Er habe sich leider keine Hose kaufen können, obwohl sie stapelweise dort gelegen hätten, sagte Coster, der dubiose Professor der Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte an der RWTH Aachen. „Warum nicht?“ Im Kaufhaus bei den Regalen hätten zwei Verkäufer gestanden, ein junger und ein älterer. Und just als er, Coster, begonnen habe, sich für eine Hosensorte näher zu interessieren, da habe der junge den älteren gefragt: „Ihr habt euch also ein paar Mal gesehen, seid aber noch nicht zusammen.“
Da habe der andere losgelegt:
„Ich sage dir mal, was sie mir per SMS geschrieben hat:
Sie findet schön, dass ich träume, sie mag wie ich sie ansehe, …“
Das habe er aber nicht wissen wollen, sagte Coster, vor allem, nachdem er unvorsichtiger Weise aufgeblickt und dem Kerl ins Gesicht gesehen habe , der gerade leer lief wie ein angestochenes Fass, wobei er all die Intimitäten preisgab, die, wenn man sie rumerzählt, den Charakter von intimen Geständnissen verlieren und zu Banalitäten werden, die einen am Verstand des Menschen zweifeln lasse. Natürlich kenne er den Spruch: Wovon das Herz voll ist, geht der Mund über. Und es sei auch nicht ungewöhnlich, wenn man Herzensdinge einem Freund oder einer Freundin anvertraue, um sich in einem Konflikt rückzuversichern. Doch er sei ein Außenstehender gewesen, ein potentieller Kunde, der sich mit Hosenfragen beschäftigen wollte. Und außerdem habe ihm die Frau Leid getan, deren Gefühle und Bekenntnisse im offenen Hosenladen ausgestellt wurden.
Nun müsse er die Energie erneut aufbringen, die Schwelle eines Bekleidungsgeschäftes zu übertreten. Indem der Hosenverkäufer sprachlich inkontinent war, habe er in Costers Leben eingegriffen. Irgendwann werde er sich eine andere Hose kaufen, und da eine Hose die Erscheinung eines Menschen präge, werde sein zukünftiges Leben anders verlaufen. Denn es könnte sein, dass die Hose der zweiten Wahl ihm nicht ganz so gut passe oder nicht gut an ihm aussehe, mit all den Folgen, die unpassende Kleidung von innen und von außen betrachtet habe.
Diese Änderung seines Lebens habe jedoch eine vergessliche Bäckereifachverkäuferin verschuldet. Er habe einen Kaffee trinken und dazu etwas essen wollen. Die Verkäuferin im Bäckereicafé habe gesagt, sie müsse sein vegetarisches Wrap in der Küche bestellen. Es werde jedoch nur drei Minuten dauern. Darum habe er einen großen Kaffee bestellt und sich schon einmal an einen Tisch gesetzt, von dem man so hübsch auf den Münsterplatz schauen könne. Allerdings habe er den großen Kaffee nach und nach austrinken müssen, denn sein Wrap kam und kam nicht. Irgendwann habe er nachgefragt, und siehe da, die Bäckereifachverkäuferin sah ihn mit großen Augen an und entschuldigte sich für ihre Vergesslichkeit. Zur Entschädigung habe sie ihm eine kleine Tasse Kaffee spendiert. Als er aus dem Café trat, dämmerte es bereits, er sei also viel länger als üblich im Café gewesen. Deshalb sei er auch viel später als geplant im Kaufhaus angelangt, mit all den geschilderten Folgen. Nun habe er keine neue Hose und zuviel Kaffee getrunken, die kleine Tasse gar zu spät. Folglich werde er am Abend nicht einschlafen können, dadurch später als gewohnt aufwachen, und das würde alles Weitere seines Lebens determinieren.
Hier schloss Coster eine philosophische Überlegung an. Allein die geschilderte Verkettung der Ereignisse zeige plausibel auf, wie die Kleinigkeiten des Lebens den weiteren Verlauf des Weltenlaufs bestimmen. In diesem Sinne sei ein jeder Lebensweg unwägbar und nicht vorauszusehen, denn er werde unablässig von Ereignissen in der inneren und äußeren Welt des Menschen ausformuliert. Das eigene Ich sei ebenfalls Ergebnis solcher Prozesse. Eine Winzigkeit beim Zeugungsakt, ein mühsam erkämpftes Obsiegen eines bestimmten Spermiums lege fest, welcher Mensch, welches Ich auf die Welt käme. Einstein, Leonardo, Karl der Große, die Religionsstifter der großen Religionen, – es sei der pure Zufall, dass just sie geboren sind und nicht ihre potentiellen Brüder und Schwestern.
