Maulspitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein – 3 Versuche

Eiche
Gestern am Nachmittag versuchten zwei Jungen die Eiche vor meinen Fenstern zu ersteigen. Als ich zum Einkaufen ging, hatten sie ein Seil über den untersten Ast geworfen, und derweil einer sicherte, versuchte der zweite, sich hochzuziehen. Später fand ich ihn zufrieden rittlings auf dem Ast sitzen. Schon vorher war mir ein Schwank eingefallen, den ich in einem gut 200 Jahre alten Buch bei Jacob Grimm gelesen hatte. Im Internet fand ich zwei Varianten der Geschichte, womit die Herkunft des folgenden Sprichworts erklärt wird: „Maulspitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein.“

Variante 1
Zwei Bauernburschen gehen in den Wald und wollen Hängen spielen. Der erste legt sich die Schlinge um den Hals, und sie verabreden, er solle pfeifen, wenn er spürt, dass es zu eng wird. Dann wirft der zweite das Seil über einen Ast und zieht den anderen hoch. Wie der Bursche spürt, dass ihm die Luft knapp wird, versucht er zu pfeifen, bringt aber keinen Ton hervor, weil die Schlinge ihm den Hals zuzieht. Und der da unten lacht und ruft ihm zu: „Maul spitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein!“ (frei nach Jacob Grimm)

Variante 2 – eine Zeitungsmeldung von 1841
Maulspitzen gilt nichtIn Schöppenstadt wurde einst ein Übeltäter verurteilt, gehängt zu werden. Der arme Sünder bat um Begnadigung. Da beratschlagten die Richter mit folgendem Ergebnis: Wenn der Delinquent mit dem Strick um den Hals noch pfeifen könne, sollte er begnadigt werden. Nun wurde das Urteil vollstreckt. Da sahen die Richter den armen Sünder das Maul spitzen und murmelten unter sich, dass man ihn begnadigen wolle. Der Älteste aber sagte: „Hier hilft kein Maulspitzen. Es muss gepfiffen sein.“ (Kourier an der Donau: Zeitung für Niederbayern. 1841,1/6)

Variante 3 – aus einem ostfriesischen Jahrbuch
Das Sprichwort lautet in Ostfriesland: Hier helpt kîn Mûlspitzen, der moet fleitet worden. = Keine halbe Massregel, es muss ganz gethan sein.

Der Volkswitz erzählt von den Felings, sie seien nur so lange ehrliche Handelsleute gewesen, als man ihnen scharf auf die Finger gesehen habe. Schlechtes Ellenmass, doppelter Preis und falsche Rechnung seien bei ihnen an der Tagesordnung. Die Ostfriesen aber hätten diese Kniffe erkannt; es habe nicht selten so ein spitzbübischer Handelsmann im Thurm (Ortsgefängniss) einige Wochen unfreiwillige Musse erhalten. Auch zum Hängen und Köpfen sei es schon gekommen. Als einst mehrere Felings beisammen waren, erzählten sie sich von den Criminalerlebnissen in ihrem Geschäft, wobei sie in stufenweiser Herzählung bis zum Galgen gelangten. Da fiel es ihnen ein, einmal an sich selbst zu erproben, wie das Hängen wol schmecken möge; und sie kamen überein, Mann für Mann in geordneter Reihenfolge das Hängen zu versuchen. Man hatte einen Strick zur Hand und wählte den ersten Baum zum Querholz. Der erste Feling legte sich das Tau um den Hals; ehe er aber in die Höhe gezogen wurde, ward noch ausgemacht, sobald der Hängende einen Pfiff mit dem Munde thue, wolle man ihn losschneiden. Der erste Galgenbruder wurde nun aufgezogen und festgemacht. Der Strick schnürte sich gleich anfangs so fest um die Kehle, dass er nicht im Stande war, ein Zeichen mit dem Munde zu geben; er streckte im Sterben nur die Zunge aus dem Halse heraus. Die Untenstehenden aber, die glaubten dem Genossen geschähe noch lange kein Leides, freuten sich der Gesichter, welche der Probehängende schnitt und lachten aus vollem Halse dazu. Und obgleich sie endlich merken mochten, dass dem Zappelnden zu viel geschähe, beharrten sie doch bei der gemachten Verabredung und riefen: »Hier helpt kîn Mûlspitzen, der moet fleitet worden.« Es erfolgte aber nach langem vergeblichen Harren kein Pfeifen; man bekam nur einen Erhängten vom Baume herab. Dies Probehängen soll bei Lübbersfehn geschehen sein, wo man den Baum zeigt, der als Galgen gedient hat. (Ostfries. Jahrbuch)

(Anmerkung der Redaktion: „Fehling“ ist in Leer (Ostfriesland) als Familienname bekannt (Nachweis: Manfred Voita. Der Familienname Fehling kommt eventuell auch vom mittelniederdeutschen „velinge“ für „öffentlich verkaufen, handeln, feilhalten“ – was dann nichts weiter als „Händler“ bedeutet. (Nachweis: Feldlilie))

28 Kommentare zu “Maulspitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein – 3 Versuche

  1. Da fragt man sich, warum das Hängen am eigenen Hals überhaupt getestet werden will. Es erinnert mich an die armen (oder dummen) prominenten Kerle, von denen man alle paar Jahre hört, dass wieder einer nackt und mit Schlinge um den Hals in einem Hotelzimmer gefunden wurde. Das einer einen gespitzten Mund hatte ist mir noch nicht zu Ohren gekommen.
    Besser als das kurze Bild in meinem Kopf gefällt mir die Eiche vor deinem Fenster, lieber Jules. Der Baum ist nichts für Anfänger. Und so ein Baum ist besonders schön, wenn ein Kind ihn erklommen hat.

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  2. Maulspitzen gilt nicht, gepfiffen muss sein – das Sprichwort kannte ich nicht, werde es aber ganz gewiss kurzfristig zur Anwendung bringen – wenn es z. B. um die Kehrtwende der SPD in der Rentenfrage geht. Die Frau eines Freundes spricht ein gewaltiges ostfriesisches Platt, eines, das mich manchmal ratlos zurücklässt, wie ich noch vor wenigen Tagen erfahren durfte. Die werde ich mal dazu befragen, ob dieses Sprichwort noch im Plattdeutschen lebt. Der Name Fehling ist mir übrigens auch aus Leer bekannt.

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  3. Was lernen wir daraus?
    Auch hängen üben will gelernt sein.
    Der Pfiff, als Zeichen für das Beenden der Übung, erscheint mir wenig probat. Vielleicht sollte man es mit kreuzen der Beine oder der Arme versuchen? Aber Achtung: meist ist ja ein missglückter Versuch gleichzeitig der letzte … 🙂

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    • „Maulspitzen gilt nicht, …?“ Weil du jetzt den drastischen Kontext kennst? Sonst wäre er doch harmlos, oder?“

      „bis zur Vergasung“ stammt laut Lutz Röhrich (Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten) aus der Chemikersprache, meint ursprünglich den Übergang von erwärmte Flüssigkeiten in einen gasförmigen Aggregatzustand. Durch Auschwitz bekam die Wendung eine makabre Nebenbedeutung, weshalb sie nicht mehr „gedankenlos“ geschrieben werden kann.

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      • Ja klar, gruslig werden Sprüche durch den Kontext und könnten durch einen anderen Kontext auch eine ganz andere Qualität bekommen ….. Und dann kommt oft sicher auch noch ein ganz persönlicher Kontext hinzu.
        Kommunikation durch Sprache hat so viele Fallstricke ..

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