Straße der Kindheit (6) – Schnee – Ein Interview

Blick in die erste Bruchstraße

Blick in die erste Bruchstraße

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Obwohl Melzer kaum mit euch sprach, verdankst du ihm die besten Rodelfahrten deines Lebens?

Mindestens, was die Bruchstraße betrifft. Wenn Schnee gefallen war und die Bruchstraße eine geschlossene Schneedecke hatte, entdeckte Melzer sein Herz für Kinder. Irgendwann am Tag fuhr er seinen Deutz-Traktor auf die Straße, band Rosies Schlitten an die Anhängerkupplung und hängte den von Georg, Rosies kleinem Bruder, hinter Rosies Schlitten. Im Nu strömten alle Kinder mit ihren Schlitten herbei und banden sie hintereinander. Und los ging die wilde Schlittenfahrt. Bauer Melzer gab Gas, ein Ruck, und die Schlittenreihe setzte sich in Bewegung. Das ging gut, bis zur Kreuzung oben. Da war der Schnee noch von den Reifen der Traktoren festgefahren, und die Schlitten holperten hurtig über die vereiste Piste, dass man Mühe hatte, sich festzuhalten. Doch spätestens, wo die Straße in die Winterlandschaft des Hohlwegs eintauchte, lag Tiefschnee. Und spätestens hier, kippte einer mit seinem Schlitten um, und das Schlittengespann riss auseinander. Die Kindermeute schrie „Halt!“, und wenn dann wieder alles gerichtet war, wurde „Schnee fassen!“ gerufen, und jeder nahm zur Stärkung eine Handvoll Schnee in den Mund.

Ihr habt auf Kommando Schnee gelutscht?

Warum nicht? Der Schnee lag in der Bruchstraße ganz unberührt. Niemand dachte daran, er könnte schmutzig sein. Es war fast ein Ritual, sich Schnee in den Mund zu stecken, bevor die wilde Rodelfahrt weiter ging hinter dem Trecker von Bauer Melzer. Weiter, immer weiter die tief verschneite erste Bruchstraße lang. Bis zu ihrem Ende. Spätestens da, wo ein alter Rheinarm ein weites Tal hinterlassen hatte, drehte Melzer.

Da war doch das Springreiten gewesen, das du als Winzling erlebt hast. Aber es gab dahinter noch die zweite Bruchstraße. Warum drehte Melzer vorher ab?

Bis zur zweiten Bruchstraße kamen wir nie. Vermutlich war Melzer genervt, weil die Seilzüge zwischen den Schlitten immer öfter rissen. An einigen Schlitten waren das ja nur Schnüre. Die konnten die Last nicht halten, wenn mehrere Schlitten hinter ihnen hingen. Ich war auch froh, wenn es wieder heimwärts ging, denn meistens war ich schon ganz durchgefroren. In diesem Jahr war es wirklich kalt und wir hatten viel Schnee. Das Unglück wollte es, dass ich genau dann in Erholung fahren musste.

Wie bist du hingekommen?

Mit dem Zug. Ich war noch nie alleine Zug gefahren. Das war alles beängstigend. Ich musste am Kölner Hauptbahnhof in einen Sonderzug umsteigen. Der war voller Kinder und brachte uns nach Bonndorf im Schwarzwald. Du liebe Zeit – lag da Schnee! Der Weg vom Bahnhof ins Heim war freigeschaufelt, aber links und rechts die Schneewände waren sicher über zwei Meter hoch.

Hat es dir im Heim gefallen?

Was denken Sie? Es war sechs Wochen Kinderknast mit strenger Zucht und Ordnung, Drohungen und Verhören im Schwesternzimmer beim kleinsten Vergehen. Wir mussten ein Lied lernen. An den Refrain erinnere ich mich: „Im Paradies der Kinder – ‚Waldfriede‘ wird’s genannt.“ In so ein Paradies würde keiner freiwillig wollen, Herr Trittenheim. Stellen Sie sich eine Flasche gefüllt mit Jauche vor. Aber auf dem Etikett steht „Köstlicher Apfelsaft – naturtrüb.“ Sie müssten die Jauche trinken und singen, „schmeckt wie im Paradies, juchhe!“

Ganz so schlimm wird es nicht gewesen sein. Wenn man die Verantwortung für hunderte Kinder aus allen Regionen Deutschlands hat, ist eine strenge Ordnung notwendig. Gabs nichts Schönes?

