Tag und Nacht Straßengymnastik

Kategorie KopfkinoWenn du in dunkler Nacht eine leere Straße gehst, und hinter dir wispert ein Blatt, dann erschrickt etwas in dir und schickt dir die Warnung, du würdest verfolgt. Du drehst dich um, siehst den leeren Gehweg und denkst erleichtert: „Ach nein, kein Horrorclown. Es ist nur ein Blatt, das der Wind an meine Fersen geheftet hat.“ Die Phantasie hat dir einen Streich gespielt, hat sich ungefragt in deine Wahrnehmung der Realität eingeschlichen und dich für einen Moment getäuscht. Jetzt ist deine Welt wieder in Ordnung, denn du hast die Fiktion durch die Wahrnehmung der physikalischen Realität ersetzt.

Können wir im Internet ebenfalls so zwischen Wahrnehmung und Täuschung unterscheiden? No, Sir. Das Internet hat eigene Wahrnehmungsgesetze. In ihm vermischen sich Fiktion und Realität auf untrennbare Weise. Sie durchdringen einander, und in Teilbereichen überlappen sie sich, doch du kannst nie genau sagen, was in deiner Phantasie nur existiert oder real ist.

In der Welt des Internets gibt es seltsame Erscheinungen. Eine davon ist das animierte Gif. Im Bildbeispiel sind Passanten auf dem Aachener Münsterplatz zu sehen. Das Gif bildet also eine reale Situation ab, die ich beobachtet und fotografiert habe. Die Bewegung der Leute ist jedoch nicht gefilmt, sondern simuliert. Ihr liegt nur ein mehrfach manipuliertes Foto zugrunde, so dass die im Gif gezeigte Realitätsabbildung teilweise fiktiv ist.

strassengymnastikDie Menschen auf dem Münsterplatz werden niemals von der Stelle kommen. In der zweidimensionalen Realität der Gifgrafik sind sie vielmehr gezwungen, auf immer Straßengymnastik zu machen. Sind sie ihrer Individualität enthoben und dienen nur noch der Erheiterung des Betrachters. Und selbst, wenn es gar keine Betrachter gibt, müssten die Leute im Bild stampfen, stampfen, stampfen. Stelle dir vor, du selbst wärst dort auf dem Platz abgebildet. Dann hätte sich ein Teil von dir aus der dritten Dimension in die zweite Dimension verflüchtigt, bestünde aus nichts und wäre trotzdem Teil deiner Realität.

Fotos und Gifanimationen: JvdL

Fotos und Gifanimationen: JvdL

26 Kommentare zu “Tag und Nacht Straßengymnastik

  1. Solange es eine Realität gibt, auf die wir uns zurückbeziehen können, also die Möglichkeit eigener Erfahrung. Aber wir leben natürlich schon immer in einer Welt, in der wir glauben, in der wir die eigene Erfahrung ersetzen durch unser Vertrauen in jene, die uns vertrauenswürdig erscheinen, nicht, weil wir ihre Kompetenz einschätzen können, sondern weil sie im dunklen Anzug und mit Krawatte für uns die Welt erklären. Das fand einst in der Kirche statt, dann in den Medien und jetzt im Netz. Gut, da kann dann auch schon mal auf den Anzug verzichtet werden. Und was lange genug behauptet wird, ist dann auch wahr, so wahr, wie die Bewegungen deiner Passanten. Es geht nicht vorwärts, obwohl es immer weiter geht.

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    • Vor dem Internet war mir gar nicht bewusst, dass große Teile meines Weltbild nicht aus eigener Anschauung stammten, sondern auf Fremdzeugnisse zurückgingen. So sehr vertraute ich unseren Medien. Den Glauben an die Kirche und an diverse Autoritäten hatte ich freilich schon früh verloren.
      Ein Freund hat mir letztens den Link zum Blog einer Frau geschickt, die auf der Veranstaltung in Hamburg Augen- und Ohrenzeugin der Oettinger-Rede gewesen ist. Er schrieb, er habe ihren Beitrag gut gefunden, „weil sie tatsächlich anwesend war und sozusagen aus erster Hand berichtet.“ Es ist natürlich auch ein Fremdzeugnis, aber interessant, dass ein Erfahrungsbericht im Blog als vertrauenswürdiger gilt. Ich glaube, dass unser Wahrheitsempfinden, was wir als real ansehen, auch ganz stark interessengeleitet ist.

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  2. Ich empfinde Realitaet sehr viel schwieriger einzuschaetzen,seitdem es das Internet gibt. Selbst Dinge wie wissenschaftliche Studien werden immer haeufiger nur zu Marketingzwecken durchgefuehrt! Ich finde das alles sehr beunruhigend, so schoen ist es da doch, dass man sich auf fallende Blaetter verlassen kann!

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  3. [zitat]Dann hätte sich ein Teil von dir aus der dritten Dimension in die zweite Dimension verflüchtigt,[/zitat]

    Lieber Jules,
    ich denke, so ein Effekt kann bei missglückten Zeitreisen auftreten. Darum ist es wichtig, den richtigen Reiseveranstalter zu wählen. Man kann heutzutage nicht vorsichtig genug sein! 😉

    Gruß Heinrich

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    • Lieber Heinrich, Sie als passionierter Fotograf wissen, dass der Effekt bei jeder (Porträt)fotografie auftritt. Wenn Sie ein Foto von sich betrachten, ist Dreidimensionalität ja nur noch scheinbar vorhanden. Und im Augenblick der Betrachtung reisen Sie in Ihre die Vergangenheit, in der das Bild aufgenommen wurde. Aber diese Zeitreise ist auch nur zweidimensional. Wesentliche Eindrücke aus der 3. Dimension fehlen. Wenn Sie einen Reiseveranstalter kennen, der komplettere Zeitreisen anbietet, verraten Sie mir doch die Adresse. 😉

      Futurologische Grüße,
      Jules

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      • Lieber Jules,
        die Sache wird dann futurounlogisch, wenn ich nun mein Fotoalbum aufschlage und im Gruppenbild meiner Konfirmation zappeln den Jungs die Beine. 😉
        Gruß Heinrich

        P.S. den Reiseveranstalter reiche ich nach, wenn ich die Qualität seines Angebots geprüft habe. Man will ja guten Internetfreunden nichts empfehlen, was nichts taugt!

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    • Ja, während die Verfrachtung in die 4. Dimension ein Gedankenspiel wäre, ist der von mir beschriebene Effekt real gegeben, nämlich immer wenn wir etwas Dreimensionales in der 2. Dimension abbilden. Danke für den Link zu deinem interessanten Text.

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