Adventskalender – 22. Türchen – die beste Geschichte seines Lebens handelt von einer toten Katze

tür22

Letzte Nacht fand ich einfach nicht in den Schlaf, und falls ich doch schlief, dann habe ich es nicht gemerkt. Jedenfalls hörte ich mich gelegentlich fiebrig seufzen, es klang aber wie husten. Mit einem Mal seufzte es ganz anders, und zwar aus der Ecke, in der mein Wäschekorb steht. „Tschirch“ seufzte er laut und deutlich, allerdings nur einmal. Was er damit gemeint hat, kann ich nicht sagen, denn Tschirch ist meines Wissens kein deutsches Wort. Es gibt freilich einen bekannten deutschen Germanisten, der heißt Fritz Tschirch. Aber woher sollte mein Wäschekorb deutsche Germanisten kennen? Also wertet ich seine Bemerkung als kulturellen Bluff, nichts als Namedropping. Bisher hat nämlich noch kein Ikea-Wäsche-Aufbewahrungssack etwas Wesentliches zur Germanistik beigetragen.

Gegen Morgen träumte ich vom Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Er tauchte deutlich vor meinem inneren Auge auf, aber mir wollte partout nicht sein Autor einfallen. Immer wieder drängte sich der Vorname Marcel auf, aber „Marcel“ schien mir zu kräftig für den Autor, den ich doch als schwache Persönlichkeit mir vorstellte. Eine Weile lehnte der Name feixend an der Straßenecke, doch wenn ich ihn erhaschen wollte, entzog er sich zur nächsten Ecke, verschwand ganz, um neckisch einen Fuß, einen Arm oder den Haarschopf hervorzustrecken.

Frustriert träumte ich mir die Google-Suchmaske herbei, gab den Romantitel ein und drückte gespannt auf ENTER. Dadurch geriet ich beinah in den Wachzustand, schwamm haarscharf unter der Oberfläche und zwang mich, wieder hinab in meinen Traum zu tauchen. Da aber kam ich erneut in Nöte, dass ich nämlich beim Erwachen meine Frage nicht mal mehr wüsste und den ganzen Morgen versuchen müsste, wieder heranzukommen an meinen Traum.

Was wäre, wenn meine Eingabe in die Google-Suchmaske Ergebnisse gebracht hätte? Ich bin froh, dass es nicht geschah, weil eine erfolgreiche Googlesuche den Hinweis gegeben hätte, dass ich längst eine Mensch-Maschine geworden bin, nicht nur Teilaspekte meiner Person in die virtuelle Welt übergetreten sind, sondern die virtuelle Welt in mein Gehirn ragen würde, um dort Funktionen bereitzustellen, die ein menschliches Gehirn nicht haben sollte. Ein wichtiges Element menschlicher Kreativität ist doch, Bezüge vergessen zu können, damit sich neue, unerwartete Gedankenverbindungen einstellen können. Ich liebe, hege und hätschele meine Vergesslichkeit, weil das Schöpferische darin wurzelt. Deshalb umgebe ich mich gerne mit Menschen, die so etwas wie meine externe Festplatte sein können. Ich stelle mich doof, um sie anzuspornen. Frage etwa: Wie heißt noch mal der Schauspieler, der in einem Film, dessen Titel ich nicht mehr weiß, diesen einen Satz gesagt hat, der mir grad mal überhaupt nicht einfällt?

Obwohl meine neue Wohnung komplett renoviert ist, gibt es einiges zu rügen, wenn nicht zu tadeln oder gar zu bemängeln. Zum Beispiel zieht die Kälte links und rechts der Wohnungstür in den Flur. Das will ich meinem Vermieter anzeigen, sobald er wieder mal im Haus ist. Seine Ankunft kann ich gar nicht verpassen, denn er hat gleich nebenan seine Stadtwohnung. Dort deponiert er seinen Mops und steigt die Treppe hinauf, um die im Haus werkelnden Handwerker beim Renovieren zu beaufsichtigen. Sogleich beginnt dann der Mops kläglich zu jaulen, denn er ist kürzlich erblindet und mag seither nicht mehr allein sein. Ich hatte mir vorgenommen, den Vermieter beim nächsten Jaulen abzufangen. Dann wollte ich ihn in meine Wohnung bitten, die Tür schließen, auf die Türritzen zeigen und sagen: „Halten Sie mal die Hand dahin.“ „Halten Sie mal den Hund dahin!“, korrigierte die Frau, deretwegen ich nach Hannover gezogen war, und ich musste zugeben, dass ein vor Kälte zitternder, blinder Mops viel eindrucksvoller ist als ein frierender Teppichhändler.

