Des lieben Gottes blinder Fleck – über Alltagsmythen

kategorie alltagsethnologieVon Freitag auf Samstag besuchten mich meine Tochter mit Mann und meinen beiden Enkelkindern. Derweil meine 5-jährige Enkelin eine Banane aß und dazu Wasser trank, fragte ich, ob es nicht gefährlich fürs Kind wäre, zur Banane Wasser zu trinken. Weder meine Tochter noch ihr Mann teilten die Bedenken. Ich sagte, mich als Kind hätten die Erwachsenen immer davor gewarnt, Wasser auf Obst zu trinken, weil man davon Bauchschmerzen bekäme. Wir kamen überein, dass es sich um einen Alltagsmythos handeln muss. Meine Tochter erinnerte an das Ballspiel „Kirschen gegessen.“

Kinder stehen im Kreis und werfen sich einen Ball zu. Wer den Ball nicht fängt oder fallen lässt, verliert eine Lebensstufe und scheidet am Ende aus. Die Stufen heißen „Kirschen gegessen – Wasser getrunken – Bauchweh gekriegt – Fieber bekommen – ins Krankenhaus gekommen – scheintot – tot.“

Was hat es auf sich mit dem Mythos, der sich sogar zum Kinderspiel umgeformt hat und so nachhaltig ins kollektive Gedächtnis eindringen konnte? Meine Tante Anna hatte in meiner Kindheit vor dem Haus noch eine Pumpe. Wasser förderte man mit einem Pumpenschwengel, den man einmal oder mehrmals hob und senkte. In den Tiefen der Pumpe begann es zu gurgeln, dann platschte ein Schwall eiskaltes Wasser aus ihrem breiten Maul. Das Wasser war klar, aber enthielt gewiss viele Mikroorganismen. Aus der Zeit, als Trinkwasser noch nicht wirklich sauber war, stammen diese Warnungen. Aus dem gleichen Grund wurden Kinder gewarnt, nicht zuviel Wasser zu trinken. Davon bekäme man „Läuse im Bauch“

„Bei Gewitter darf man nicht essen und trinken, denn das ist dem lieben Gott nicht wohlgefällig.“
(Zitat: Elmsagen.de, Foto: Trithemius)

Für den Mythos: „Bei Gewitter darf man nicht essen“ fand ich ausnahmsweise hier eine Reihe guter Erklärungen. Sonst ist die Seite nicht gerade vertrauenswürdig. Völlig zum Mythos umgewandelt findet sich der Rat bei Elmsagen.de (Zitat in der Bildunterschrift). Als Quelle ist „meine Mutter“ angegeben.

Dass einer bei Gewitter badet, gefällt dem lieben Gott gewiss auch nicht, weil er Nacktheit grundsätzlich unkeusch findet, weshalb schon Adam und Eva sich schämten. Als Kind stellte ich mir vor, wenn der liebe Gott nackte Menschen sehen würde, hätte er, wo die unkeuschen Stellen sind, einen blinden Fleck. Der Rat, bei Gewitter nicht zu baden, stammt gewiss aus der Zeit als metallene Badewannen noch nicht extra geerdet waren.

Ich esse grundsätzlich meinen Teller leer, hab vermutlich den Mythos verinnerlicht: „Wenn du deinen Teller leer isst, dann gibt es morgen schönes Wetter.“ Der Mythos geht auf eine Fehlübersetzung aus dem Plattdeutschen zurück: „Dann geft es mon schönes wedder“ (= schönes wieder), nicht Wetter. Gemeint ist, dass es erneut etwas Leckeres gibt.

Ein interessanter Fall sind Mythen, die Familienbesitz zu sein scheinen, in Wahrheit aber Volksgut sind, beispielsweise der Sonntagsbraten-Mythos. Marion W., eine Referendarin, die ich in 1990er Jahren ausbildete, kam aus dem Westerwald und erzählte folgende erstaunliche Geschichte:

Meine Mutter hatte die Angewohnheit, immer ein kleines Stück vom Sonntagsbraten abzuschneiden. Auf die Frage nach dem Grund sagte sie, das habe sie von ihrer Mutter so gelernt. Die Großmutter jedoch wusste auch nicht, warum sie es tat, ihre Mutter habe es ihr einmal gezeigt. Erst die Urgroßmutter konnte die Sache aufklären. Sie habe den Braten früher immer abgeschnitten, weil er nicht ganz in die Backröhre passte.

Marion schien selbst daran zu glauben, dass die Sache sich in ihrer Familie zugetragen hatte, und so tat ich es auch, fand aber zu meinem Erstaunen die Geschichte als Anekdote beispielsweise hier, aber es ist nur eine von mehren Belegstellen.

