Von wegen postfaktisch – Über die Herren der Lüge

Kategorie MedienSeit Wochen geistert ein Modewort durch die Medien. Sogar Frau Merkel kennt es schon und sagte: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“
Im Fernsehen zerrt man einen Hilflosen vor die Kamera und lässt ihn etwas Idiotisches von sich geben, wovon der Bildungsbürger glaubt, es besser zu wissen, und kräht dann zur Erklärung für den Quatsch: „Wir leben im Postfaktischen. Es zählt nicht mehr, was ist, sondern die gefühlte Wirklichkeit.“

Abgesehen vom philosophischen Problem, dass über die Art der Wirklichkeit, über „das, was ist“ nur eine verlässliche Aussage möglich wäre, wenn man die Wirklichkeit von außen betrachten könnte, verschiebt sich hier die Perspektive. Der Bedeutungsgehalt des Wortes ist nämlich etwas anders, als Frau Merkel und die intellektuell schwachbrüstige Journaille meinen.

Ich glaube, den Begriff „postfaktisch“ erstmals in der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) gelesen zu haben. Der Philosoph, Physiker und Jazzmusiker Eduard Kaeser zitierte einen Chefberater von George W. Bush aus dessen Amtszeit. Dieser Mann habe sich vor Ron Suskind, Journalist bei der New York Times, im Jahr 2004 damit gebrüstet, dass die Bush-Administration beliebig Wahrheiten erschaffen könne, ganz unabhängig von den vorliegenden Fakten, wörtlich: «(…) wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während Sie in dieser Realität Nachforschungen anstellen, handeln wir schon wieder und schaffen neue Realitäten, die Sie auch untersuchen können, und so entwickeln sich die Dinge. Wir sind die Akteure der Geschichte, und Ihnen, Ihnen allen bleibt, nachzuforschen, was wir tun.»

So verstanden meint der Begriff „postfaktisch“ nicht die Opfer von Politik, nicht die Soldaten, die aufgrund einer Lüge in den Irakkrieg geschickt wurden, nicht die belogene Öffentlichkeit, deren Steuergelder zum Nutzen der Waffenindustrie verpulvert wurden, meint nicht die Millionen Kriegstoten. Postfaktisch handelt die politische Klasse, die Lügen wie die Mär von Saddams Massenvernichtungswaffen in die Welt setzt und ihre Macht dazu nutzt, aus der Lüge Fakten zu erschaffen, die Fakten also zu verfälschen, dass aus der Lüge die erklärte Wahrheit wird.

Freilich haben viele Journalisten längst aufgegeben, sich auf die Suche nach den Fakten hinter den politischen Lügen zu machen, weil es mühsam und aufwändig ist, zumal wenn sie erkennen müssen, dass die eigene Redaktion die von Politikern konstruierte Wahrheit längst propagiert, dass die erlogenen Fakten längst Blattlinie sind, wie es im Printmedium heißt. Dann wäre jedes Querschießen der freiwillige Karrieretod. Also flüchtet man sich in Zynismus, dreht mit an der Propagandamaschine und tröstet sich damit, dass die Leute ja gar nicht mehr an Fakten interessiert sind, sondern nur an „gefühlter Wirklichkeit.“

Hierzu müssen wir uns ansehen, wie das Weltbild eines Menschen entsteht und woraus es besteht. Fragen höherer Ordnung, also nach dem Sinn des Lebens, Glaubensfragen, politische und ethische Grundhaltungen haben die meisten aus dem Elternhaus übernommen, entweder in Übereinstimmung oder in Antihaltung und der partiell gegenteiligen Verdrehung. Sie bilden das Wahrnehmungsraster. Eigene Erfahrungen und Bildung ergänzen das Weltbild oder differenzieren es aus, aber meistens, indem das schon vorliegende Wahrnehmungsraster nur jene Informationen zulässt, die die Grundansichten bestätigen. Daraus entsteht gefühlte Wirklichkeit. Sie bekräftigt sich, wenn die daraus resultierende Grundhaltung eine erfolgreiche Alltagsbewältigung erlaubt. In diesem Sinn verhält sich der Mensch schon immer postfaktisch. Vor dem Internet reichte den meisten Menschen die Tageszeitung oder die Tagesschau, worin sie erfuhren, was passiert war in der Welt. Journalisten bewerteten die Geschehnisse für sie. Natürlich hat man sich schon immer das Medium gesucht, das den eigenen Ansichten entsprach.

