Straße meiner Kindheit – Ein Interview

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Teestübchen-Chefredakteur Julius Trittenheim interviewt einen Jungen:

Was ist deine früheste Erinnerung an die Straße deiner Kindheit?

Ich erinnere mich ganz schwach, dass vor dem Hof der Melzers auf der anderen Straßenseite ein defekter Panzer mit US-Hoheitszeichen stand. Der verschwindet aber bald. Ich habe ihn auch nie aus der Nähe gesehen, muss also noch sehr klein gewesen sein. Zu dieser Zeit war ich oft krank, hatte mehrmals doppelseitige Lungenentzündung. Meine Mutter wachte viele Nächte an meinem Bett. Manchmal, wenn die Zeit gar nicht vergehen wollte, hob sie mich in eine Decke gewickelt aus dem Bett und schaute mit mir aus dem Fenster. Wir sahen mitten in der Nacht, dass in einem Parterrezimmer bei Melzers noch eine Funzel  brannte. Da lag der alte Großonkel Cornél im Sterben, wusste meine Mutter. Ich habe nie später in meinem Leben so ein trostloses Licht gesehen. Und noch was fällt mir ein. Eines Tages, als meine Mutter mich morgens anzog, war sie in Eile und in aufgekratzter Stimmung. Sie trug mich auf dem Arm die Straße hoch zum Hohlweg, den wir „erste Bruchstraße“ nannten, und weiter durch den verwunschenen Hohlweg (Startbild) zum Tal, das die erste von der zweiten Bruchstraße trennt. Dort auf einem Feld fand ein Springreiten statt. Ich sah ständig Reiter mit ihren Pferden über ein Hindernis springen und hinter einer Bodenwelle verschwinden, so dass ich glaubte, sie würden dort von einem Abgrund verschlungen. Ich weiß noch, dass ich mich wunderte, dass die Männer so bereitwillig in ihr Verderben sprangen und wunderte mich auch über ihre Vielzahl. Heute weiß ich, es wird ein Rundkurs gewesen sein, und es kamen dieselben Männer mehrmals vorbei.

Bevor sie natürlich vom Abgrund verschlungen wurden.

Klar, von denen lebt heute keiner mehr.

Wie geht es weiter?

Da existiert ein Foto. Ich muss etwa vier Jahre alt sein und habe Festtagskleidung an, weißes Hemd, schwarze Hose mit Kniff, denn es ist die Erstkommunion meines fünf Jahre älteren Bruders. An der Hausfront entlang sind an der Straße Stangen mit Banner am Querstab aufgestellt, wie sie für die Fronleichnamsprozession gebräuchlich sind. Auf dem Foto ziehe ich eine Stange aus der Halterung, und zwei kleine Mädchen, vermutlich meine Schwester und meine Cousine, schauen zu. An die Situation erinnere ich mich, weil es meine Mutter erheiterte, dass ich die Fahnenstange herauszog und die Fahne herumtrug, und sie erstmals sagte: „Unser Hänschen hat Ideen wie ein Windvogel.“

Wann hast du dich zum ersten Mal unbeaufsichtigt auf der Straße bewegt?

Nachdem ich Fahrradfahren gelernt hatte, und zwar auf einem viel zu großen Herrenfahrrad, weshalb ich nicht auf dem Sattel sitzen konnte, sondern seitlich unter der Stange durch treten musste.

War so Rad zu fahren nicht unbequem und gefährlich?

Ich bin dann auch bald mal gestürzt und habe mir eine große Wunde am Knie zugezogen, denn zu dieser Zeit war unsere Straße noch nicht asphaltiert, und ich fiel auf einen spitzen Stein. Vor ein paar kleinen Mädchen habe ich damals mit meinem Sturz angeben. Da wäre ein ganzes Stück Fleisch aus meinem Knie herausgefallen. Das hätte ich einfach ins Gras der Böschung geworfen. Dass ich so ein Aufschneider war, ist mir heute peinlich.

Wieso gab es eine Böschung?

Die Straße war linksseitig nur auf einem kurzen Stück bebaut, bevor sie nämlich zum Hohlweg ansteigt. Unser Haus, in dem wir zur Miete wohnten, war das zweite in der Reihe, ein kleiner ehemaliger Bauernhof, der einer alten Jungfer gehörte, zu der wir „Tante Zilla“ sagen mussten, dann kam ein zweiter kleiner Bauernhof, der aber noch bewirtschaftet wurde, dann ein Gelände, zu dem wir „Park“ sagten. Er gehörte zu einem Gehöft an der Grenze der Bebauung. Dahinter lag dessen Hauswiese und dann Feld, das zur Straße hin abgeböscht war.

Wie war die Bebauung auf der rechten Straßenseite?

Gegenüber lag der stattliche Hof der Melzers. Er war nur nicht Gehöft zu nennen, weil der Hof nicht frei stand, denn links an seine Stallungen grenzten ein Wohnhaus und eine Schmiede. Vor dem Tor der Schmiede lag zu jeder Tageszeit Rolf, ein grauer Schäferhundmischling. Aus irgendeinem Grund hatte ich eine panische Angst vor Rolf. Doch eigentlich war er viel zu alt und klapprig, um gefährlich zu sein. Wenn er sich mal aufrichtete und reckte, dann stand er auf zittrigen Beinen. Aber für heute traue ich mich nicht an Rolf vorbei. Fragen Sie mich bitte andermal weiter, Herr Trittenheim.

Fortsetzung

16 Kommentare zu “Straße meiner Kindheit – Ein Interview

  1. Diese Wege und Straßen der Kindheit haben wir alle im Kopf. Manche haben es leicht, weil sie immer noch in der Nähe wohnen und die Veränderungen miterlebt haben. Ich träume manchmal von diesen Straßen. Ich werde meine Mutter mal fragen, die hat sicher noch genauere Erinnerungen. Schöne Idee, Jules!

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    • Die Anregung kam von dir, Manfred. Danke dir! Nachdem ich deinen Beitrag über die Vechte

      Unangefochten: Die Vechte


      gelesen hatte, dachte ich, dass es hübsch wäre, von einer Straße zu erzählen. Und je weiter die Erzählung vorankommt, desto älter wird das erzählende Kind, so wie die Erinnerungen ja aus unterschiedlichen Zeiten und Entwicklungsphasen stammen.

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      • Das ist ein vielversprechender Ansatz. Mit einer sehr alten Dame habe ich mich einmal darüber unterhalten, wie sie ihre Region sieht und erlebt und das die Gegenwart dabei nur die Oberfläche bildet, unter der immer auch die früheren Bilder erhalten bleiben.

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