Doch, wir waren täglich draußen im Schnee. Und ich lernte richtig zu rodeln. Die Abfahrt war ein gewundener Weg durch den verschneiten Wald, mindestens zwei Kilometer lang wie die erste Bruchstraße, aber viel steiler. Das war was anderes als hinter dem Trecker von Bauer Melzer angebunden zu sein. Doch ich hatte meinen Koffer noch nicht und keine Sachen zum Wechseln. Meine Mutter hatte meinen Koffer bei uns am Bahnhof aufgegeben und vergessen, mir den Gepäckschein mitzugeben. Ich musste eine Woche lang jeden Tag die nassen Sachen vom Vortag anziehen, bis mein Koffer endlich eintraf.

Dann lag es gar nicht am fehlenden Gepäckschein?

Weiß ich nicht. Vielleicht hatten die schlafmützigen Beamten an unserem kleinen Bahnhof was falsch gemacht. Ich erinnere mich an eine Nachtwanderung durch den verschneiten Wald. Ich hatte meine nassen Sachen an und fror unglaublich. Auf einer Lichtung sah ich mir die Silhouette der Fichten vor dem Mondlicht an und versuchte mir das Bild einzuprägen, weil ich dachte, das will ich als Bild meines Unglücks behalten. Ich bin nie zuvor so unglücklich gewesen.

Du warst nass, durchgefroren und hattest vermutlich Heimweh.

Zum Glück lernte ich Klaus Remy kennen. Dieser ungewöhnliche Junge war mir schon bald aufgefallen, weil er so seltsam sprach, irgendwie zierlich, mit einem Singsang in der Stimme, der fast fremdländisch klang. Er kam aus Aachen.

Wusstest du, wo Aachen war?

Eine Stadt irgendwo im Westen. Klaus und ich waren fast immer zusammen, bis sich eines Tages seine Augen entzündeten. Es wurde und wurde nicht besser. Die Schwestern hatten Angst, er würde erblinden, weshalb sie einen Termin in der Augenklinik  machten. Zum letzten Mal sah ich Klaus Remy am Morgen, bevor er mit einer der Schwestern in die Stadt fahren sollte. Er machte sich Sorgen.

Wegen seiner Augen?

Nein, er sagte: „Ich bin gespannt, wer wohl ein Gespräch anfangen wird, wenn ich mit Schwester Hildegard im Bus sitze.“

Ich meine, Herr Trittenheim, er drohte zu erblinden und machte sich Gedanken, wer im Bus ein Gespräch anfängt? Auf so eine Idee wäre ich nicht mal gekommen. Bei uns zu Hause hatten Kinder nur was zu sagen, wenn sie gefragt würden. Durch Klaus Remy wurde mir klar, wie grob und bäuerlich meine Welt war. Er war so gewandt auf eine liebenswürdige Weise. Es gibt ein Fremdwort dafür? Es fängt mit K an.

Konziliant?

Ja, genau! Konzilant!

„-liant“, Hannes! Wir machen Schluss für heute. Darf ich morgen wiederkommen?

Wenn die Nonnen Sie lassen. Ich muss ja hier noch eine Weile liegen.

Fortsetzung

11 Kommentare zu “Straße der Kindheit (6) – Schnee – Ein Interview

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  2. …hier auf den Dörfern siehst Du öfters ein Rudel Kinder auf Schlitten hinter Treckern. Ich hab das nie erlebt, war immer im Wald rodeln. Über einen Kilometer rasant bergab: das hat was. Einmal landete ich mit meinem Deutschlehrer und meiner Französischlehrerin an der Schwedenschanze in einem Bach. Nasse Sachen bei dieser Kälte. Der arme kleine Schwarzwaldkerl. Du hattest Glück mit Deinem gutmütigen Körper. Das hätte auch anders enden können. Doch als Kind denkt man über sowas nicht nach, sondern ist Kind und dann kommt so eine Verletzlichkeit bei einem anderen Kind nah heran. Was nützt da die schönste Sprache, die liebenswürdigste Erziehung?
    Fein weitererzählt von Dir…✨

