Trithemius bei den Sachsen (1) – Deutschland südost

Vor ziemlich genau fünf Jahren verschlug es mich dienstlich nach Sachsen, und zwar zum Kloster Marienthal im entlegendesten Zipfel Deutschlands, direkt an der Grenze zu Polen. Damals lag die Flüchtlingskrise noch jenseits unseres Horizonts, und auch von rechtskadikalen Umtrieben wurde nur spärlich berichtet. Vorurteile gegen Sachsen hegte ich noch nicht, denn ich war in den Jahren zuvor schon oft in Marienthal gewesen, und meine einzigen Probleme dort waren gewesen die Saukälte und an den Tabak zu kommen, den ich damals rauchte. Ich veröffentliche meine Reportage in Folgen unverändert und unfrisiert, damit man sich ein Bild machen kann, wie sich mir Sachsen damals präsentierte.
kloster marienthal
Kloster und Begegnungsstätte Marienthal, Ostritz – Foto: Trithemius

Tief im Osten hat sich ein mir völlig unbekannter Journalist ins Krankenhaus gelegt und mir damit eine unerwartete Dienstreise in den südöstlichen Zipfel Deutschlands beschert. Ich Notnagel bin zu früh am Hauptbahnhof von Hannover, und nachdem ich mir zwei Paar neue Handschuhe gekauft habe, sinke ich in einen roten Ledersessel der DB-Lounge. Man sitzt hoch über dem Bahnhofsvorplatz und hätte einen schönen Blick auf das geschäftige Treiben dort unten, wenn nicht die Sessel entlang der Fensterfront dem Plebs den Rücken zuweisen würden. Ich muss an einen Ostfriesenwitz denken: Warum fliegen die Zugvögel über Ostfriesland auf dem Rücken? Damit sie das Elend dort unten nicht mit ansehen müssen.

Man ist in der DB-Lounge ein 1.-Klasse-Mensch, wird am Eingang von freundlichen Damen begrüßt und verabschiedet wie ein gern gesehenes Familienmitglied, kann sich kostenlose Getränke nehmen, Zeitungen sowieso und natürlich persönlich beraten lassen, wenn man ein fahrplantechnisches Fürzchen quer sitzen hat. Den Parkettboden haben die 1.-Klasse-Menschen der Republik ziemlich abgelatscht. Es muss mehr von Ihnen geben als man denkt. Die meisten jedoch sind Geschäftsleute, auf Firmenkosten unterwegs wie ich, schauen wichtig in ihr Notebook oder führen bedeutende Telefongespräche.

Neben mir
lassen sich ein junger Mann und eine junge Frau nieder. Sie sind offenbar Bauingenieure und arbeiten für die Bahn. Der Mann klappt einen meterlangen Plan mit Gleisanlagen der Bahnsteige C und D aus, der als Leporellofalz in einem dicken Aktenordner klemmt. Worüber sie sprechen, das ist noch viel länger, nämlich „satte 200 Meter Leitung“, sagt der Mann. Ein kleiner Dicker im blauen Anorak kommt herein. Der trägt sein gut umhülltes Cello wie einen Rucksack. Das ist der Unterschied zwischen dem Bahnhofsvorplatz und der DB-Lounge. Auf dem Bahnhofsvorplatz werden die Instrumente ausgepackt und so lange gequält, bis einer was in den Hut wirft. Der Mann in der DB-Lounge muss das nicht, weil ein ausgesuchtes Publikum ihn irgendwo erwartet, weshalb er hier als wandelnde Hochkultur glänzen kann. Da verzeiht man ihm auch einen blauen Anorak. Mir ist sowieso aufgefallen, dass namentlich Konzertmusiker sich ausgesucht schlecht kleiden. Grausam gekleidet zu sein, ist quasi das Prädikat der E-Musiker. Es gibt an, dass diese Leute nur der Musik verpflichtet sind und mit irdischen Dingen wie Kleidung nichts am Hut haben – zumindest außerhalb der Konzerthäuser.

Ich steige in den IC nach Dresden. Derzeit hat die deutsche Bahn viel altes Material auf den Schienen, weil die neueren Züge und Waggons in den Werkstätten herumstehen, und so hat auch der IC nach Dresden noch einen alten Abteilwagen. Ich habe dummerweise eine Reservierung für einen Platz im Abteil. Denn kaum habe ich mich am Fenster in Fahrtrichtung niedergelassen, kommen drei junge Männer herein, kurzgeschorene Haare und Riesengepäck im Seesack. Nur einer hat eine große Sporttasche und trägt passend dazu den Pitbull-Smoking von Addidas. Dieser junge Mann spricht zwar perfekt Deutsch, hat aber einen russischen Akzent. Die drei sind offenbar Bundeswehrsoldaten aus dem Ruhrgebiet und fahren nach Dresden-Neustadt zu einem Lehrgang.