Ob ich aus seiner Darlegung irgendetwas gewinnen könne, müsse ich selbst wissen, schloss Coster. Er jedenfalls schließe daraus, dass es nicht Festes gebe in der Welt, nur ein unablässiges Wimmeln. Und gäbe es einen Gott, der Teil des Ganzen wäre, dann wimmele er auch. Sei er aber nicht Teil des Ganzen, könne er nicht in die Geschicke der Welt eingreifen, wäre mithin kein Gott.
„Holla! Dieser Coster ist gefährlich“, sagte ich, „weil er keine neue Hose bekommen hat, dekonstruiert er mal eben den Schöpfergott.“
Dies ist ein Beitrag zum Schreib-mit-Projekt des Kollegen Wortmischer
(für weitere Texte und zum Mitmachen bitte Banner klicken!)
Schön!
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Danke schön!
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In der Tat sind Hosen identitätsstiftende Kleidungsstücke. Schon allein die Frage, wer wo die Hosen anhat, macht deutlich, dass die Hose dem Menschen näher ist als das Hemd. – Ich sage dankeschön für diesen erkenntnisreichen Tag im Leben des verhinderten Hosenkäufers Coster.
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Tatsächlich. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Danke für dieses schöne Schreibbprojekt, das viele lesenswerte Texte hervorgebracht hat.
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Ganz toll formulierte Philosophie. Gefällt mir sehr.
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Freut mich. Danke für das hübsche Kompliment!
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Verbindlichsten Dank an die Bäckereifachverkäuferin!
Ihre Vergesslichkeit ist zu loben, wenn solch philosophisches Gut davon abhängt.
Den männlichen Nebendarstellern im offenen Hosenladen: schämts eich!
Werter Coster, lieber Jules
habe die Ehre, Juleika
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Gut, dass du darauf hingeweisen hast, liebe Juleika. Das erinnert mich an Brechts Gedicht: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration, genauer an den Vers:
„Darum sei der Zöllner auch bedankt:
Er hat sie [die Weisheit] ihm abverlangt.“
Nur, dass die Bäckereifachverkäuferin nicht wissen kann, dass ihre Vergesslichkeit einen positiven Effekt hat und Coster natürlich nicht Laotse ist 😉
Schön, dass du ins Teestübchen gefunden hast,
Küss die Hand!
Jules
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ist das nicht die Beschreibung des Schmetterlingeffekts?
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Ganz genau. Coster behauptet also, dass auch ein Schöpfergott dem Schmetterlingseffekt unterliegen muss, wenn er auf die Schöpfung einwirken, also überhaupt auch etwas erschaffen will. Ich glaube, vor 300 Jahren hätte man ihn als Ketzer verbrannt. 😉 Und mich als seinen Autor (Schöpfer) mit.
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Das wäre durchaus möglich!
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Denken wir an das Verkaufspersonal, dann wäre es, der Diskretion wegen, wünschenswert, gleich nach der Fertigstellung und vor dem Versand der Kleidungsstücke, also noch in Asien, die Hosenschlitze gewissenhaft zu verschließen …
PS: toller Beitrag
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Witzige Idee, doch ich hätte Bedenken, wenn jetzt noch die armen Näherinnen sich um das korrekte Schließen kümmern müssten. Ich bedanke mich aber artig für das Kompliment.
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Ein philosophisches Glanzstück. Eingebettet zwischen der verbalen Inkontinenz zweier Verkäufer und einer vergesslichen Bäckerfachverkäuferin. Das muss man können.
Und das, lieber Jules, kannst du auf unvergleichliche Art und Weise.
Chapeau!
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Dein Kommentar hat mit gestern den Heimweg vom Vogelfrei versüßt, liebe Mitzi. Ich las ihn unterwegs. Für das schöne Lob danke ich dir herzlich. Liebe Grüße!
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Das ist fein und es freut mich, dich ein Stück des Heimweges begleitet zu haben.
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Es empfinde es so, wie Mitzi Irsaj es einfühlsam in Worte gefasst hat!
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Das freut mich, lieber Heinrich. Und sich von Mitzi etwas vorsagen zu lassen, ist der reinste Luxus 😉
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da trau ich mich ja kaum noch was dazu zu schreiben! außer, dass mir der text grad ein noch immer anhaltendes lächeln verursacht hat!
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Das anhaltende Lächeln freut mich, liebe Beate. Der erste Satz dagegen lässt mich fragen: Warum denn? Ich freue mich immer über einen Kommentar von dir.
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