KatzencontentAm Morgen des zweiten Weihnachtstags 2008, um 7:02 Uhr, als die Stadt noch schlief, stieg ich mit meinem Rollkoffer in die Straßenbahn der Linie 9, die mich zum Bahnhof bringen sollte, denn ich wollte nach Aachen fahren, um meine Kinder zu treffen. Da war ich noch gar nicht ganz wach und nicht in der Stimmung, zwei aufgeregten jungen Männern zuzuhören. Der eine lief gerade leer wie ein angestochenes Fass. Das war freilich die Schuld des anderen, denn der sagte nicht etwa, jetzt halt mal den Jabbeck, Alta, sonst kriegste eins vors Protoplasma, nein, er ließ nach jeder Episode ein beflissenes Höhöhö ertönen. Das verlangte nach dramaturgischer Steigerung, und so rief der erste plötzlich „Die beste Geschichte meines Lebens“ aus. Die mehr als armselige Geschichte ging so: Er hatte sich zwei Wochen „bei Kollegen“ aufgehalten, und „eines Morgens wollte ich mir was aus dem Kühlschrank holen. Da sitzt die Katze auf dem Tisch und frisst die Butter. Ich schwöre dir, Alter, die hat die ganze Butter gefressen, denn wir hatten ganz vergessen, die Katze zu füttern!“
„Höhöhöhö!“
„Hehehehe! Und das Beste kommt noch: Drei Wochen später wurde die Katze überfahren!“
Da dachte ich schon: Ich glaub, ich meld‘ mich krank, – und das hab ich jetzt davon – mein Wäschesack will Kulturbeutel sein.

Bernd72dpiBilder oben und links: Tuschezeichnungen von mir, leider nur in schlechter Fotokopie. Die Originale sind verschollen. Sie gehörten zu einem Comic, den ich für die Erkelenzer Jazzband „Die gurrenden Truthähne“ gezeichnet habe. Der Comic sollte einem Konzeptalbum beigelegt werden. Bernd, der Bandleader, Freund und Kollege von mir, wollte die Musik seiner Katze Molly Mietzke widmen. Drei Tage hatte er sie vermisst, dann fand er sie tot im Straßengraben. Ich habe ihn auch gezeichnet (Bild links) mit dem traurigen Liedtext „Molly Mietzke“ in Erkelenzer Platt, einem schwer verständlichen Dialekt. Denn bei Erkelenz geht die Benrather Linie vorbei, die Maken-Machen-Grenze zwischen dem Hochdeutschen und Niederdeutschen. So vereint Erkelenzer Platt Elemente aus beidem und hört sich an wie der Dialekt der Hölle. Leider wollte die Band das Konzeptalbum dann doch nicht aufnehmen. So blieb es bei den beiden Zeichnungen. Text: Molly Mietzke, warom mösch datt sien – Du wohs wirr meke oss sorje – molly Mietzke, dat mäkk kenne sinn – Vörr desch joff et keh morje.

20 Kommentare zu “Adventskalender – 22. Türchen – die beste Geschichte seines Lebens handelt von einer toten Katze

    • Dankeschön. liebe Mitzi. Es ist wie mit vielen Künsten 96 Prozent Sitzfleisch,vier Prozent Begabung. In den 90ern hörte ich auf zu zeichnen. Da war ich auf dem Titanic-Buchmessenfest und sagte dem damaligen Chefredakteur Hans Zippert: “Ich würde gerne mehr für euch zeichnen.” Er sagte: “Dann musst du zuerst Greser & Lenz umbringen.” Das habe ich natürlich nicht getan, sondern mich ganz aufs Schreiben verlegt.
      Liebe Grüße,
      Jules

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  1. Lieber Jules,
    zu der Prozentdiskussion kann ich nichts beitragen, da ich keine Prozente habe und auch nicht weiß, wo ich günstig einige bekommen könnte. Aber der Anfang der Geschichte hat mich sehr interessiert***, da ich auch ungewöhnlich träume und im Traum Wirklichkeit und Träume zweiter Ebene vermische. Beim Traum im Traum kann ich aufwachen und dennoch weiterträumen. Das ist manchmal sehr praktisch.
    Die Googlesuche im Traum werde ich ausprobieren. Allerdings vermute ich, dass meine Googlesuche nicht Proust ergeben hätte, sondern Bosch mit dem Spurenzeichner (Wie man auf der Suche nach der verlorenen Zeit den Heiligen Gral findet.) Im Traum hätte ich das als gültiges Ergebnis akzeptiert und mich gar nicht darüber gewundert, wenn Herr oder Frau Google dabei aus dem Bildschirm getreten wäre, um mir den Gral in die Hand zu drücken.

    *** Das heißt NICHT, dass mich weitere Teile der Geschichte nicht interessiert haben, aber meine Gedanken dazu sind dermaßen umfangreich, dass ich es vor Weihnachten kaum noch schaffen werde, das zu kommentieren. Vermutlich ist das aber nicht schlimm, da Sie ja selbst dabei waren und wissen, was da alles passiert ist und was das auslösen kann.

