Staunet und seid stumm – Die Geburt des Rundfunks im Jahr 1906 – Heiligabend auf hoher See

Am Heiligabend wird der Rundfunk 115 Jahre alt. Der Rundfunkjournalist Kurt Seeberger schreibt: „Einige Küstenschiffe an der Atlantikküste Amerikas waren 1906 mit neuen Funkgeräten ausgerüstet worden. Die Funker in den Kabinen lauschten an jenem Abend auf die üblichen Signale und Zeichen, als im Kopfhörer plötzlich die Stimme eines Mannes erklang. Dann hörte man eine Violine, hierauf wieder die Stimme des Mannes. Niemand hatte auf den Schiffen je so etwas gehört. Die Funker meldeten ihre Beobachtungen nach der neuen Station für drahtlose Telegraphie in Brant Rock (Mass.) Dort hatten sich unter Leitung von Professor Reginald Aubrey Fessenden einige Wissenschaftler zu einem Experiment versammelt.“ Fessenden berichtet:

    „Das Programm am Weihnachtsabend war folgendermaßen: zuerst eine kurze Ansprache von mir, wobei ich sagte, was wir vorhatten, dann etwas Phonographenmusik – das Largo von Händel. Dann spielte ich ein Violin-Solo, und zwar die Komposition ‘Heilige Nacht’ von Gounod, die mit den Worten endet ‘Staunet und seid stumm’. Ich sang einen Vers und spielte Violine dazu, weil mir das Singen nicht recht gelang. Dann kam der Bibeltext ‘Ehre sei Gott in der Höhe’. Wir schlossen dann damit, dass wir ihnen ‘Frohe Weihnachten’ wünschten und ihnen sagten, dass wir vorhätten, am Neujahrsabend wieder zu senden.’” (Seeberger, Kurt; Der Rundfunk; in: Stammler, Wolfgang; Deutsche Philologie im Aufriss, Band III, Berlin 1957, Sp. 666.)

Seebergers Schilderung der ersten Hörfunksendung zeigt bereits die Höhen und Tiefen des jungen Mediums. Fessendens Programm ist die Matrix für alles Kommende. Er bot einen Wechsel zwischen Musik- und Wortbeitrag sowie Live- und Konservenmusik. Geradezu programmatisch war Fessendens inhaltliche Musikauswahl: „Staunet und seid stumm“; der Vers legt die Rollen fest. Radio wird nicht als wechselseitiges Medium präsentiert, sondern als Einkanalmedium. Einige wenige senden ein Programm, und die Hörer an den Radiogeräten lauschen stumm und staunend. Sie haben weder einen Einfluss auf die Programmmacher noch auf deren willkürliche Themenwahl.

Die Reaktion der Funker zeigt deutlich, dass sie sich noch an die Rolle des stummen Empfängers gewöhnen mussten. Inzwischen wissen wir, dass wir nach dem Anhören einer Radiosendung nicht beim Sender anrufen müssen, um den Empfang zu bestätigen.

Andererseits zeigt die Schilderung des Hörerlebnisses durch die ersten Rezipienten bereits die Schwäche des flüchtigen Mediums, die ja später noch vom Fernsehen übertroffen wird. Von dem vielfältig entwickelten Programm geht dem Empfänger offenbar das meiste direkt verloren. Was von allem bleibt: Ein Mann hat gesprochen, dann hörte man eine Violine, dann sprach noch einmal der Mann.
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„Tante, Tante! Da ist ein Mensch im Schrank! (Aus meinem Tagebuch 2/1997 (größer: bitte klicken))

Betrachtet man die Bildungsbemühungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, vom Schulfunk, Schulfernsehen über die „Sesamstraße“, „Wissen macht Ah!“ bis „Quarks & Co“, müssten die Deutschen in den Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik immer klüger geworden sein. Doch das meiste wird unmittelbar wieder vergessen. Über neues Wissen muss man sich austauschen können. Es müssen Rückfragen möglich sein, die möglichen Konsequenzen erörtert werden und dergleichen, damit man sich Neues wirklich aneignen kann. Hinsichtlich seiner Bildungsfunktion ist der Rundfunk demnach eine Fehlkonstruktion. Wäre die Bildungsabsicht ernst gemeint, hätte man ihn von Anfang an wechselseitig organisieren müssen, so wie es Bertolt Brecht in seiner Radiotheorie vorgeschlagen hat. “
„(…) Um das Positive am Rundfunk aufzustöbern; ein Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen.“

Auditive und audiovisuelle Einkanalmedien wie Radio und Fernsehen sind in erster Linie Zerstreuungsinstrumente. Wissen kommt aus ihnen wie aus Gießkannen, und es ist nicht zu kontrollieren, welches Köpfchen von welchem Tröpfchen getroffen wurde und wie rasch es trocknet. Es kann ein Zuschauer dem Tagesschausprecher zuhören und am Ende nur noch wissen, welche Krawatte er getragen hat. Auch nach Ranga Yogeshwars Wissenschaftssendung erinnere ich mich nur an sein zierliches Kopfwackeln.