Sogleich packen sie ihre Notebooks aus und beginnen ein Ballerspiel, worin sie Panzer und Waffen generieren müssen und zum Schluss sogar über Atombomben verfügen. Dabei sind sie durchaus manierlich und haben sich allesamt Ohrhörer reingesteckt, weil sie mich nicht mit lästigen Tönen nerven wollen. Es ist doch gut, wenn so manierliche junge Männer sich in ihrer Freizeit in der Kulturtechnik des Mordens üben. Bedachtsam sind sie auch, denn sie lassen es während der gesamten Fahrt nicht zum Atomschlag kommen. Zwei von ihnen sitzen dicht nebeneinander, der andere sitzt links von mir an der Tür. Er wird von den beiden ein bisschen geschnitten, ist aber auch keine ansehnliche Erscheinung. Einmal klappt er sein Portemonnaie auf und zeigt den beiden ein Foto seiner Freundin. Der eine schaut hin, als könnte er gar nicht glauben, dass sein Gegenüber überhaupt eine Freundin hat, und was wird das für eine Schabracke sein? Der im Pitbullsmoking schaut erst gar nicht vom Bildschirm auf, weil er gerade irgendwelche Okkupanten wegballern muss. Die Mutter seines Nebenmanns ruft an, und er sagt artig: „Ja, Mama, das mache ich in Ruhe, wenn ich zu Hause bin.“ Mamasöhnchen mit Feldhaubitze. Draußen zieht bald eine öde Landschaft vorbei, Felder und Wiesen, auf denen große Wasserlachen stehen. Die Sonne lässt sie aufblitzen, und da sie direkt gegen das dreckige Abteilfenster scheint, ist alles in gelben Dunst getaucht, obwohl der Himmel wohl blau sein will. Meine Stimmung sinkt, und auch die Titanic ist schlecht, jedenfalls muss ich nicht schmunzeln.

Nach Dresden wird man geschaukelt, mal sitze ich in Fahrtrichtung, mal entgegen, dann wieder anders rum, und auch Dresden hat einen Kopfbahnhof. Als wir glücklich aussteigen, sagt das Mamasöhnchen: „Jetzt müssen wir gleich ein paar Mädchen ansprechen, mal hören, wie die reden.“

Fortsetzung Häuser zum Fürchten

22 Kommentare zu “Trithemius bei den Sachsen (1) – Deutschland südost

  1. Na dann, ich bin gespannt wie ein Regenschirm auf die Sachsenserie. (Habe ja selbst fast zwei Jahre in einem kleinen Sachsennest bei Plauen gelebt und gearbeitet, eine Zeit, von der ich froh bin, dass sie kurz war und schnell vorüber. Hat mir nicht gefallen, auch wenn ich dort über die Dienste einer eigenen Sekretärin verfügte, die mit sächsischem Akzent tolle Geschichten erzählte. Die gute Dame war übrigens Nachbarin dieser Fau Zindler, der wahrscheinlich berühmtesten Vogtländerin, die in dem abartigen Raab-Song über den „Moschndrohtzooun“ und den „Gnolläbsnstroouch“ zu Wort kommt. Ich stelle fest, ich habe damals zumindest viel gelacht.)

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  2. Ein ereignisreicher Vormittag. Eigentlich sitze ich ja nur bei mir zu Hause auf dem Sofa und trinke Kräutertee. Dank dir, lieber Jules, saß ich aber auch schon in der DB Lounge. Kein 1. Klasse Mensch, aber ein stiller Zuhörer und Zuschauer bei den von dir geschilderten Begegnungen. Anoraks sind meistens ebenso hässlich wie ihre Pluralform. Besonders die kleinen Dicken sollten sie nicht tragen. Außer sie fühlen sich besonders wohl darin, dann kann es ihnen auch wieder egal sein.
    Ich saß auch schon im Zug Richtung Osten. Auch hier konnte ich es mir in den Polstern des Sitzes gemütlich machen und deinen Beschreibungen lesend zuhören. Schade, dass dir das dreckige Fenster den Ausblick verdorben hat. Wenigstens die Titanic hätte dich zu lachen bringen sollen. Das was dir verwehrt blieb, bekommen dafür deine Leser. Sie schmunzeln, beobachten und zumindest ich denke dabei an eigene Zugfahrten und eigene Reisen in den Osten. Die Fenster waren auch in meinem Zug dreckig. Der Osten nicht. Der präsentierte sich meist schön. Er hatte es auch leicht – Familie und Freunde warteten immer auf mich.

    Liebe Grüße

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    • Wenn du mitgekommen bist, liebe Mitzi, hast du mit der Tasse Krätertee in den Händen gleichzeitig eine Ortsveränderung und eine Zeitreise in den Februar 2011 gemacht. Heißer Tee ist gut, denn im Wilden Osten ist’s saukalt. Dass die Titanic mir so missfiel, hatte gewiss auch was mit mir zu tun, obwohl sie zeitweise wirklich Primanerwitze bringt. Wohin im Osten bist denn du tatsächlich gefahren? Ich dachte, du bist aus Oberbayern. Aber deine Großeltern kamen, wie ich mich erinnere, aus dem Osten, oder?

