Vor ziemlich genau 10 Jahren fuhr ich mit meinem Freund Wim einen heute aufgegebenen und bald vergessenen Fernradweg, die Kaiserroute von Aachen nach Paderborn. Für die 480 Kilometer lange Strecke hatten wir drei Tage vorgesehen, was wir locker hätten schaffen können, wenn mein Trainingszustand besser gewesen wäre. Für einen solchen Weg wünscht man sich ein Wetter wie dieser Tage, aber so prächtig schien die Frühlingssonne nur bei unserem Aufbruch. Den Fahrtbericht habe ich ziemlich bald nach der Tour verfasst, so dass die Eindrücke noch frisch waren. Da ich nicht weiß, wie es um den Trainingszustand der Teestübchenbesucher und – besucherinnen bestellt ist, veröffentliche ich den Text in je zwei Tagesetappen und hoffe, dass wir Sonntag ans Ziel gelangen.
1. Tag Morgen
Durch die Alte Heimat
Oben im frühlingshaften Wald bei Süssendell nahe Aachen wurde mir zum ersten Mal bewusst, auf welcher Route Wim und ich fuhren. Die Kaiserroute Aachen-Paderborn, das zeigten die sechseckigen Hinweisschilder mit den Richtungspfeilen. Doch was heißt es, auf den Spuren Karls des Großen zu fahren? Hat er etwa eine Pilgerfahrt nach Paderborn unternommen, und lagerte er in freudiger Erwartung unter den ergrünenden Bäumen, umringt von ein paar frommen Männern? Eher nicht, sagte Wim – Karl war unterwegs mit seinem Heeresbann, um die Sachsen zu strafen, die nicht von ihren heidnischen Göttern lassen wollten. Und während Karl im Jahre 782 noch bei Süssendell lagerte, sind da bei Verden 4500 Sachsen, die ihrem Tagwerk nachgehen und nicht ahnen, dass sich einer aufgemacht hat, ihnen den Kopf abzuschlagen.
Mir fiel das Wort von Kafka ein:
Kalligraphie: Trithemius (zum Vergrößern bitte klicken)
Natürlich ist nicht nachvollziehbar, wo Karls Heeresbann tatsächlich entlang gezogen ist. Es gibt keine archäologischen Funde, die seinen Weg belegen, und gar die Enthauptung der 4500 Sachsen ist nicht bewiesen. Sollten wir auf unserer Tour Nachkommen von heidnischen Sachsen finden, würde es jedenfalls bei einem „Guten Tag“ bleiben. Ich wüsste nämlich im Moment nicht, welche Religion man ihnen „freundlich empfehlen“ sollte. Übrigens empfing uns kurz vor Paderborn junges Volk mit der Laola-Welle, doch davon viel später.
Wir folgten am ersten Tag nicht ganz der Kaiserroute, denn wir wollten ein wenig abkürzen. Es ging in Richtung meiner Heimat. Vorher jedoch, bei Bergheim, war die Welt ein wenig in Unordnung. Hier hat man wegen der Braunkohle die Straßen derart verlegt, dass es schwer war, sich zurechtzufinden. Der fromme Rheinländer hat ja eigentlich Bodenhaftung. Bei ihm werden die Verstorbenen noch „In die Ewigkeit abberufen“, wie ich im Aushangkasten einer Kirche sah, die gleich zwei Heiligen gewidmet war. Doch ökonomische Zwänge und ein bisschen Gier haben dazu geführt, dass dieser fromme bodenständige Rheinländer seine Heimat ans RWE verkauft hat.
Der Ort Niederaußem ist ein bedrückendes Beispiel. Im Vordergrund eine schöne alte Kirche. Mausklein wirkt sie vor den riesigen Kühltürmen dahinter. Wenn du eine bildhafte Metapher haben willst für den Bedeutungsschwund der Religion in einer technisierten Welt, dann findest du sie hier. Neben den Kühltürmen hat das RWE ein gewaltiges neues Kraftwerkgebäude errichten lassen. Man sieht ein fünfstöckiges Bürogebäude an der Seite, das in normaler Umgebung gewiss als großes Haus gelten könnte. An dem Koloss aber ist es wie ein winziges Schwalbennest, das zu Boden gerutscht ist.
In Rommerskirchen trafen wir wieder auf die Kaiserroute. Wir fuhren auch an dem Haus vorbei, von dessen Balkon ich einmal in der Nacht zum ersten Mai mit dem Luftgewehr beschossen worden bin. Das Versteigern von Dorfschönheiten als Maibräute ist eher in der Gegend um Düren üblich. Wir sahen unterwegs Plakate, wo es angedroht wurde. In meiner Heimat ist die Nacht zum ersten Mai eine Freinacht. Man darf dann allerhand Dinge, die man üblicherweise nicht darf, zum Beispiel Fensterläden und Hoftüren aushängen und natürlich Maibäume setzen.
