Ich und die Toskana-Fraktion

kategorie alltagsethnologie„Mein Arzt ist gestorben“, sagte der Mann zur Frau neben ihm. „War erst 59, zum 4. Mal verheiratet, ein neun Monate altes Kind und stirbt einfach!“ „Kein Wunder, bei den Lebensumständen“, hätte ich spontan sagen wollen, aber besann mich und löffelte schweigend meine Suppe. Das war im Lokal am Markt, wo ich seit einiger Zeit mittags hingehe. Am liebsten sitze ich an einem der beiden Fenster und kann beim Essen das Geschehen draußen beobachten. Hier kostet die Suppe 51 Cent mehr als im Biosupermarkt, aber diese 51 Cent sind gut angelegt, denn die Tagessuppe schmeckt viel besser als bei meinem alten Mittagstisch.

Früher habe ich das Lokal gemieden, denn mich schreckte das versnobte Volk, das bei milden Temperaturen draußen an den Tischen saß. “Hedonistisches Pack!“ habe ich gedacht. Doch aus der Nähe besteht auch das hedonistische Pack aus durchaus manierlichen Individuen, und die italienischen Betreiber des Lokals sind überaus freundlich. Man kennt mich bereits und weiß, dass ich vom Tagesangebot nur die Suppe will. Heute, als ich ging, ist mir erneut passiert, was ich mir nicht zugetraut hätte. Die Italienerin hinter der Theke rief mir „Ciao!“ hinterher und ganz mechanisch antwortete ich ebenso, nicht wie üblich „Tschüss!“ Bitte! Es ist eine lächerliche Attitüde, in italienischen Lokalen mit italienischen Brocken um sich zu werfen, wie es die Toskana-Fraktion gewöhnlich tut. Ich bin verleitet worden. Das kann jedem passieren.

„Ich habe ein Buch darüber“ Schnapsschuss: JvdL

Letztens saßen zwei Frauen am Fensterplatz. Eine war stolze Besitzerin eines Buches. Sie zog es gelegentlich hervor und redete beschwörend auf die andere ein. Was ich aufschnappen konnte, hörte sich esoterisch an. Endlich konnte ich den Titel sehen. Es war „Raus aus den alten Schuhen“ von, wie ich eben recherchiert habe, einem Scharlatan namens Robert Betz. Er hatte in der Frau eine überzeugte Adeptin. Sie gab für den alten Schuh, aus dem sie beide raus müssten, ein Beispiel: „Wenn ich jetzt über den da draußen sage, ‚das ist ein Arschloch!‘, dann mache ich mich zu seinem Opfer!“ Wieso denn das?, dachte ich, und auch ihre Gesprächspartnerin war nicht überzeugt und widersprach ausführlich. „Das sagt der aber nicht!“, meinte die Adeptin irgendwann, und: „So steht es im Buch!“

Schon erstaunlich, dass von den Druckmedien zwar Zeitung und Zeitschrift unter Glaubwürdigkeitsverlust leiden, das Buch aber bei esoterisch beeinflussten Menschen weiterhin als verlässliche Quelle gilt. „Ich habe darüber auch ein Buch!“, sagte mir letztens eine Exkollegin, nachdem sie mir in aller Breite ihre esoterischen Ansichten über Krankheit geschildert hatte. Zu Hause habe ich mal den Autor und Erfinder ihrer Heilslehre recherchiert. Das ist auch so ein dubioser Vogel. Aber was soll man machen? Das Leben wird immer komplizierter und wenn neuerdings sogar die Ärzte sterben, müssen Arschlöcher sagen, wo es lang geht, aber ohne Schuhe. Ciao!

23 Kommentare zu “Ich und die Toskana-Fraktion

  1. Schon vor Jahren, als ich mir mal die Frankfurter Buchmesse angetan habe, war ich erschlagen von der Masse der Ratgeberliteratur. Irgendwer muss uns offenbar sagen, was gut und richtig ist und wie wir glücklich, fit und schlank werden, ohne unsere Kinder zu vernächlässigen und unser Seelenheil zu gefährden. Ich hoffe, dass die meisten dieser Ratgeber gekauft und vergessen werden. Falls sie noch für Gesprächsstoff sorgen, haben sie vermutlich mehr erreicht, als ihre Autoren je zu hoffen gewagt haben. Von dem alten Schuhen hatten ich übrigens noch nicht gehört. Ich muss dann jetzt mal in die Buchhandlung.