      Lieben Gruß,
      Jules

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      • Meine Familie mütterlicherseits stammt aus Bayern. Die Eltern meines Vaters waren Sudetendeutsche. Die erste Frau meines Großvaters und seine beiden Kinder landeten nach dem Krieg in der Nähe von Dresden und blieben auch dort, während er mit meiner Großmutter und zwei weiteren Kindern zunächst in ein Flüchtlingslager bei Füssen kam und dann nach München zog. Die beiden Frauen meines Großvaters wurden naturgemäß nicht wirklich warm miteinander, die vier Kinder hatten und haben aber über all die Jahre Kontakt gehalten.
        Mein letzter Besuch im Osten umfasste Dresden und Leipzig. In beiden Städten wohnen mittlerweile Freunde aus Studienzeiten. Leipzig gefällt mir dabei ein Stück besser.
        Liebe Grüße
        Ich freu mich auf weitere Etappen der Reise.

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        • Danke für die ausführliche Darstellung. Dass dein Großvater zwei Frauen hatte, die sich nicht mochten, war sicher durch die Kriegswirren bedingt? Klingt jedenfalls seltsam. Ich bin froh, dass du eine echte Münchenerin bist, liebe Mitzi. In Leipzig hat bis zum letzten Sommer mein mittlerer Sohn gewohnt und fühlte sich wohl dort, weil es eine lebendige Szene von Autonomen hat. Bei jungen Leuten läuft Leipzig bereits Berlin den Rang ab.

          Lieben Gruß und danke für dein Interesse.

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  3. Lieber Jules,

    Sie haben mir unwisssentlich ein Puzzleteil geschenkt mit dem Foto vom Kloster Marienthal!
    Da mich die Fassade an ein öst. Bauwerk erinnert, habe ich mich kundig gemacht über das abgebildetete Marienthal und mögliche Bezüge zu Österreichs Klosterlandschaft. Dabei bin ich auf die Lausitzer Neiße und die Zerstörung der dortigen Brücken im zweiten Wetkrieg gestoßen.
    Bei der Aufarbeitung von Soldatenschicksalen habe ich hier Fotos vorliegen, die entlang des Feldzugs nach Polen aufgenommen wurden und im Album eines Soldaten aus unserer Gegend gelandet sind. Bisher konnte ich die Fotos mit der gesprengten Brücken keinem Datum und auch keiner Ortschaft zuordnen. Dank Ihres heutigen Berichts und dem Foto kann ich bei meiner Arbeit wieder ein Stück weiterkommen.

    Danke sagt
    Rosenherz

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  4. Wir können dankbar sein, dass deine Mitreisenden noch mit handelsüblichen Ballerspielen unterwegs waren und es nicht schon um die Drohnenkrieger der Gegenwart handelte. Sonst löscht der freundliche junge Mann auf dem Nachbarplatz gleich mal ein Dorf aus – und das hätten wir nicht so gern, sowas soll schön hinter verschlossenen Türen stattfinden.
    Deine Reisebeschreibung ist wirklich lesenswert und macht Lust auf die weiteren Folgen!

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    • Da sagst du was. Vor fünf Jahren war von Drohnenkriegern noch nicht die Rede, aber sie übten offenbar schon. Was als Spiel begann, ist jetzt blutiger Ernst. Schon eine perserve Vorstellung, dass einer weitab in den USA sitzt und von dort per Kampfdrohne ein Dorf in Afghanistan bombardiert, zwischendurch brav mit seiner Mama telefoniert oder selbstvergessen in der Nase bohrt, derweil er versehentlich eine ganze Hochzeitsgesellschaft in die Luft jagt. Upps! Kolleteralschaden!
      Dankeschön für das Lob meine Reportage. Genau deshalb war ich unterwegs nach Marienthal. Ich sollte zwei Schulklassen und ihren Lehrern beibringen, wie man eine Reportage für die FAZ schreibt. Das unterscheidet sich formal von der Form fürs Blog wesentlich in der Vermeidung der Ich-Form.

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  5. Reisen und Menschen beobachten: Eine grandiose Kombination! Neue Landschaften und Städte entdecken, und immer wieder staunen, wie sehr wir uns von anderen Menschen unterscheiden!
    Lieber Jules,
    ich bin auf die Fortsetzung der Reise gespannt.
    Gruß Heinrich

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      • Schon erledigt. Zu oben: Freut mich, dass Ihnen meine Reportage gefällt. Alles steht und fällt mit regelmäßigen Aufzeichnungen. Damals habe ich noch regelmäßig in mein Moleskinebüchlein geschrieben. Das tue ich heute nur noch in Ausnahmen.
        Viele Grüße,
        Jules

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  8. Wie immer liest man Ihre Reisebetrachtungen mit großem Vergnügen.
    Wenn Sie mir die kleine Anmerkung gestatten: Marienthal, Ostritz im südöstlichen Zipfel Deutschlands zu verorten, erscheint mir ein bissel unpräzise (sofern man Bayern zu Deutschland dazurechnen will, was freilich nicht unbedingt alle tun ; ) – genaugenommen handelt sichs aber um den östlichsten* Zipfel Deutschlands.
    Bin schon gespannt auf die weiteren Fortsetzungen Ihres Reiseberichts.

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