Ein ähnlicher Fall ist der: Meine Exfreundin Mimi zitierte einmal ihren Großvater:

„Wer nie im Bette Kekse aß, weiß nicht wie Krümel pieksen.“

Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Großvater den Spruch erdacht hatte. Er ist aber, wie ich später herausfand durchaus Volksgut, nämlich die Parodie einer Passage aus dem Lied des Harfners in Goethes Roman Wilhelm Meister:

Wer nie sein Brot mit Tränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.

Vermutlich trägt jeder von uns Alltagsmythen mit sich herum und richtet sein Verhalten danach aus. Über weitere Nachweise freue ich mich.

32 Kommentare zu “Des lieben Gottes blinder Fleck – über Alltagsmythen

  1. Den Spruch mit dem „Brot im Bette“ hat mein Opa auch gerne gebracht; er schien damals nicht ganz unbekannt zu sein (ebenso wie die Verballhornung der „Internationalen“ u.ä.).
    Eine Kindergärtnerin von mir und meinem Bruder war eine Meisterin dieser „Läuse im Bauch“-Sprüche, und sobald einer dieser Sprüche kommt, fällt uns als erstes nicht die gesundheitliche Konsequenz ein, sondern ihr Name, und wir fangen schallend an zu lachen.
    Übrigens darf man Kirschkerne und Kaugummi auch nicht runterschlucken, weil entweder ein Kirschbaum im Bauch wächst oder der Blinddarm sich entzündet und raus muss. Ich hab gar keinen mehr, ich darf inzwischen runterschlucken, was immer ich will.
    Irgendwann habe ich mal einen Blogeintrag über dieses Thema geschrieben, und zu den wichtigen Dingen, die da zutage traten, gehörte auch:
    – Wenn du Fratzen schneidest und die Uhr schlägt zwölf, bleibt dein Gesicht so stehen.
    – Wenn du unangeschnallt fährst, stirbt irgendwo ein Einhorn (DAS wusste ich vorher nicht!)
    – Wenn der erste Kuckuck im Jahr ruft, muss man mit seinem Geld klimpern, damit man immer welches in der Tasche hat (hat dieses Jahr nicht geklappt, verdammt)
    – Keine Schirme in der Wohnung aufspannen, das bringt Unglück (vermutlich hätte ich den Schirm nicht direkt nach dem Kuckuck aufspannen sollen)
    Und so weiter…

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    • Dankeschön für deine Beispiele. Das Schirmaufspannverbot lernte ich erst durch die Frau kennen, deretwegen ich nach Hannover gezogen bin. Jahrzehnte hatte ich meinen nassen Schirm aufgespannt, ohne zu wissen, welch schreckliche Folgen das haben könnte. Dabei scheint man allgemein von der Gefahr zu wissen. Selbst die Queen lässt den Regenschirm erst vor dem Buckingham Palace aufspannen, habe ich bei wdr.de gelesen. Aberglaube sucht sich übrigens immer neue Erscheinungsformen. In einem Skater-Forum las ich: „Regenschirm in der wohnung aufspannen, bringt die bullen ins haus.“ Warum die Queen wohl Angst vor den Bullen hat?
      Das mit dem Einhorn wusste ich auch nicht. Sind Einhörner etwa ausgestorben, weil so viele Leute unangeschnallt gefahren sind?

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      • Ich habe einen Bekannten, der diesen Aberglauben einfach nicht ausstehen kann. Er hat inzwischen den Tick, unter jeder Leiter hindurchgehen zu müssen, nur um sich zu beweisen, dass das kein Unglück bringt. Wenn er nicht unter der Leiter hindurch geht, ist die ganze Woche versaut.
        Bei den bunten Farben, die die Queen immer trägt, gehen die Bullen vermutlich auf sie los wie bei einem Torero, das ist gefährlich.
        Und die meisten Kinder fahren angeschnallt – ich versuche noch, herauszubekommen, wohin mit all den Einhörnern, die sich jetzt so heftig vermehren…

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      • Alle (sic!) von Kollegin Feldlilie genannten Beispiele (ausgenommen das Einhorn) sind auch mir aus der Kindheit geläufig: was offenkundig ihre überregionale Verbreitung belegt. Nach Obstverzehr kein Wasser zu trinken, weil man davon Läuse im Bauch kriegte, galt explizit für jegliches Steinobst, also Kirschen, Pfirsiche, Marillen, Zwetschken usw., nicht aber für anderes Obst. Die Begründung dafür ist mir unbekannt.
        Ein Brotlaib durfte niemals auf dem Rücken liegend aufbewahrt werden, das brachte Unglück.

