Da ich unter Pseudonym schreibe, kann ich ein Bekenntnis wagen, das ich vorausschicken will, um zu erklären, warum auf meiner Fensterbank Bruchstücke einer Grabplatte liegen. Der Grund ist nicht morbid wie es scheinen mag, sondern nur schräg wie die Phase in meinem Leben, wozu die Bruchstücke gehören. Mit 48 Jahren stand ich vor den Bruchstücken meiner Ehe. Meine Frau hatte sich von mir abgewandt, unsere gemeinsamen Kinder waren inzwischen selbstständig – mein Leben dümpelte dahin. In dieser Phase lernte ich eine zehn Jahre jüngere Frau kennen. Ich nenne sie in meinen Texten Lisette. Sie trug zwar einen Ehering, doch ihr Mann war ein Jahr beruflich im Ausland, und sie erweckte den Anschein, dass ihre Ehe nur noch auf dem Papier bestünde. Als der Mann nach drei Monaten zurückkehrte, fand er das gar nicht, aber ich war bereits rettungslos in seine Frau verliebt. Es folgten fünf Jahre einer innigen Beziehung voller Heimlichkeiten und emotionalem Stress für alle Beteiligten, bis sie sich endlich von ihrem Mann trennte. Erst nach sieben Jahren gelang es mir, mich aus der Verstrickung zu befreien. Aber es war, als würde ich mir einen Arm absägen. Aus diesem Gefühl heraus begann ich zu bloggen. Ich schrieb mich frei.
Während der Zeit der Heimlichkeiten fuhr Lisette einmal mit ihrer Mutter nach Banneux, einem Wallfahrtsort in den belgischen Ardennen. Kurz vor dem Ortseingang sah sie einen Feldweg, dessen tiefe Schlaglöcher nicht mit gewöhnlichem Schutt zugekippt waren, sondern mit Bruchstücken von Grabplatten, wie man sie überall auf wallonischen Friedhöfen findet. Bei aufgegebenen Gräbern ist man in der Wallonie nicht zimperlich. zerschlägt die Grabplatten mit Vorschlaghämmern und lässt die Trümmer pietätlos herumliegen. Hier dienten sie sogar der Wegbefestigung für die Reifen von Traktoren. Lisette hielt ihr Auto an und sammelte einige Bruchstücke für mich ein, weil sie wusste, dass ich mich für alle möglichen Aspekte von Schriftverwendung interessierte.
Zu sehen ist eine in die Marmorplatte gemeißelte englische Schreibschrift. Einst war sie mit Goldfarbe ausgelegt. Sie ist aber verblasst. „iements grâce“ ist vermutlich der Überrest von „remerciements (…) grâce“. Wenn es „danke (…) Gnade“ heißt, stammen die Bruchstücke vielleicht nicht von einer Grabplatte, sondern von einer Votivtafel, mit der sich gläubige Katholiken in Wallfahrtskapellen für beispielsweise die Heilung von einer Krankheit bedanken. Diese Interpretation ist mir lieber.
Als letztens die Fenster bei mir geputzt wurden, lagen die Bruchstücke im Weg. Dadurch wurde die Erinnerung wieder lebendig, denn eigentlich liegen sie schon so lange auf den Fensterbänken, zuerst in Aachen, jetzt in Hannover, dass ich sie nicht mehr beachte.
„Ich will ein Buch aufs Grab“, sagte einst die Jüngste, die in ihrer Grundschulzeit gerne über Friedhöfe ging, um auszurechnen, wie lange die Menschen gelebt hatten, die dort jetzt lagen.
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Wie hat sie das gemeint? Auf der Insel Föhr habe ich sogenannte „sprechende Grabsteine“ https://de.wikipedia.org/wiki/Sprechende_Steine
gesehen, in die eine ganze Lebensgeschichte eingemeißelt war.
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Ihr gefielen die Grabsteine, die wie Bücher gestaltet und die wesentlichen Daten auf den aufgeschlagenen Seiten notiert hatten.
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Ich mag sie diese Bruchstück. Und deine Zeilen dazu…. sie sind das Leben.
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Das freut mich. Willst du dich nicht am Mitmachprojekt beteiligen und dem Leben noch Facetten hinzufügen?
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Ach Jules, eigentlich schon. Wobei mich so häufig eine tiefe Melancholie erfasst und am Schreiben hindert… ich überlege es mir
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Fast hätte ich, „gefällt mir“ angeklickt, aber natürlich wünsche ich mir nicht, dass dich „eine tiefe Melancholie“ erfasst. Vielleicht versuchst du dich an vergleichsweise harmlosen Erinnerungsstücken.
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Pingback: Krempel aus der Hosentasche – Sergej Tretjakovs Biographie der Dinge – #Kramladengeschichten
An dem Feldweg wäre ich auch nicht vorbei gegangen…
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Um Bruchstücke mitzunehmen? Ich hätte Skrupel gehabt.
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Ich nicht. Ich kann mir vorstellen, die ehemaligen „Besitzer“ fänden es netter, wenn sie wüssten, dass die Erinnerung an sie auf Deinem Fensterbrett liegt, statt dass Trecker drüberfahren.
(Kommentar wurde stark gekürzt, weil mir zu dem Thema WIRKLCH zuviel einfällt!!!)
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Schade um die Kürzungen! Da wiegt was du gelassen hast, doppelt wie bei den Sybillinischen Büchern.
