Wenn das Umblättern zu lästig ist …

Kategorie MedienDie Frau neben mir im Wartebereich der Arztpraxis blättert in einer Illustrierten, liest nicht, blättert nur. Es spricht nicht unbedingt gegen das Magazin, denn sie ist ungeduldig. Eben erst hat sie die Arzthelferin gefragt, wie lange sie denn noch warten müsse. Sie habe noch woanders einen Termin. Sie blättert, damit die Wartezeit vergeht. Vermutlich hat sie den Kopf zu voll, um sich auf den Inhalt der Zeitschrift konzentrieren zu können. Mir gefällt ihre Situation, nicht nur, weil ich sie attraktiv finde und gerne neben ihr sitze. Ich bewundere, wie geschickt sie blättert.

Eben hatte ich eine aktuelle Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel in der Hand. Da wurde ich auch ungeduldig. Das Umblättern machte mich ungeduldig. Habe ich gerade eine Seite so weit befingert, dass ich sie umblättern kann, folgt eine protzige doppelseitige Autowerbung, der ich nur einen flüchtigen Blick gönnen mag, weil mich Autos nicht interessieren. Doppelseitige Anzeigen sind lästig. Sie erhöhen den Aufwand, der nötig ist, eine Zeitschrift zu lesen, um etwa ein Drittel.

Eine andere Frau leckt vor jedem Umblättern ihren Zeigefinger an. Zu ihrem Glück warten wir beim Kardiologen. Die Zeitschriften beim Allgemeinmediziner sind zu dieser Jahreszeit wahre Bazillenmutterschiffe. Obwohl keiner der Wartenden hustet oder schnieft, würde ich meine Finger nicht anlecken wollen, um den Spiegel zu lesen. Aber das Umblättern ist so mühsam, dass ich das Heft zurück auf den Heftstapel lege.

Verlagagshaus Der Spiegel

Verlagshaus Der Spiegel „Ericiusspitze“ – Foto: Dennis Siebert via Wikipedia – größer: Bitte klicken

Es gab eine Zeit in den 1980-er Jahren, da habe ich den Spiegel regelmäßig gekauft, um ihn zu lesen. Anzeigen haben mich auch damals schon gestört, aber ich habe sie in Kauf genommen, weil mir klar war, dass eine Spiegel-Ausgabe ohne Werbung schier unerschwinglich wäre. Alle Marktmacht, der gesellschaftspolitische Einfluss, das prächtige Verlagshochhaus Ericusspitze in der Hamburger Hafen-City, die üppigen Gehälter der Redakteure, die satten Gewinne der Anteilseigner, das, was den Spiegel über Jahrzehnte zum Leitmedium gemacht hat, beruht auf den ganz- und doppelseitigen Anzeigen. Ich habe sie immer schon überblättert. Aber es hat mir nicht soviel Mühe abverlangt wie heute. Ich bin blättertechnisch völlig aus der Übung, verfüge nicht mehr über eine dem Spiegel angemessene Lesetechnik.

Fertigkeiten, die der Mensch nicht trainiert, gehen verloren. Aber dass ich das Umblättern so lästig finde, dass ich darauf verzichte zu lesen und lieber meinen eigenen Gedanken nachhänge, hat viel mit mangelnder Hinwendung zu tun. Denn inzwischen steht mir die ganze Absurdität des werbefinanzierten Geschäftsmodells der Printmedien zu deutlich vor Augen. Was die Lohn- und Auftragsschreiber dieses Mediums Lesenswertes zu Papier bringen, wird entwertet durch die immer deutlicher werdende Tatsache, dass man korrumpiert ist, weil man sich längst auf die Seite der Anzeigenkunden, mithin der herrschenden Eliten geschlagen hat.  Ja, man sieht sich selbst als Teil der Eliten und kann vor lauter Dünkel und Hochmut nicht mehr klar denken. Sie nehmen nicht wahr, dass selbst die bestbezahlten Vertreter ihrer Zunft wie alle Lohnschreiber auch nur zu den Dienstboten gehören. Selbst das Polittheater, das sie uns wöchentlich auftischen, spielt in der Gesindestube. Die Herrschaften, die die Puppen tanzen lassen, bleiben unsichtbar.