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  2. Haben Sie gewusst, dass das im Österreichischen seit altersher gebräuchliche Grußwort »Tschau!« (phonetisch ähnlichlautend u. gleichbedeutend dem italienischen »Ciao!«) kein modischer Manierismus ist, sondern ein Lehnwort aus dem Venetischen, aus Zeiten der k.u.k. Donaumonarchie. »Tschüss!« sagt man hingegen in Österreich ausschließlich zu Leuten, die man duzt: Unbekannten gegenüber wäre es grob ungehörig (was österreichische Fernsehzuseher zu befremden pflegt, wenn sie von deutschen Moderatoren am Ende einer Sendung damit vermeintlich ungefragt geduzt werden.)

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    • Das wusste ich nicht. Vielen Dank für die Information. Dass ich solche regionalen Besonderheiten erfahre, ist einer der positiven Nebeneffekte unseres grenzüberschreitenden Kontaktes. Wikipedia weiß das über Ciao: „Das Wort stammt aus dem venezianischen Dialekt, wo sčiao [ˈst͡ʃao] (Diener) dem italienischen schiavo [sˈkjaːvo] entspricht. Verwandt sind die auf lateinisch servus („Sklave“) beruhenden Grußformen.
      Ich dachte, es wäre verwandt mit Tschüs. Das hörte ich von älteren Leuten noch als „Atschüss“ und „Atschö“, worin besser zu erkennen ist das franz. „a dieu“.

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  3. Vielleicht gilt ja das Buch, also, das echte, das mit den Seiten zum Blättern drinnen, als verlässlicher Begleiter, das man gern bei sich hat, während viele Zeitungen heutzutage, wohl meist zu Recht, ihre Glaubwürdigkeit längst und nachweisbar verspielt haben …

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      • Die Zeitung schreibt heute dies, morgen das, je nach Wetterlage. Das Buch ist unveränderbar und gibt die Meinung des Verfassers zum Zeitpunkt der Niederschrift wieder, egal, ob ich es morgen lese oder erst in 30 Jahren, es ist also frei, wenn man so will, von nachträglicher Manipulation. Die Thesen mögen richtig sein oder falsch, die Sprache zeitlos oder veraltet, es bleibt, wie es ist. Und dann natürlich, die Person des Autors, die eine wesentliche Rolle spielt, den man mag oder nicht, während der Zeitungsredakteur meist die Meinung der Redaktion, heutzutage, die der gegenwärtigen Regierung zu vertreten hat, ist der Buchautor meist tiefer ins Sujet eingetaucht und baut zum Leser gewissermaßen eine intime Beziehung auf, die, letztendlich wohl so manchen Schund entschuldigt. Die Verbannung einzelner Autoren, wie wir es heute erleben, weil sie eine Meinung vertreten, die sie „moralisch“ (gerade in Deutschland) nicht vertreten dürfen, hat dem Büchermarkt als solchem bislang nicht geschadet …

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  4. Ich sag in Italien immer Salve. Anfangs amüsierte mich dieser Gruß, weil er nach Asterix und Obelix klang. Bis ich mich daran gewöhnte und ich auch dadurch heimisch wurde.
    Ratgeber sind mir fremder als italienische Grußformeln. Zumindest die, die ein glücklicheres und zufriedeneres Leben versprechen. Denen glaube ich gar nichts.

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    • Bei deiner beruflichen Tätigkeit in Italien hast du vermutlich richtig gut Italienisch gelernt, bist keine von den Latte macchiato und Prosecco schlürfenden Deutschen, die es totschick finden, mit ihren mageren Italienischkenntnissen zu protzen.
      Ebenso habe ich nicht gedacht, dass du Ratgeber-Bücher überhaupt nur angucken würdest, liebe Mitzi.

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  5. Pingback: Kleine Lektion in Fremdschämen

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