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Mag sein. Aber in einer Blogsphäre ist die Chance recht groß, dass es als Eintrag irgendwann wieder auftaucht…
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Lieber Jules,
eine Marmorplatte mit „remerciements (…) grâce“ auf die Fensterbank zu legen, finde ich noch einfallsreicher und tiefsinniger als eine Kerze ins Fenster zu stellen.
Wie eine Botschaft – wohin auch immer – für wen auch immer.
Dass sie zerbrochen ist, schmälert nicht ihre Kraft.
Auch ein gebrochenes Herz kann den Menschen am Leben erhalten.
Dass Sie nun (u.a.) auch noch einen Infarkt überstanden haben, lässt doch hoffen, dass Sie nicht nur Ihren Kramladen aufgeräumt haben, sondern damit Platz für Neues, Schönes geschaffen haben.
Ich wünsche es Ihnen!
Gruß Heinrich
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Lieber Heinrich,
danke für Ihren einfühlsamen Kommentar. Da ich kein gläubiger Mensch bin, habe ich das noch nie so gesehen. Aber die Bezüge, die Sie herstellen, kann ich nicht von der Hand weisen. Uns siehe da, die Erinnerungsbruchstücke bekommen durch Ihre Interpretation neue Aktualität.
Dankeschön auch für Ihre guten Wünsche und herzliche Grüße,
Jules
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Dieser Hinweis – „eine Marmorplatte […] auf die Fensterbank zu legen, finde ich noch einfallsreicher und tiefsinniger als eine Kerze ins Fenster zu stellen“ – beantwortet auch gleich die an mir nagende Frage: Wieso landeten die Bruchstücke ausgerechnet auf der Fensterbank?
Danke, so erspart sich der Hausherr die Antwort :-}
(Es sei denn, er hätte eine ganz andere Alternative parat.)
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Nein, lieber Kollege, darauf habe ich keine Antwort. Auf einer Fensterbank im Schlafzimmer liegen zwei weitere Bruchstücke.
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Hier ist es nicht der zerbrochene Stein, der den Reiz des Textes ausmacht, sondern die Vorgeschichte, die uns als Leser berührt. Dann ist es aber auch der Stein, der – vielleicht – für ein vergangenes Leben steht, selbst aber auch schon wieder Vergangenheit ist, zerbrochen und in dieser Gestalt auf deiner Fensterbank liegt und dort an eine zerbrochene Beziehung erinnert. Ein schöner, melancholischer Text.
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So wie du es entwickelst, sind die Bruchstücke sedimentartig mit Vergangenheit aufgeladen. Das Hübsche ist, dass wir Ihnen gerade etwas Neues hinzufügen, indem wir uns darüber austauschen. Vielen Dank für das Lob meines Textes.
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Es sind die auf den ersten Blick unscheinbaren Texte, die häufig besonders lange nachklingen und tiefer berühren als jene die dramatisch und wortreich Emotionen schildern.
Das zerbrochene Stück der Marmorplatte ist ein ähnlich kleines Stück, das doch fast ein ganzes Jahrzehnt Leben gespeichert hat. So fest mit dir verwurzelt, dass du sie kaum mehr siehst und doch braucht es nur wenig um die Erinnerung wieder aufleben zu lassen.
Ein tiefer, sehr schöner Text, lieber Jules.
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Dankeschön, liebe Mitzi, für Lob und einfühlsame Interpretation. Die von dir genannte Tiefe braucht keine Ausschmückung, das spürt man schon beim Schreiben. Weil vieles weggelassen ist, können auch die sprachlichen Mittel sparsam sein.
Dir einen schönen Feierabend!
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Bruchstücke des Lebens sammle ich auch. Deine ist eine schöne Erinnerung an eine liebevolle Zeit, diese sollte man in Ehren halten. Von Männern sind mir seltsamerweise keine so gewichtigen Bruchstücke übrig geblieben, das spricht für sich 🙂
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Es wäre sicher ungerecht, vom Gewicht der Erinnerungsstrücke auf das Gewicht einer Beziehung zu schließen. In meinem Fall trifft es zu, aber es ist auch profan. Ein Schmuckstück kann viel leichter sein und doch gleichviel bedeuten.
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Ein wundervoller nachdenklich machender Text, Jules..so voller zerbrochener Dinge……der Besitz der Platten wuerde mich depremieren, fuer mich waeren sie Teil eines abgeschlossenen Lebensabschnittes und da gehoeren sie hin……
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Inzwischen blicke ich überwiegend positiv auf diese Zeit zurück. Zwar flog im Zuge dieser Beziehung mein beschauliches Dasein auseinander, aber es erweiterte meine Perspektive und ich habe in ihr und später noch beglückende Erfahrungen gemacht, wie ich so nicht habe voraussehen können. Das laute Jaja! Neinnein! dieser Lebensphase wollte ich nicht missen. Was ich heute bin, hat viel damit zu tun. Darum haben die Bruchstücke einen Platz in meinem Leben. Nicht zuletzt bekomme ich schöne Komplimente wie den von Dir, Ann. Vielen Dank!
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… die Gnade (grâce) ist auch dabei und so scheinen die Bruchstücke weit über die bloße Bedeutung der Worte hinauszugehen …
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Du hast Recht, Herr Ösi, danke für den Hinweis! Ich ändere es im Text.
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Zu erschüttert, um Zusammenhängendes zu schreiben. Stimme nur Herrn Ösi zu. Fühl Dich unbekannterweise gedrückt.
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Dankeschön fürs digitale Drücken!
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