Mit einem unklug „Agenda 2018“ genannten Sparprogramm, will der Spiegel dem permanenten Auflagenschwund begegnen. Das Durchschnittsalter der Spiegel-Leser liege  bei etwa 60 Jahren schreibt Welt.de. Aktuelle Zahlen dort. Im Forum wagt ein Leser die Prognose: „Die Print-Ausgabe wird das Schicksal ihrer derzeitigen Leser teilen und allmählich wegsterben.“ Für mich ist das Blatt längst tot.

24 Kommentare zu “Wenn das Umblättern zu lästig ist …

  1. Lieber Jules,
    zu Deinem Satz „Was die Lohn- und Auftragsschreiber dieses Mediums Lesenswertes zu Papier bringen, wird entwertet durch die immer deutlicher werdende Tatsache, dass man korrumpiert ist, weil man sich längst auf die Seite der Anzeigenkunden, mithin der herrschenden Eliten geschlagen hat, ja, selbst als Teil der Eliten sieht und vor lauter Dünkel und Hochmut nicht mehr klar denken kann und auch nicht wahrnimmt dass Lohnschreiber nur zu den Dienstboten gehören“ fällt mir, wie so oft, Adornos geschätzt 1000 Jahre altes und immer noch wahres Diktum ein, daß es kein richtiges Leben im falschen gibt.
    Darüber ließe sich endlos plaudern, aber das wäre auch keine Lösung.

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    • Liebe Dorothea,
      Adornos: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, ist erfreulich einprägsam. Das lässt sich guten Gewissens nicht sagen von dem Satzungetüm, das du aus meinem Text zitierst. Dadurch zeigst du mir, dass er dringend bearbeitet werden müsste.
      Ich bedauere, dass es für die Fehlkonstruktion Printmedium nachträglich keine Lösung gibt. Eine öffentlich-rechtliche Organisation wie beim Rundfunk hätte das Printmedien zwar unabhängig von der Werbewirtschaft gemacht, dafür um so abhängiger vom Gutdünken politischer Parteien. Und eine genossenschaftliche Organisation haben die Alliierten bewusst vermieden, als sie die Presselandschaft der jungen Bundesrepublik organisierten.Über die so nicht gewollte Einheitlichkeit des Pressemarktes und den Mainstreamjournalismus unserer Tage ließe sich auch endlos plaudern.

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  2. Oftmals lohnt sich das Blättern in den ausliegenden Medien in Arztpraxen gar nicht mehr. Überall sind Ecken oder große Fetzen, bzw ganze Seiten ausgerissen. Meistens mit Web Adressen um zuhause mit der Maus weiter blättern zu können.
    Zudem sind mir die Werbungen die wallendes Haar, strahlend weiße Zähne, perfekte Figur, …*Endlosliste*… vorgaukeln wenn man die Ratschläge der Werbung befolgt, völlig zuwider.

    Kleinlaut gebe ich zu dass der Spiegel nie meine Lieblingslektüre war. Doch dein werbefinanziertes Geschäftsmodell der Printmedien steht ja auch für andere Blätter.

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  3. Das Blättern der in Arztpraxen ausliegenden Medien lohnt sich ja kaum noch. Entweder fehlen Ecken, große Fetzen oder gar Seiten. Meist mit den Web Adressen mit der Absicht zuhause mit der Maus weiter blättern zu können.
    Zudem gaukeln sie dir auf jeder vierten Seite wallendes Haar, perfekte Figur, strahlend weiße Zähne, Geld, Liebe, Erfolg … *endlosliste* vor, wenn du nur die Ratschläge der Werbung befolgst. Das ist mir völlig zuwider.

    Zugegeben der Spiegel war nie meine Lieblingslektüre, doch dein werbefinanziertes Geschäftsmodell der Printmedien, steht ja auch für andere Blätter.

