Frühes Aufstehen ist mir immer schwer gefallen. Doch seit ich es nicht mehr muss, werde ich meistens Punkt sechs Uhr wach und bin dann ausgeschlafen, dass mich nichts mehr im Bett hält. Vorgestern ging ich ungewöhnlich früh zu Bett und war um kurz vor vier Uhr hellwach. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Bevor ich mich sinnlos herumwälzte, stand ich lieber auf. Während ich Kaffee machte, schaute ich aus dem Küchenfenster. Die Straßenlaternen kamen kaum gegen die umgebende Finsternis an, und auf alle geparkten Autos hatte sich über Nacht Raureif gelegt.
Ich trug meine Kaffeetasse ins Wohnzimmer, lehnte mich mit den Oberschenkeln an den Heizkörper unterm Fenster und schaute wieder hinaus. Leise wiegten sich die Gerippe der Bäume im Wind, und zwischen den kahlen Ästen blitzten die Scheinwerferlichter vom nahen Schnellweg. Unfassbar, wer da so früh schon unterwegs ist. Und ein jeder hat mitten in kalter Nacht sein warmes Bett verlassen müssen, und die morgendlichen Verrichtungen nach einem gewohnten Zeitplan abgespult, bevor er die Scheiben seines vereisten Autos freigekratzt hat. So auch irgendwo in Flandern Linde Merckpoel, Moderatorin der Morgensendung auf Studio Brüssel. Ihr Wecker klingelte kurz nach drei. Sie ist hier erwähnt, weil wir sie später kurz bei der Arbeit sehen werden. Zurück auf vier Uhr. Es ist kein Vergnügen, in ein eiskaltes Auto zu steigen. Doch wenn der Motor läuft, wird moderne Technik ziemlich rasch Raumluft und Sitze aufheizen. Schaudernd erinnerte ich mich an meinen alten Ford, den ich in den 1980-er Jahren fuhr. Wenn ich da in Winternacht eingestiegen war, kondensierte meine Atemluft und setzte sich innen an die Frontscheibe, von wo das Gebläse sie mir als Schnee ins Gesucht pustete.
Ich öffnete das Fenster und steckte die Nase raus. Augenblicklich fiel mir die Kälte auf die Füße, biss mich am ganzen Körper, und der frostige Westwind brachte die Dröhnung des frühen Autoverkehrs. In der Nachtkälte wirkt es besonders trostlos, all die Lichter der Autos vorbeihuschen zu sehen und sich für einen Augenblick die unausgeschlafenen Insassen vorzustellen, jeder, jede mit einem Plan im Kopf, und obwohl mit all den anderen unterwegs, doch in seinem Universum mutterseelenallein. Ich schließe das Fenster und fahre zuerst den Rechner hoch, der mit meinem Soundsystem verbunden ist. Den nutze ich meist, um übers Internet Musik zu hören. Dann packe ich mir den Klapprechner auf den Schoß und schreibe diesen Text. Zwischendurch gucke hinüber auf den anderen Bildschirm. Die Webcam zeigt Linde Merckpoel, seit sechs Uhr auf Sendung. Sie hat sich die verschlafenen Äugelchen sorgfältig geschminkt. Aber es ist rein äußerlich. Gerade sagt sie „Paint It Black“ von The Rolling Stones an.
Als die Stones fertig sind, kommt die Nachrichtensprecherin ins Studio. Sie ist in eine dicke Strickjacke eingepackt und hat sich zusätzlich einen grob gestrickten gelben Schal umgewickelt. Um diese frühe Stunde hat sie dunkle Augenringe groß wie Untertassen. Sie liest ihre Meldungen vor. Der Aufmacher ist die kalte Nacht und wie Obdachlose sie verbringen. Eingespielt wird eine Reportage über eine hilfsbereite Gruppe von Menschen, die mit einem Kleinbus in der Stadt rumfährt und Obdachlose aufsucht, um ihnen einen Schlafplatz, ersatzweise Decken, warme Jacken, Heißgetränke und Obst anzubieten. Man hört einen Helfer auf Niederländisch fragen: „Sind Sie gesund?“ und wie der Obdachlose das mit „Jaja!“ bestätigt. Informationen über die Anzahl der Obdachlosen und wie viele Schlafplätze man anbieten könne, runden den Beitrag. Dann ein bisschen Weltpolitik, bei der ich weghöre.
Zum Abschluss trägt die Sprecherin folgende Meldung vor: Die kanadische Polizei habe angedroht, wer über die Weihnachtstage mit Trunkenheit am Steuer erwischt wird, verbringe die Nacht nicht nur in Polizeigewahrsam, er müsse auf dem Weg zur Zelle im Polizeiauto auch noch Musik der kanadischen Rockgruppe Nickelback hören. Ob das nicht ein Verstoß gegen Menschenrechte sei, würden sich welche fragen, fuhr sie fort, andere schlügen vor, den Alkoholsündern stattdessen Justin Biber vorzuspielen. Trotz der Augenringe muss sie beim Verlesen der Meldung grinsen. Am Nachsatz ist abzulesen, dass im Hintergrund schon wache Nachrichtenredakteure daran gearbeitet haben, die Meldung aufzuhübschen. Das mache ich jetzt auch. In Deutschland soll die Polizei ganz brutal Helene Fischers „Atemlos“ dudeln. Mich würd’s schrecken, aber ich habe ja gar kein Auto.
Schön, deine Morgenimpressionen, na. Man will gleich wieder ins Bett, obwohl… nein, es hat schon einen speziellen Reiz, sich die Welt beim Aufwachen anzuschauen, ohne gleich mit an den Start zu müssen. Das erinnert mich immer an meine Schülerzeit, an die Tage, an denen ich krank war, zuhause blieb, den Schulfunk hörte und das alltägliche Leben in der Wohnung mitbekam. Mit dem Winter geht es mir ähnlich, ich bin begeistert, was man da um sieben Uhr so sehen kann, aber aufstehen dafür? Nur um das sehen zu können?
