Teestübchen Kultur – Querelen um die traditionelle Nürnberger Weiberhatz

Kategorie Humor neuVor einiger Zeit berichtete ich von einem Video von 1977/78, das ich mit anderen Kunststudenten gedreht habe und das jetzt digitalisiert worden ist. Leider konnte ich der öffentlichen Aufführung nicht beiwohnen. Freund Nebenmann hat mir die CD über meine Tochter in Aachen zukommen lassen. Von dort hat sie mein ältester Sohn mit nach Hamburg genommen. Weihnachten habe ich ihn besucht und konnte das Video jetzt 38 Jahre nach seiner Entstehung wiedersehen. Es war eine seltsame Erfahrung wie eine Zeitreise in eine mir unbekannte Welt. Zunächst weckten die Videobeiträge keine Erinnerung. Erst nach und nach kehrte sie zurück. Aus urheberrechtlichen Gründen (wegen der einigen Beiträgen unterlegten Musik) kann ich nicht das ganze Video zeigen, sondern zeige hier einen der Magazinbeiträge, für den ich das Skript geschrieben habe und worin ich den Interviewer mime.

Der Beitrag hat Querelen um eine reizende folkloristische Tradition zum Inhalt. Wie es scheint, sind sie nicht wirklich beigelegt, denn von einer Neuauflage der Nürnberger Weiberhatz hat man nie wieder gehört. Und nun viel Vergnügen beim Anschauen.



betty-originaltextweiberhatz Editorische Notiz: Im Bild die literarischen Vorlagen des Skriptes. Die erste Fassung geht noch um einige Jahre zurück. Damals bekam ich meine erste Schreibmaschine, eine Halda, und führte damit ein ulkiges literarisches Experiment durch. Ich arbeitete als Schriftsetzer in einer Kölner Druckerei. Dort wurde überwiegend mit Rotationsmaschinen von Rollen gedruckt, und bei jedem Rollenwechsel blieb ein Rollenkern übrig, auf dem noch viele Meter Papier aufgerollt waren. Eine solchen Rollenkern nahm ich für mein Experiment mit nach Hause. Mein Zimmer lag im 2. Obergeschoss unterm Dach. Es hatte drei kleine Dachgaubenfenster, durch die ich vom Schreibtisch aus allein den Himmel und die Wipfel einer Pappelreihe sehen konnte. An einem Samstag im Frühling, die Sonne schien durchs offene Fenster, stellte ich meine Halda auf den Schreibtisch, spannte die Rolle ein und startete das Experiment. Ich wollte einen so langen Text schrieben, dass ich die Rolle zum Dachgaubenfenster hinausführen konnte, und weiter schreiben, bis die Papierbahn irgendwann den Erdboden berühren würde. Dazu stellte ich auf meiner Halda ein enges Zeilenmaß ein, hübsch in der Mitte zentriert, damit ich nicht zu lange auf den glorreichen Augenblick der Bodenhaftung meines Textes warten musste.

Anfangs schrieb ich ohne Punkt und Komma und dachte beim Schreiben kaum nach, sondern haute in die Tasten, was mir in den Sinn kam, und das einige Stunden lang, bis der ersehnte Augenblick gekommen war. Als die Bahn sich nach jeder Zeilenschaltung weiter durchbog, wusste ich, dass mein Text am Boden lag und lief die Treppen hinab. Es war wunderbar: Die weiße Papierbahn stieg vor mir an den roten Klinkern hoch, wellte sich über den wilden Wein an der Mauer hinweg, spannte sich an der Regenrinne, dann über einige Reihen Dachschindel und wölbte sich in mein Dachfenster hinein. Und mittendrin das Grau des schmalen Textstreifens. Leider ist das Typoskript verloren gegangen. Doch es existiert eine Abschrift; eine Freundin hat sie etwa ein Jahr später getippt. Aus diesem Typoskript (linkes Bild) stammt die ursprüngliche Fassung des Video-Skriptes.

17 Kommentare zu “Teestübchen Kultur – Querelen um die traditionelle Nürnberger Weiberhatz

  1. Wie die Zeit vergeht, Bräuche verschwinden, Menschen ändern sich… obwohl du natürlich völlig unverändert scheinst. Ich höre bei dieser Aufnahme deinen Aachener Zungenschlag allerdings nicht so heraus. Dafür rollt dein Gesprächspartner ganz wunderschön das r. Ob allerdings die wordpress-Frauenbeauftragte diesen Beitrag durchgehen lassen kann… aber die hat sicher schon ein Piccolöchen geöffnet. Stößchen!

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    • Vor der wordpress-Frauenbeauftragten habe ich Manschetten, da ich nicht weiß, ob sie Satire versteht. „Weiberhatz“ ist schon radikaler Humor. Aber indem einige Frauen den Beitrag geliket haben, wähne ich mich auf der sicheren Seite. Nach 38 Jahre dürfte sowieso alles verjährt sein. Einen Aachener Zungenschlag hatte ich nie, weil ich Landkölsch rede, und das unterscheidet sich stark im Klang vom Öcher Platt. Einflüsse der Mundart zeigen sich in den verwaschen artikulierten Konsonanten im Gegensatz zum gerollten R von Mobenbach. Er stammt wohl aus dem Münsterland. Danke übrigens für das Kompliment. Darauf gebe ich mal einen aus, Prost!