Uns war gegen Morgen eingefallen, dass wir einem Mädchen in Rommerskirchen noch einen Maibaum setzen mussten. Den versuchte ich im Vorgarten dieses Hauses zu besorgen. Der Baum war hartnäckig, ich bekam ihn nicht ab, da ich nur eine kleine Axt hatte. Da trat der Hausbesitzer im Schlafanzug auf den Balkon, in der Hand eine Flobert. Er legte wortlos sein Luftgewehr an und beschoss mich. Zum Glück dämmerte es gerade erst, da hat er nicht getroffen. Das Mädchen bekam dann leider keinen Maibaum. Das Setzen von Maibäumen ist ein altes Fruchtbarkeitsritual. Sie wird wohl kinderlos geblieben sein.
Vor Nettesheim hatte ich endlich das richtige Heimatgefühl. Man kann dort bis zum Horizont sehen. Es gibt nur Felder und Pappelreihen. Diesen weiten Horizont liebe ich, denn er lässt Platz für eigene Gedanken. Hinter dem dicht bewaldeten strategischen Bahndamm, auf dem niemals Gleise gelegen haben, endlich die Sicht auf das Dorf. Es hat einmal den dritten Preis im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ gewonnen. Allerdings hat das nichts mit meinen Gefühlen zu tun, wenn ich über den Kastanien des Gutshofes den Kirchturm von St. Martinus sehe. Auf der Ecke ein altes Transformatorenhaus, aus dunkelroten Klinkern erbaut. Dort habe ich in meiner Jugend trommeln geübt. Freitagabends trommelten wir am Trafohaus „Alte Kameraden“ oder den „Lockmarsch“; ich spielte im Tambourkorps. Später spielte ich Schlagzeug und übte im Dachgeschoss der Schule drüben hinterm Bach, wo wir auf zwei Etagen wohnten. Da klingelte einmal eine Schülerin bei uns. Die Lehrerin bitte darum, ich solle eine Pause machen, denn die Kinder würden im Unterricht den Rhythmus mittrommeln.
Im Ort erkannte ich niemanden. Ich bin einfach schon zu lange weg. Doch manchmal war ich zum Schützenfest noch hier. Vor ein paar Jahren stand ich neben meinem alten Schulkameraden Juppi am Denkmal und schaute mir die Parade an. Er ist der Dachdecker des Ortes und nie weg gewesen. Für ihn war die Parade eine fachmännisch zu beurteilende Angelegenheit. „Dieses Tambourkorps hat zu früh eingeschwenkt“, sagte er, und jenes habe „keinen Zack.“ Die aus Anstel dagegen hätten ihre Sache gut gemacht. Ja, die Ansteler waren schon zu meiner Zeit beneidenswert zackig gewesen. Interessant, wie sich auch derlei Traditionen über die Generationen hinweg erhalten. Ich erinnere mich noch gut an den samstäglichen Fackelzug zum Schützenfest. Der alte Bürgermeister hielt am Kriegerdenkmal jedes Jahr die gleiche Rede, worin er „die Gefallenen der beiden Weltkriege“ gedachte. Mit den Fällen nahm er es nicht so genau. Er war Bauer, kein Grammatikexperte.
Wenn zeugungswillige junge Männer jetzt schon mit Luftgewehren bedroht und beschossen werden, ist die hitzige Debatte über die abnehmende Bevölkerungsdichte in und um Rommerskirchen durchaus verständlich … 🙂
LikeGefällt 3 Personen
Das ist in der Tat witzig kommentiert. Ich musste sehr lachen, vielen Dank, Herr Ösi!
LikeLike
Hmmm… Karl der Große ist also mit seinem Fahrrad von Aachen nach Paderborn gefahren, und ihr radeltet hinterher, auf der Suche nach Nachkommen von Sachsen (was beweisen würde, dass nicht ALLE Sachsen enthauptet wurden, und überhaupt, was macht man mit so vielen Köpfen???).
Ich sollte den Schlauch in meinem Fahrrad wechseln. Auf so geschichtsträchtigen Spuren wandele ich gewöhnlich zwar nicht, aber zum nächsten Supermarkt könnte ich es noch schaffen…
LikeLike
Du wirfst interessante Fragen auf, die ich mir ähnlich auch gestellt habe. Wie muss man sich Karls Heereszug gegen die Sachsen vorstellen? Das römische Wegenetz wird im 8. Jahrhundert verfallen gewesen sein. Sonst gab es keine Fernstraßen wie die komfortabel ausgebaute Kaiserroute. Vermutlich folgte man Flussläufen, soweit es ging. Aber es muss elendes Reisen gewesen sein. Ein Heer musste unterwegs verpflegt werden. Da hatten die Bauern Pech, die an seinem Weg lagen.