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        • Die Mikroben in unsauberem Trinkwasser bringt das Obst im Magen zur Gärung, wodurch in Verdauungstrakt Gase entstehen, die als Blähung schmerzhaft sind. Das mit dem Brotlaib ist mir neu. Danke für den Hinweis!

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  2. Mir drohte meine Oma unter finstersten Grimassen, dass demjenigen der nach seinen Eltern schlägt, später einmal die Hand aus dem Grab wüchse. Keine Ahnung woher das kam, es hat mir aber als Kind unzählige extrem furchtbeladene – aber unumgängliche – Überquerungen des örtlichen Friedhofes beschert. Immerzu hielt ich nach aus den Gräbern wachsenden Händen Ausschau, musst aber feststellen, dass wohl niemand ausser mir derartige Freveltaten begangen hatte.

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  3. Das ist ja lustig – ich kannte den Witz mit dem Braten als jüdischen Witz, und mit einem Huhn. Beim Nachschauen habe ich ihn aber nur mit Rinderbrust gefunden:
    http://www.pass.to/tgmegillah/njokes.asp
    Die Pointe gefällt mir hier viel besser als in der deutschen Version. Die Urgroßmutter antwortet nämlich auf die Frage „Warum schneiden wir den Braten immer ab?“ sinngemäß: „Ich weiß nicht, warum IHR den Braten abschneidet. Ich habe es getan, weil mein Schmortopf nicht groß genug war.“

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    • Danke für den Nachweis. Die Geschichte ist in der jüdischen Fassung ja zum Witz ausgeformt mit Betonung auf die Pointe, während meine Fassung sich als moderne Volkssage entpuppt hat (engl. FAOF-Tales „Friend of a friend tales“). Die jüdische Witzfassung lässt auf ein hohes Alter des Motivs schließen. Da gilt wieder die Bemerkung von Bierce, dass die meisten bekannte Witze aus dem Eozän stammen.

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  4. Mir hat Muttern gern gedroht: „Wer nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdecke liest, macht sich die Augen kaputt!“ Erfolglos übrigens. Und trotzdem brauche ich selbst Jahrzehnte danach noch immer keine Brille 🙂
    (Und auch dem Hinweis auf Tätigkeiten, die angeblich blind machen sollen, schenke ich keinen Glauben!)

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  5. Tatsächlich prägen sich einem die „eingetrichterten“ Warnungen ein. So auch mit der Milch. Wenn Gewitter war hat meine Mutter immer hektisch zelebriert: „Mach‘ de Kiehlschrank zu, die Milch werd sauer!“. Aha. Ich denke das lag wohl daran, dass bei Sommergewitter die Luft schwül und warm ist, was früher eher zu sauerer Milch geführt hat als heute…..Auch wenn man sich da sicher heute keine Gedanken mehr machen muss, ertappe ich mich, dass ich sofort dran denken muss, sobald einer den Kühlschrank im Sommer auf macht. Genauso mit Essen vor dem Sprunk in’s kalte Schwimmbadwasser. Schlimm, schlimm 🙂

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  6. mir bringen schuhe auf dem tisch unglück, sind nach jedem schielen leider die augen seltsam stecken geblieben, und verursachen semmeln würmer im bauch. (letzterem hat schon die volksschullehrerin meiner schwester heftig widersprochen, wodurch sie die bis dahin unangefochtene autorität unseres vaters doch ein wenig untergrub.)

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    • Um manchen Kindheitsmythos ist es aber auch wirklich schade. So lange wie möglich habe ich an dem Glauben festgehalten, dass Abendrot nichts anderes sei als der Widerschein des Christkindlichen Backofens in welchem das ganze Jahr über die leckeren Weihnachtsgebäcke erzeugt wurden, damit zum Fest auch wirklich jeder Mensch genug davon bekommen konnte. Um ehrlich zu sein, schleicht sich dieser Gedanke noch heut in die eine oder andere Sonnenuntergangsbetrachtung.

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  7. Eine schöne Sammlung von Alltagsmythen. Erstaunlich wie sehr man an manchen hängt, selbst wenn man um ihre Herkunft weis. In meiner Kindheit sagte man auch, das man die kleinen winzigen hellblauen Blumen auf der Wiese nicht pflücken darf. Wir nannten sie Gewitter Blumen und…klar, beim pflücken würde es ein Gewitter geben.

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  8. Die Sache mit dem Obst und dem Wasser, mit dem Gewitter und baden, den Teller leer essen, gab es in Ösiland zu meiner Kindheit auch. Mythen scheinen also keine Ländergrenzen zu kennen.

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