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Wir müssen bereit sein, für die Kunst jede Härte auf uns zu nehmen 😉 O wunderbarer Schulfunk.Er wurde Ende der 1960er Jahre eingestellt. An meine Zeit als Schüler erinnere ich mich kaum. Aber als Lehrer bin ich schon mal aufgestanden, um festzustellen, dass ich zu krank war. Es kam höchst selten vor, dass ich mich von meiner Frau entschuldigen ließ. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, dass Kollegen mich würden vertreten müssen. So richtig genießen kann man die geschenkte Zeit nur, wenn man nicht zu krank ist. Aber wenns zu geht, ist das schlechte Gewissen im Weg. Heute schaue ich mir gerne an, wie die Leute zur Arbeit eilen. Das macht mir klar, was für ein Luxus das ist, nichts zu müssen. Freut mich, dass dir meine Beobachtungen gefallen haben.
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Als Kind konnte man sich so wunderbar langweilen und daran erinnert mich das Bild, das du zeichnest mit den Oberschenkeln gegen die Heizung gelehnt. Ich selbst stand gern an die Heizung unterm Fensterbrett gelehnt, schob die Hände zwischen die Heizungsrippen und glotze auf die am Haus vorbeifahrenden Autos und die hin und her wuselnden Männekens, denn wir wohnten seinerzeit an der wieder aufgebauten Bremerhavener Flaniermeile und da war „bannig“ was los. In Gedanken war ich allerdings weit weg, aber ehrlich, ich erinnere mich nicht, was seinerzeit träumend mein innigstes Begehr war.
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Und heute ist keine Zeit mehr für Langweile und Tagträumereien?
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„Hornbach. Es gibt immer was zu tun.“ Und wenn man in die Jahre gekommen ist, braucht immer alles so seine Zeit.
Versuche mal beidäugig sehbeeinträchtigt einen Faden in eine Nähmaschinennadel zu fädeln. Das geht, … aber es dauuuuuert.
🙂
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Morgens, wenn ich das Fenster zum Lüften öffne, frage ich mich fast jeden Tag, wie ich das nun wieder überstehen soll, mit dem Rad ein halbe Stunde zur Arbeit, irgendwie 9 Stunden rumbringen, dann durch Dunkeheit und Kälte wieder nach Hause radeln. So eine kleine Krankheit käme mir da gerade recht, meinetwegen ein bißchen Halsschmerzen und Husten für eine Dauer von ungefähr zwei Tagen, wofür mich der Hausarzt aber eine ganze Woche krankschreibt. Dummerweise scheine ich in diesem Jahr robuster zu sein – gut, darüber will ich mich nicht wirklich beklagen.
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Ich hätte einen Hexenschuss im Angebot 😉 Schon übel, sich Krankheit herbeizuwünschen, um der Arbeitsfron zu entkommen. Da wünsche ich dir doch lieber einen Lottogewinn.
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Danke, den wünsche ich mir auch.;-)
Deinen Hexenschuß muß ich leider ablehnen – er scheint einer von der üblen Sorte zu sein, so lange, wie er schon dauert. Die Hexenschüsse, die ich bisher hatte, ließen sich gut mit ABC-Pflaster behandeln und waren nach ein bis zwei Tagen wieder vorbei. Aber prima, daß es Dir schon wieder besser geht und Du zu Flirtereien aufgelegt bist.
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Lieber Jules,
Ihr Blick in eine frostige Nacht vermittelt eine wundervolle Stimmung! Danke!
Ich bin schon mal um diese Zeit durch die Stadt gelaufen, habe ein beleuchtetes Fenster gesehen und mich gefragt, wer wohl dahinter was macht.
Genau so kann es gewesen sein?!
Gruß Heinrich
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Lieber Heinrich,
danke für die freundliche Einschätzung und Ihren Kurzbericht mit dem Perspektivwechsel, dem Blick von außen nach innen. In der dunklen Jahreszeit bin ich gern in der Stadt unterwegs und schaue neugierig in die erleuchteten Fenster, um einen Blick auf fremde Lebenswelten zu erhaschen.
Viele Grüße,
Jules
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Angesichts dieser Drohungen werden wohl die schlimmsten Verkehrsrowdys in der Weihnachtszeit zu braven Lämmern … 🙂
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Das wäre zu hoffen. Doch so schlecht spielen Nickelback gar nicht. Vielleicht ists nur ein PR-Gag.
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Ein schönes Bild, lieber Jules. Ich stehe gerne am Fenster (wie du an eine Heizung gelehnt) und sehe nach draußen. Noch gehöre ich ja zu denen, die von Montag bis Freitag zur Arbeit hetzen und habe selten Zeit morgens am Fenster zu stehen. Wie schön, dass du diesen nächtlichen Morgen für mich beobachtet und aufgezeichnet hast.
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Dankeschön, liebe Mitzi. Wenn ich Menschen wie dich zur Arbeit hasten sehe, führt es mir den Luxus vor Augen, nichts mehr zu müssen. Und weil ich schon mit 13 angefangen hab zu arbeiten, habe ich auch kein schlechtes Gewissen, dass die Gesellschaft meinen Luxus alimentiert. Da gebe ich gern was zurück.
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Genieße den Luxus. Du hast ihn dir verdient.
Und das was du zurück gibst…..du weißt, wie sehr ich mich daran erfreuen kann, lieber Jules.
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so ein stimmungsvoller Text…. bei dem ich alles bildlich vor mir sehe. wunderbar und merci
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Das freut mich, meine Liebe. Danke für diesen Kommentar!
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