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  2. Was für ein schönes Bild die Papierbahn an der Hauswand abgegeben haben musste! Noch schöner, das eines jungen Jules der in der Sonne am Fenster ohne Punkt und Komma tippt. Sehr schön auch, lieber Jules, dich „bewegt“ und mit 38 Jahren Zeit Verzögerung live zu sehen.
    Ich denke die Solidarisierung mit dem Saubeutel erwägt keiner.

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    • Dein positives Urteil freut mich besonders, liebe Mitzi. Die 38 Jahre Zeitverzögerung ist mir ein bisschen unheimlich. Als ich den Beitrag erstmals wiedergesehen habe, war ich mir ganz fremd. Erst nach mehrmaligem Anschauen kehrte die Erinnerung zurück. Ich bin sehr angetan von der schauspielerischen Leistung meines Gesprächspartners, der den Text frei und fließend vorträgt und dabei noch den nötigen Ausdruck hineinlegt, so dass seine Drohung heute noch rüberkommt und dem Saubeutel keine Chance lässt ;).

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      • Große Zeitspannen werden schnell ein wenig unheimlich. Eben erst war man doch noch mitten in einer Situation und dann bekommt man etwas in die Hand gedrückt, das vorgibt Jahrzehnte alt zu sein. Egal wie lange es her ist – ich fand euch beide klasse.

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  3. Das ist ja traumhaft!
    Allein die Idee zum Schreibmaschinenrollenspiel ist schon so schön hirnrissig, die Sache dann auch noch wirklich auszuführen, ist unüberbietbar. Ich kann mich gar nicht „einkriegen“ bei der Vorstellung, wie sich da so eine Papierrolle Stück um Stück wie von Geisterhand aus dem Dachfenster schiebt, begleitet von dem Maschinengeratter des Schreibwerkzeugs wie von einer Druckmaschine.
    Aber auch eine Weiberhatz durchführen zu wollen mit den eine solche begleitenden Querelen zum einen sich auszudenken und dann auch noch so trefflich ins Bild und in Ton zu setzen, verschlägt mir die Sprache. Es fehlen mir einfach die Worte, meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Und ebenso traumhaft ist die seinerzeit wohl übliche Haartracht der jungen intellektuellen Burschen. Was seid ihr aber auch hübsch.
    Eine sehr witzige Sache hast du da vorgekramt, da kommt Freude auf.

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    • So begeistert habe ich dich seit dem PentAgrion nicht erlebt, liebe Marana. Das freut mich ungemein und ist ein wirklich schöner Jahresabschluss.Leider habe ich wenig dokumentiert, wie ja auch die Rolle verschollen ist. Aber immerhin habe ich die Abschrift und halte die grüne Halda-Schreibmaschine in Ehren.

      Zum Thema Weiberhatz: „Radikaler Humor“ hat mein Freund Nebenmann jüngst gesagt. Tatsächlich gab es in den 70ern noch mehr geistige Freiheit und nicht den Zwang zur political correctness.
      Die wilden Haare drückten den Zeitgeist aus. Das ist leider verlorene Pracht. 😉 Von den bayrischen Volksstämmen wusste ich damals wenig, traute ihnen aber alles zu – bei der Kumpanei von Landesvater Franz-Josef Strauß mit dem Fürsten von Thurn und Taxis (beide im Bild). Heute weiß ich wenigstens, dass Nürnberg nicht am Rande der Alpen liegt.

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  4. So ist es, es spiegelt ein wenig doch sehr unser damaliges Lebensgefühl. Man musste nicht erklärende Entschuldigungen hinterherschicken, wenn man so inniglich Kokolores betrieb.
    Ich will mir gar nicht ausdenken, was wäre, wenn du heute usw. …
    Die Kabarettisten hatten uns seinerzeit jedoch auch einiges abverlangt und das war gut so.

    🙂

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  5. Sehr schön, dieses frühe Filmdokument! Mich öfters in Nürnberg aufhaltend, werde ich alsbald Feldrecherchen zum Brauch der Hatz anstellen. Ggf. gibt es auch Zusammenhänge zum Stadtheiligen, einem Einsiedler um das Jahr 880 n.u.Z., der angeblich von Weibern so lange gehetzt wurde, bis sie ihn geschnappt hatten.

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    • Da tun sich ja Abgründe auf, werter Kollege! Danke für die volkskundlich interessante Information. Demnach wäre die Weiberhatz quasi ein göttliches Strafgericht. Offenbar war der historische Bezug im Jahr 1978 aber schon komplett vergessen und die frivole Hatz des gemeinen Volkes war in dekadenten Kreisen schon umgeformt zur skandalösen Herabwürdigung der Frau zum handelbaren Lustobjekt.

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