    Der stürmische Wind hier, pustet liebe Grüße zu dir 🙂

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    • Da ich die Lesezirkelhefte in Wartezimmern schon länger nicht mehr in die Hand nehme, ist mir das bislang nicht aufgefallen.

      Ja, kaum ein Printerzeugnis kann ohne Werbung bestehen. Deshalb krebst das Magazin Titanic schon immer dahin. Man bietet einfach kein anzeígenfreundliches Umfeld. Da reicht es nur für Kleinanzeigen.

      Grüße und Sturm sind angekommen. Vielen Dank!

      Und lieben Gruß zurück

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  4. Witzig, in den 80ern und frühen 90ern habe auch ich regelmäßig und gern den SPIEGEL gelesen.

    Der Titel „Stoppt Putin jetzt“ vor ein paar Jahren hat mir, obwohl ich das Blatt schon lange nicht mehr kaufe, zu denken gegeben. Mittlerweile bin ich von dem Käseblatt derart angewidert, dass mich selbst die kostenlose Online Version meist nach wenig gelesenen Sätzen zum Kotzen bringen würde, bräche ich das Lesen nicht rechtzeitig ab.
    Fazit: die Printvariante taugt heute journalistisch gesehen nicht mal als Scheißhauspapier …

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  5. Ich leiste mir (noch) den Luxus einer Printausgabe der Süddeutschen Zeitung. Ich mag einfach das Papier in den Händen, und liebe den Akt des Heraussreißens erinnerungswerter Artikel. Hochglanzpapier fand ich dagegen (haptisch) immer schon unangenehm und mied folglich Druckerzeugnisse dieser Machart. Der von Dir in wünschenswerter Deutlichkeit beschriebene Niedergang unserer Presse trifft absolut auch auf die SZ zu, und jedesmal wenn wieder eine Hochglanzbeilage aus der Zeitung purzelt und ich sie vom Boden auflese, nur um sie der unverzüglichen Entsorgung zuzuführen, bringt mich der Ärger der Kündigung des Abos ein Stück näher.

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    • Verstehe ich gut. Zwei Jahrzehnte habe ich die Süddeutsche gelesen und Artikel ausgeschnitten. Diese Anhänglichkeit und das Vertrauen hat man bei der SZ und anderswo leider verspielt.Heute interessiert mich nicht mal mehr der Online-Auftritt so sehr, dass ich bereit wäre, den Adblocker zu deaktivieren.

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    • Ich weiß nicht genau, an welche Stelle du denken muss, doch ich vermute, es läuft darauf hinaus, was in diesem Selbstzitat in einem Dialog zwischen Coster und Trithemius vorkommt: :
      „Wusstest du, dass das Umwenden der Seiten in Tibet als wesentlicher Bestandteil des rituellen Lesens gilt? Die Tätigkeit ist ein Teil der Verbalisierung.“
      Coster verstummte und sah wieder hinaus. Dann sagte er leise: „Bei Rudolf Arnheim habe ich schöne Verse von der amerikanischen Dichterin Denise Leverton gefunden:

      And as you read
      The sea is turning its dark pages,
      Turning
      Its dark pages. […]“

      aus: http://trithemius.de/2011/11/17/mal-etwas-gutes-uber-den-herbst/

      Hier zeigt sich auch ein deutlicher UNterschied zum Blättern in einer Illustrierten.

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      • Eigentlich dachte ich an den alten, blinden Mönch, der die Seiten des Buches von Aristoteles mit Gift versehen hat. Zum Umblättern der Seiten hatten die Mönche immer ihre Finger angefeuchtet und dann zur nächsten Seite geblättert. Hierdurch nahmen sie das Gift in sich auf und starben. Das Gift an den Seiten sollte verhindern, dass der Inhalt des Buches sich verbreitete. Daran musste ich denken, als ich deine Zeilen „[…] Eine andere Frau leckt vor jedem Umblättern ihren Zeigefinger an. Zu ihrem Glück warten wir beim Kardiologen. Die Zeitschriften beim Allgemeinmediziner sind zu dieser Jahreszeit wahre Bazillenmutterschiffe […]“ las.

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