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    • Hätte ich nicht gedacht. Beim Kollegen Nömix sah ich mal ein historisches Foto mit Schlittenrudel hinter einem Seitenwagengespann und dachte, das sind versunkene Zeiten. Aber schön, wenn man es noch macht. Ist die Schwedenschanze nahe Bielefeld? Dort gibt es stattliche Hügel wie ich bei meiner Radtour nach Aachen durch Bielefeld gesehen habe. Rodeln mit Lehrern ist gewiss hübsch, wenn sie auch in einem Bach landen können. Das entzaubert sie. 😉 Mir fiel bei Klaus Remy ein Zitat von Egon Friedell ein: „Kultur ist Reichtum an Problemen“, konnte es nur im Text nicht unterbringen.

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      • Och, hier im Teuto gibt es noch vieles von Bestand, nicht nur Wald und Hügel. Der höchste ist 320 Meterchen hoch, da strampelt man schon ganz ordentlich. Das Gasthaus Deppe kurz hinter der Autobahnbrücke ist eine über vierzig Jahre alte Zeitmaschine, in der sich nicht verändert hat, nicht die Bestuhlung oder die Täfelung, selbst das Bushaltestelleschild hing dort schon als ich noch ein Kind war. Ich finde es schön, dass es sowas geben kann, denn Bielefeld selbst hat sich sehr verändert. Aber ich bin hier nahe dem Wald und im Teuto ticken die Uhren eben oft noch anders.
        Die Schwedenschanze ist in Dornberg. War ein Klassenausflug und zwei klasse Lehrer. Wir hockten zu dritt auf dem Schlitten und bremsten wie verrückt mit den Füßen aber der Berg war vereist und der Bach aber nicht. War das ein Gekreische. Und ein großer Spaß trotz Einweichen…
        https://www.bielefeld.de/de/rv/ds_stadtverwaltung/isb/hib/schs/

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  3. Ich kenne aus Erzählungen, dass in diesen Erholungsheimen zum Zunehmen man immer viel liegen musste und bloss nicht zu viel bewegen, damit man auch zunahm. Schlafen nach dem Mittagessen war Gesetz!

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  4. Das Bild der Schneedecke und der langen Reihe an Schlitten hinter dem Trecker ist ein besonders schönes. Fröhlich stellt man sich das Rudel vor, hört das Stampfen des schweren Gefährts und das Lachen der Kinder. Freilich ist es kalt, aber das nehmen die Kinder für den Spaß wohl gerne in Kauf und ich stelle mir vor, wie sie danach fröhlich heim laufen und sich am Ofen wärmen und umziehen. Ganz anders die andere feuchte Kälte. Eine, die bis in die Knochen kriecht und ohne anständige Kleidung zum Wechseln schrecklich lange anhält. Eintauchen in Erinnerungen eines anderen. Es gelingt nicht immer, hier spielend leicht.
    Und der Kliffhänger funktioniert – scheinbar mühelos.
    Ach, ich mags, lieber Jules. Vieles hier und das ganz besonders.

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    • Schau mal hier, es ist nur kein Trecker, und das Gespann paarweise anzuordnen, verhindert natürlich, dass es zu bald auseinander reißt. Aber fröhlicher stelle ich mir die Kinder auch vor. Und was du über das anschließende Aufwärmen und umziehen sagst, trifft die Atmosphäre gut. Ich habe noch Kohlenherde gekannt, an dessen Handlauf man die nassen Sachen zum Trocknen aufhängte.
      Wenn der zu stark eingeheizt wurde, fing das Ofenrohr innerlich an zu brennen und musste von außen mit nassen Lappen gekühlt werden. Freut mich, dass du dich von der Erzählung hast mitreißen lassen, liebe Mitzi.Und dankeschön für deine immer motivierenden Kommentare.

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      • Ja so in etwa hatte ich es auch vor Augen. Kinder und weniger geordnet, aber doch in etwa so.
        In meiner Wohnung gab es natürlich schon immer eine Zentralheizung. Aber zu Hause bei meinem Onkel und auf unserer Hütte da stehen die Holzöfen über denen eine Holzstange befestigt ist auf der noch heute die Wäsche der Kinder nach dem Toben aufgehängt wird. Es gibt nichts schöneres als diese Wärme. Die zu stark beheizten Ofenrohre kannte ich nicht mehr.
        Liebe Grüße

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