Dann die vielen Delinquenten. Den historischen Quellen nach sollen sie an einem Tag enthauptet worden sein, wobei die hohe Zahl von manchen Historikern angezweifelt wird.
https://de.wikipedia.org/wiki/Blutgericht_von_Verden
Es gibt natürlich noch Sachsen zwischen Weser und Aller, aber weil sie von Karl unterworfen wurden, heißen sie Niedersachsen. 😉
In der Idee, dein Fahrrad wieder flottzumachen kann ich dich nur bestärken.
LikeLike
Mein Bruder ist Historiker. Und „schriftstellt“ in seiner Freizeit, genau wie ich. In seinem letzten Buch hat er (unter dem Vorwand einer ganz anderen Geschichte) den Beginn der Kreuzzüge im Jahre 1095 geschildert (okay, nein, ein Jahr später) und diese Schilderung gefällt mir richtig gut. Ich kann mir vorstellen, dass solche Reisen damals – auch bei Karl – genau so abgelaufen sind.
Ich werde ihn mal fragen, was er zu den fallenden Köpfen von Verden sagt…
LikeGefällt 1 Person
Das wäre prima. Ich dachte eben, als ich den 2. Teil veröffentlichte, wie schwer es gewesen sein muss, die Flüsse zu überqueren.
LikeLike
Pingback: Die Kaiserroute – Auf einem alten Fernweg (1b)
Zunächst einmal vielen Dank, dass du auf den Trainingszustand deiner Leser Rücksicht nimmst. So muss ich nicht befürchten, auf meinem ollen Fünf-Gang-Rad, abgehängt zu werden. Die Vorstellung bis Sonntag dem Kaiserweg und deinen Erzählungen zu folgen gefällt mir und passt hervorragend zum warmen Frühlingswetter.
Den Brauch einen Maibaum zu setzen gibt es bei uns nicht (und erklärt endlich warum ich kinderlos bin). Bei uns werden die noch nicht aufgestellten Maibäume nur geklaut und daher von den Männern des Dorfes über Wochen Tag und Nacht bewacht. Den Einsatz von Luftgewehren oder anderen Waffen schließe ich dabei nicht aus. Die Freinacht kenne ich dagegen auch. Selbst in der Münchner Innenstadt ist es ratsam, sein Fahrrad in dieser Nacht nicht draußen stehen zu lassen – man könnte es am nächsten Morgen auf einem Baum wieder finden.
LikeGefällt 1 Person
Natürlich würden wir dich niemals abhängen, liebe Mitzi, sondern dich fürsorglich in die Mitte nehmen und dir Windschatten geben. Ich bin froh, dass du dich mit auf den Weg machst. Mit dem Fünfgangrad hättest du allerdings bei dem „Fahrradexperten“ auf der Fähre schlechte Karten gehabt. 😉 Danke für den Bericht von den Münchner Maibräuchen. Maibräuche unterscheiden sich regional stark. Hier in Hannover gibt es keine. Es sind halt Protestanten, in allem ein bisschen karg, pflanzen sich aber trotzdem fort. (Das zu deiner Vermutung.)
LikeGefällt 2 Personen
Ach schade, ich dachte einen Grund gefunden zu haben 😉
Danke für den Windschatten!
LikeGefällt 1 Person
Im protestantisch/reformierten Ostfriesland sind Maibäume üblich, also liegt es wohl nicht unbedingt an der Konfession.
LikeGefällt 1 Person
Danke für die Information. Einen Maibaum zu setzen, ist sicher ein heidnischer Brauch. Offenbar wurde er bei der Christanisierung nicht überall nachdrücklich unterdrückt.
LikeGefällt 1 Person
Meistens reicht es ja, die alten Symbole mit neuen Inhalten aufzuladen, so, wie man ja auch an den heiligen Stätten der Sachsen gern mal eine Kirche baute.
LikeGefällt 1 Person
Ja, ich musste als Kind sogar bei den Bittprozessionen vor Christi Himmelfahrt mitlaufen und habe erst später erfahren, dass diese Form der Flurbegehung ein alter germanischer Brauch war, bei dem die Grenzsteine gesichtet wurden.
LikeGefällt 1 Person
Pingback: Die Kaiserroute (2a) – Neandertaler lieben Gelsenkirchener Barock
Pingback: Die Kaiserroute (2b) – Bei den wundersamen Chinesen
Pingback: Kaiserroute (3a) – Frostbeulen und Sonnenbrand
Pingback: Kaiserroute 3b – Ein glücklicher Abend
Pingback: Kaiserroute (4) – La Ola vor Paderborn