Straße meiner Kindheit (4) – Ein Interview

Blick in die erste Bruchstraße

Blick in die erste Bruchstraße

Folge 1Folge 2 Folge 3

Teestübchen-Chefredakteur Julius Trittenheim interviewt einen Jungen:
Was geschah Blödes auf dem Melzerhof? Seid ihr beim Musen ertappt worden?

Das war doch nichts Schlimmes. Wir wurden oft beim Musen erwischt. Dann hat man uns einfach weggejagt. Das hatte keine Folgen.

Was war es dann?

Es ist ein bisschen peinlich. Aber es veränderte mein Leben von einem auf den anderen Tag. Vorausschicken muss ich, wie innig die Freundschaft zwischen Rosie und mir war. Wenn wir groß wären, wollten wir heiraten. Unsere Mütter hatten sich auch ein bisschen angefreundet. Frau Melzer war nicht aus dem Dorf. Sie kam vom Rhein aus Bacharach. Ihre Familie hatte dort Weinberge und ein kleines Hotel. Einmal, es war im Jahr, bevor mein Vater starb, ist meine Mutter mit Rosie und mir hingefahren. Als ich da frühmorgens aus dem Fenster schaute, dachte ich, überall wäre Nebel. Aber es war der Weinberg, der hinterm Haus steil aufragte, fast bis zum Himmel. Ich hatte nie zuvor einen so hohen Berg gesehen. Und …

Du weichst aus. Was geschah auf dem Bauernhof der Melzers?

Ich erzähle das ungern. Wir hatten uns im Schweinestall die Sau mit ihren Ferkeln angesehen. Vom Schweinekoben führte ein Loch nach draußen. Da war ein Gehege für die Schweine vom Garten abgeteilt. Rosie wollte hinein, und wir krochen durch das Loch in der Mauer in den Auslauf. Ich fand es dort ein bisschen eklig, denn der Boden war blanke Erde und ein wenig schlammig, wo die Schweinehufe ihn zertrampelt hatten. Als wir im Auslauf standen, sagte Rosie: „Lass uns Schweinchen spielen!“ und zog ihr Kleidchen über den Kopf. Ich hatte leise Bedenken, denn ich trug eine Hose, die ich noch nicht alleine anziehen konnte, weil da ein Knopf so schwer ging, hatte also die Schwierigkeit vor Augen, die Hose nicht wieder anziehen zu können. Weil Rosie schon nackt war, tat ich ihr nach. Doch gerade hatte ich mich ausgezogen, kam Frau Melzer in den Garten.

Sie erwischte euch nackt in der Schweinekoppel?

Und war entsetzt. Sie rief meine Mutter, und als die Mütter uns wieder angezogen hatten, sprach Frau Melzer ein schreckliches Wort. Wir dürften „nie mehr“ zusammen spielen. Sprachs und ging mit Rosie auf dem Arm weg. Ich fand es ungerecht, denn sie tat so, als wäre es meine Schuld. Dabei war es Rosies Idee gewesen.

Hast du nichts gesagt?

Ich konnte Rosie doch nicht verraten.

Habt ihr euch an das Verbot gehalten?

Leider waren wir folgsame Kinder. Rosie hatte im Sommer darauf einen schweren Unfall. Sie zog den Wasserkessel von der Herdplatte. Da kippte ihr das kochende Wasser auf die Brust. Die Ärzte gaben den Rat, sie müsste immer draußen liegen, damit ihre Verbrennungen besser heilen konnten. Also stellte man ihr tagsüber ein Feldbett auf den Hof, wo ich sie einmal besuchen durfte. Aber Frau Melzer guckte mich immer scheel an, wenn ich auf den Hof kam. Ich hatte da vorerst nichts mehr verloren.

Was wurde aus euch?

Wir hielten Abstand, obwohl wir später in einer Klasse saßen. Hauptlehrer Schmidt bezog seinen Wein über Melzers aus Bacharach, sprach sogar im Unterricht mit Rosie darüber. Alle spürten, dass Rosie seine Lieblingsschülerin war. Ich war das Gegenteil. Schmidt schien mich zu hassen, denn er schlug mich aus nichtigem Anlass. Einmal prügelte er mich so, dass ihm die Uhr vom Arm flog. Ich glaube, da hat Rosie geweint. Als Hauptlehrer Schmidt gestorben war, schwang ich als Messdiener das Weihrauchfass über seinem offenen Grab und dachte: „Wie gut, dass du endlich tot bist, du dummer böser Mann!“

Was weißt du noch von Rosie?
Wie ich hörte, geht sie zur Zeit mit dem Sohn eines Zahnarztes.

Du hast eben gesagt, „vorerst“ hättest du nichts mehr verloren gehabt auf dem Hof der Melzers? Wieso vorerst?

Fortsetzung

14 Kommentare zu “Straße meiner Kindheit (4) – Ein Interview

  1. Pingback: Straße meiner Kindheit (3) – Interview mit einem Kind

  2. Ja, wieso vorerst? Ich werde mich in Geduld üben.
    Die Scham an das Erlebnis im Schweinekoben wird nie ganz vergehen. Rührend, dass er seine Rosie nicht verraten hat. Wahrscheinlich hätte man ihm eh nicht geglaubt. Angefangen mit einer Straße entsteht hier Stück für Stück eine ganze Kindheit. Schnell weiter, lieber Jules. Oder auch langsam, nur lass dir nicht einfallen die Straße vorschnell zu verlassen.

    Gefällt 2 Personen

    • Keine Sorge, liebe Mitzi. Die Straße ist lang, und ich habe bisher nur von ihrem Anfang erzählt. Als Matrix für eine Erzählung gibt eine Straße noch mehr her als die „Läden der Kindheit.“ Ich hoffe, dass ich nicht die Lust am Thema verliere. Vermutlich hätte es keinen Unterschied gemacht, wenn herausgekommen wäre, dass Rosie zum Schweinchenspiel angestiftet hatte.

      Gefällt 1 Person

      • Wenn du die Lust verlierst, lieber Jules, dann müssen wir das hinnehmen. Texte auf dieser Plattform schreibt man ja nicht aus einer Verpflichtung heraus, sondern sollte dabei auch den nötigen Spaß empfinden. Ich freue mich, dass es wohl noch nicht soweit ist 🙂

        Gefällt 1 Person

        • Es ist noch komplizierter, liebe Mitzi. Der Umfang des Textes nimmt ja von Folge zu Folge zu. Wie an der Resonanz ablesbar, scheint das abzuschrecken. Es ist ja wie mit Serien im Fernsehen. Hat man eine Folge verpasst, kommt man nicht mehr hinterher. Überdies ist das Angebot im Teestübchen nicht abwechslungsreich wie gewohnt. Zwei Folgen, heute und morgen, wird es gewiss noch geben. Vielleicht veröffentliche ich danach nebenan im Teppichhaus weiter und reiße die Folgen hier nur noch an. Was meinst du?

          Gefällt 1 Person

  3. Es wäre schade, wenn Du die Lust verlieren würdest, lieber Jules….mir geht es wie Mitzi! Ausserdem gefällt mir an dem Jungen, dass er unbeirrt seinen Weg geht, insofern sein Alter es zulässt……wird fortgesetzt lese ich hoffentlich noch einige Male 😉

    Gefällt 1 Person

  4. Pingback: Straße meiner Kindheit (5) – Ein Interview

  5. Pingback: Straße der Kindheit (6) – Schnee – Ein Interview

  6. Pingback: Straße meiner Kindheit (7) – Tauwasser – Ein Interview

  7. Pingback: Straße meiner Kindheit (10) – Halve Hahn und Bockreiter

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..