Mit der Nase tief in den Fakten - Foto JvdL

Mit der Nase tief in den Fakten – Foto JvdL

Die Krise unserer Leitmedien, dass man ihnen „Lügenpresse“ zuruft, hat etwas mit der fehlenden Meinungsvielfalt zu tun. Wenn alle aus opportunen Gründen auf die Regierungsbotschaften einschwenken, wenn sie Verlautbarungsjournalismus betreiben, dass der Tagesschausprecher schon für den Regierungssprecher gehalten wird, wenn sie daher notgedrungen Wahrheiten fälschen und Informationen unterdrücken müssen, werden sie als Teil der postfaktischen Propagandamaschinerie empfunden. Man kann es niemandem verdenken, dass er davor am liebsten Augen und Ohren verschließt.

Dann wählen sie wie jetzt in den USA einen Mann wie Donald Trump, der wenigstens offen lügt.

21 Kommentare zu “Von wegen postfaktisch – Über die Herren der Lüge

  1. Das ist nicht wirklich neu. Worauf beruht die Alleinherrschaft der CSU in Bayern? Darauf, dass sich die Bayern verlassen können, dass sie nach Strich und Faden vereimert werden. Bei den Parteien der FDP, SPD und Grünen kann das Wahlvolk sich jedoch nicht darauf verlassen. Diese sind somit unzuverlässig in ihrer Glaubwürdigkeit. Einmal wurde sogar die Glaubwürdigkeit der CSU gestärkt und prompt erhielt die CSU die Quittung: sie musste eine Koalition mit der FDP schließen ….
    Wenn du nichts mehr zu verlieren hast, es dir nachher auch nicht schlechter gehen wird als vorher, dann öffnet sich die Büchse der Pandora und es entstehen Politiker a la Trump, Pethry, Gauland. Wenn Politiker, Journalisten und Persönlichkeiten sich geschockt über den Wahlerfolg Trumps äußern, dann frage ich mich, in welchen Parallel- und Traumwelten alle denn leben. Sie haben sich wohl an dem Rest aus der Büchse geklammert.

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    • „Wenn Politiker, Journalisten und Persönlichkeiten sich geschockt über den Wahlerfolg Trumps äußern, dann frage ich mich, in welchen Parallel- und Traumwelten alle denn leben.“ Wach sind sie wohl noch nicht geworden, suchen die Schuld beim dummen Volk. So dumm, dass es nicht sehen würde, wie total verlogen und heuchlerisch die herrschende Politik ist, und dass man sie rundum verarscht, ist das Volk aber nicht. Das vermutet richtig, wählt aber die falschen Ärzte. Frauke Petry bei uns, in Holland Geert Wilders oder Marine Le Pen in Frankreich und Donald Trump (USA) sind ja keinen Deut besser.

