dann weiss man genau, wann, wo, und wie man an die Information gekommen ist.
              Mir ergeht es ähnlich beim Radiohören im Auto: an bestimmten Kreuzungen oder Plätzen kommt mir plötzlich in den Sinn, was ich irgendwann einmal genau an der Kreuzung im Radio gehört habe.
              Ooops: Wir verlassen immer mehr Dein Thema 😉

              Gefällt 1 Person

  3. Das wusste ich noch nicht, dass der Rosenmontag vom Rasen kommt, lieben Dank! Die Sprache ist das sensibelste Instrument, das ich kenne und eine lebendige Sprache bewegt sich, ist veränderlich. Wörter verändern ihre Werte. Und schön, wenn man dann erfährt wo ein Wort seine Wiege hat.
    Einen lieben Gruß zu Dir und sehr gern gelesen. Wunderbar geschrieben.

    Gefällt 1 Person

    • Die Bedeutung von Rosenmontag erschließt sich ja auch nicht, wenn man den Dialekt nicht kennt. Ich habe mich schon immer für Wortgeschichte begeistern können. Unabhängig von der sprachlichen Entwicklung mancher Wörter sind auch die kulturellen, ethnologischen Aspekte faszinierend.
      Lieben Gruß und danke für dein Lob!

      Gefällt 1 Person

  4. Meine Begeisterung für den Ursprung ging sogar so weit, dass ich so etwas studieren wollte. Leider war ich in Mathe kernbehindert, deswegen funktionierte das nicht richtig und ich muss jetzt autodidaktisch herumsuchen und herausfinden. Macht auch Spaß.
    Liebe Grüße✨

    Gefällt 1 Person

  5. Auf den unendlich vielen Kilometern Ungewissheit ist das Teestübchen Trithemius die Raststätte, an der man Erkennen, Verstehen und Wissen tanken kann.
    Das Teestübchen liegt nicht direkt an der Datenautobahn. Viele Raser verpassen die Ausfahrt, weil keine überdimensionalen Werbetafeln mit Junkfoodangeboten den Weg weisen.
    Wer aber hier rastet, der rostet nicht! Der Wortschatz wird aufpoliert und alle Angebote sind kostenlos und erfrischen die Reisenden. Nein, nicht ganz kostenlos, aber die Währung ist wie früher beim Tauschhandel und besteht aus Gedanken und Worten.

    Gefällt 4 Personen

    • Lieber Heinrich, Sie haben Manfred Voitas treffenden Vergleich kongenial weiterentwickelt und ein überaus artiges Lob daraus gestaltet. Ich danke Ihnen herzlich dafür. Oft gewinne ich Klarheit um Sachverhalte, wenn ich darüber schreibe. Dabei ist die Aussicht, verständige Leserinnen und Leser zu haben, zusätzlich motivierend. Tatsächlich nähren mich die Gedanken, wenn sie wie hier in den Kommentaren niedergeschrieben sind und über meinen Text hinausgehend treffende Beispiele und passende Bilder aufweisen. Das ist das Beste am Bloggen.

      Gefällt 2 Personen

  6. Ha, das ist doch der Hammer! Ich gucke da zig mal drauf und mein Hirn interpoliert mir das „-en“! Witzig. Ich sah das nicht. Aber Du hast natürlich auch „geübte“ Augen und Hirnareale für solche Dinge 😉

    Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..