    Gruß Heinrich

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    • Lieber Heinrich,
      als Lehrer hatte ich den Ehrgeiz, meinen Schülern ein paar dieser 96 Prozente unterzujubeln bzw. abzuverlangen, und ich bin stolz, dass es mir bei einigen gelungen ist. Ein nach Meinung seines Deutschlehrers nicht besonders schreibbegabter Schüler, mauserte sich in meiner Projektgruppe und ist heute ein hervorragender Autor von Radiofeatures. Ich hatte an ihn geglaubt, weil er so eifrig war, und ihm in der Redation der Tageszeitung, die wir machten, eine leitende Funktion gegeben. Manchmal reicht so ein kleiner Impuls.
      Interessant, was Sie über Ihre Träume schreiben. Ich glaube eigentlich schon wach zu sein, wenn ich steuernd in meine Träume eingreifen kann. Ist es bei Ihnen ähnlich?
      Auch verstehe ich, was Sie abschließend schreiben. Immerzu spreche ich zu viele Aspekte an, so dass die Leute davor kapitulieren. Meine Schuld.

      Lieben Gruß,
      Jules

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  2. Wer nur Greser & Lenz als Konkurrenten eliminieren müßte, gehört schon zur allerersten Sahne. Aber auch da galt wohl das Wort „Das Bessere ist der Feind des Guten“. Immerhin – so hast Du Deine Energie ganz ins Schreiben (und, vermute ich: denken) gesteckt, und lesend haben wir jetzt etwas davon …

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    • Das ist ein treffender Satz. Besonders Heribert Lenz war mir sehr sympathisch, weshalb ich neidlos zurückgetreten bin. Es ist wohl so, hätte die Titanic mehr Zeichnungen von mir gedruckt, hätte mich das motiviert, besser zu werden. Zu dieser Zeit schrieb ich aber schon regelmäßig für das Format “Briefe an die Leser” mit einer gewissen Abdruckgarantie. Man muss sich hinstellen, wo Platz ist. So kams. Dankeschön für dein freundliches Lob!

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  3. Jetzt hast du mich natürlich neugierig gemacht, dieses Erkelenzer Platt muss ich mal hören. Schon der Textauszug hat mir einiges an Schwierigkeiten bereitet, bis ich mir einigermaßen sicher war, ihn verstanden zu haben.
    Mit dem Zeichnen ist es wie mit vielen anderen Dingen auch, wir bringen Talente mit, die wir entwickeln können. Dafür aber, wie du schon sagst, müssen wir arbeiten – um dann so gut zu sein, wie die, die ebenfalls gearbeitet haben. Ob es für mehr reicht, weiß man immer erst hinterher. Aber trotzdem ist es schön, eine solche Fähigkeit zu pflegen, weil sie letztlich auch dazu beiträgt, die Arbeit anderer wertzuschätzen.

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    • Entschuldige bitte, Manfred. Diesen deinen Kommentar hatte ich leider übersehen. Also jetzt, zwei Jahre später meine Antwort:
      Erkelenz liegt dicht an der Benrather Linie, und das bedingt schier chaotische Einflüsse von beiden Seiten. Ich habe nie woanders einen derart hässlich tönenenden ripuarischen Dialekt gehört.
      Zum anderen Aspekt gebe ich dir völlig recht. Nur wer in einer Sache schon ziemlich gut ist, kann die Qualität im Werk anderer wertschätzen. Fraglich, ob er das dann ausspricht, denn zur Wertschätzung gesellt sich bei schöpferischen Menschen oft der Futterneid.

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      • Wie hast du denn das geschafft? Aus den Tiefen des Netzes und der Menge der Kommentare gerade den einen noch hervorzuholen, den du nicht beantwortet hast?
        Jetzt bin ich noch interessierter an Erkelenz und der dortigen Sprache. Und Futterneid? Ja, da ist wohl etwas dran. Auch wenn das Futter oft nur in Anerkennung besteht.

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        • In der Statistik sehe ich ja die aufgerufenen Texte. Oft weiß ich nicht mehr, was sich hinter einem Titel verbirgt und schaue nach. Dabei finde ich schon mal den einen oder anderen unbeantworteten Kommentar und will dann die Unhöflichkeit zurechtrücken. So kams.
          Möglicherweise klingt Erkelenzer Platt für deine Ohren gar nicht so falsch, sondern nur exotisch, aber für mich hört sich alles irgendwie falsch an, als hätte man mein Landkölsch auf Links gedreht. Erkelenz ist ja eine Kleinstadt im öden Selfkant, wie du hier
          http://trithemius.de/2006/08/17/baal1046292/ nachlesen kannst.

          „Futterneid bei Anerkennung“ kenne ich. Mit den Likes für einen Text komme ich selten an die 20-er Marke, andere aber ständig und darüber hinaus. Man muss schon ein dickes Fell haben, das nicht mit der Textqualität gleichzusetzen.

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          • Diese Öde, diese Leere und scheinbare Bedeutungslosigkeit wirkt auf mich immer ungeheuer anziehend. Da muss doch was sein, da ist auch was, aber das erschließt sich eben nicht gleich, da muss man länger suchen und vielleicht sogar dort leben, um einen Zugang zu finden. Das sind Gegenden wie eine Nuss, die geknackt werden muss.

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