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        • Das ist genau meine Predigt, an die – wie bei Predigten üblich – niemand zu glauben hat. Kennt man Real-Live-lebende Menschen eines Landes von diversen Aug-in-Aug-Gesprächen und deren Sorgen, Ansichten und Nöte nicht nur als singuläre Positionen, dann erkennt man mehr. Aber dazu ist es erforderlich, dem Volk nicht nur aufs Maul zu schauen, sondern auch hinein zu schauen. Ohne dass man in Pferdepflüsterei glaubt zu verfallen. Aber genau darin liegt das Problem der Politiker. Sie betrachten sich mehr oder weniger als Abstraktion des Konkreten mit Auftrag zum Handeln nach eigenen Gutdünkens. Das Ergebnis sind Politiker, über denen unsere Medien und Volk größenteils den Kopf schüttelt.
          Es ist nicht jedem möglich, verschiedenste Quellen zu lesen und sich dann eine Meinung zu bilden. Viele scheitern daran. Selbst das Lesen verschiedenster Quellen ist kaum noch Garant auf die Wahrheit. Selbst Blogger manipulieren in deren eigenen Sinne und fühlen sich dazu berufen im Dienste derer Wahrheit.
          Wie heißt es an entscheidender Stelle der Schriften des christlichen Abendlandes, welches Populisten so gerne rigoros unter Missachtung derer eigenen Erkenntnisportentiale postulieren? „Was ist Wahrheit?“ vom Henker und Richter des Vorfahren des „Heiligen römischen Reiches Deutscher Nation“ ….
          Egal, ich übertreibe rhetorisch, weil individuelle Bedenkenträger … …

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    • Der arme Orwell, war doch 1948 schon vom Kommunismus unter Stalin bitter enttäuscht. Er würde staunen, wie die Entwicklung selbst in Demokratien seine visionären Ideen längst links und rechts überholt hat. Aber er ist glücklich tot, wir leben damit.

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  2. Lieber Herr TT, wie du weißt, nehme ich gern Papier in die Hand und heute die Zeit Nr° 47 , Seite POLITIK*3 hat mich dann doch in Erstaunen gesetzt, wenn Herr Bernd Ulrich folgende Ansichten zu Papier bringt.

    in
    „… aber nicht am Ende“
    „Ein gefährlicher Mann zieht ins Weiße Haus ein. Warum Europa jetzt die westlichen Werte verteidigen muss- und auch kann“

    Mir verschlägt es ein wenig die Sprache.

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    • Wird Merkel ein Ende der flächendeckende Überwachung durch die NSA verlangen, desgleichen, dass keine Drohnenmorde mehr von der Ramstein Air Base aus gesteuert werden? Das glaubt nicht mal Bernd Ulrich in seinem besoffenen Werte-Geschwafel.
      Liebe Marana, danke für das Zeugnis von total verschmocktem Journalismus, der das Printmedium so unappetitlich macht.

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  3. Ich finde diese Behauptung, dass die Medien (alle?) Verlautbarungsjournalismus betreiben und lügen etwas postfaktisch. Gibt es dafür ein konkretes Beispiel?

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  4. Danke für die Hinweise – davon habe ich vieles nicht gewusst. Ich sehe mir ganz selten mal die ARD-Tagesschau an, und mir fällt auf, dass sie im Vergleich zur Schweizer Tagesschau sehr viel dichter ist, es werden mehr Themen in kürzerer Zeit behandelt. Das macht uns Schweizern immer grossen Eindruck, aber es kann sein, dass dadurch die Tiefe etwas leidet (und die Sprache). Allerdings ist dann die Verallgemeinerung Tagesschau – Leitmedien etwas gefährlich.

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    • Interessanter Hinweis. Die Schweizer Tagesschau kenne ich leider nicht. Ich habe den Begriff „Leitmedien“ benutzt, um Print und öffentlich-rechtliches Fernsehen in eins fassen zu können, denn beiden wird „Lügenpresse“ entgegengehalten, obwohl TV ja keine Presse ist.

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    • Der CETA-Beitrag hat mich inklusiv Standbilder bei jedem Bildschnitt und Transkription einen ganzen Sonntag beschäftigt. Ein weiterer Tag wird nötig sein, alles in eine Gif-Animation zu packen und zu kommentieren. Das ist das Problem: Dem medienkritischen Blogger steht eine ganze ausgebuffte Redaktion gegenüber – mit vielfältigen technischen Möglichkeiten, und das ist nicht annähernd Waffengleichheit. Daher werde ich manchmal polemisch.

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  5. Pingback: postfaktisch – dümmste unter den prämierten Würsten

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