16 Kommentare zu “Staunet und seid stumm – Die Geburt des Rundfunks im Jahr 1906 – Heiligabend auf hoher See

  1. Bei dieser Geschichte muss ich an meine Oma denken. 1915 in der Südsteiermark geboren, hat sie als kleines Mädchen ihren Papa zum Dorfgasthaus begleitet. Dort hat der Wirt voller Stolz seinen neuen Radioapparat vorgeführt. Mein Urgroßvater und ein paar andere Männer aus dem Ort lauschten voller Staunen der kratzigen Musik und das kleine Mädchen war entsetzt, wie denn der sonst so kluge Papa auf diesen Riesenschmäh reinfallen konnte. Denn es war ja klar, dass das Orchester hinter der geschlossenen Tür des Nebenraums spielte – jeder mit halbwegs gesundem Verstand musste doch wissen, dass die Musiker doch ganz unmöglich in diesem kleinen Kastl sitzen konnten…
    Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
    Andrea

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    • Dankeschön für diese herrliche Geschichte aus der Frühzeit des Radios, liebe Andrea. Es wäre ein schönes Projekt, ähnliche Geschichten aus der Frühzeit des Rundfunks zu sammeln. Meine Oma hatte im Dorf das erste Radio.Es war ein Kasten in einem Schrank. Als ihr jüngster Sohn einen Freund mit nach Hause brachte, las gerade ein Sprecher die Nachrichten. Da rief der Junge entsetzt: „Tant, Tant, do is ene Kehrl im Schaaf!“ (Da ist ein Mann im Schrank!“)
      Lieben Gruß!

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  2. Der Sendebetrieb begann für den westdeutschen Raum 1926 – und zwar aus Münster. Das muss natürlich angemerkt werden, Provinzialhauptstadt und so. Ich erinnere mich an die Radiosendungen in den späten fünfziger, frühen sechziger Jahre, die wirklich noch im Familienkreis gehört wurden, an die Musikprogramme, die aus Operetten, Jazz und Schlager bestanden – und plötzlich eine halbe Stunde am Tag Beat boten. Das tat der NDR, Musik für junge Leute, hieß das glaube ich, 14:30 bis 15:oo Uhr. Da war Radio richtig bedeutsam, die einzige Quelle für die Musik, die ich unbedingt hören wollte. Und jetzt langweilt mich das Radio mit Playlisten, die rauf und runter gespielt werden.

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    • Tatsächlich aus Münster? Die Stadt ist bundesweit unterschätzt. Genial waren auch manche Wortbeiträge auf NWDR (bevor sich NDR und WDR trennten). Ich war noch ganz klein, da sprach ein Mann im Radio so seltsame Laute ohne Sinn. Es war, wie ich heute vermute, ein dadaistisches Lautgedicht. Jedenfalls hat mich das nachhaltig beeindruckt, so dass ich mich im Kunststudium primär mit Dada beschäftigt habe. Vor der Verbreitung des Fernsehens fanden auch die Hörspiele große Aufmerksamkeit. Schon 1938 löste Orson Welles mit seinem Hörspiel Krieg der Welten in den USA eine Massenpanik aus, weil die Hörer die inszenierte Handlung mit Reportagen und scheinbaren Unterbrechungen des laufenden Musikprogramms für echt gehalten hatten. https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Krieg_der_Welten
      Es gibt nach wie vor gute Sender und Sendungsformate, aber es überwiegt der Dudelfunk. Da hast du Recht. Vor wenigen Jahren fuhr ich manchmal mit dem Auto von Aachen nach Görlitz, also quer durch die Republik. Dabei geriet ich immer in verschiedene Senderbereiche von Musiksendern. Die hatten alle die gleiche Klangfarbe, selbst die Jingles waren identisch, nur die Namen der privaten Stationen änderten sich.

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      • Genau, für die Lokalradios in NRW erstellt Radio Duisburg die Playliste und die Nachrichten, nur der lokale Teil kommt z. B. aus Warendorf oder Münster. Selbst eine regionale Hitparade ist eigentlich unerwünscht. Vielfalt der Sender und Einfalt des Angebots!

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  3. Wieder sehr interessant, und der Bezug zu Weihnachten nicht außer Acht gelassen. Chapeau!
    Mit Brechts Radiotheorie habe ich mich bisher nie befasst. Es ist was dran, denn in den Jahren, in denen ich online aktiv bin, bin ich zunehmend untauglicher für den rein passiven Medienkonsum geworden. Es scheint also zunächst die Interaktion der vorteilhaftere Umgang mit Wissen zu sein. Ob das jedoch grundsätzlich so ist, daran kommen mir in letzter Zeit Zweifel. Oft denke ich, dass – um (für mich selbst) „vorwärtszukommen“, ich mich wieder auf das Lesen und Hören beschränken müsste, mich eigener Verlautbarungen enthalten. Mit jedem Wort, das ich sage oder schreibe, lege ich mich fest (auch da, wo ich meiner Sache durchaus nicht sicher bin), und die eigene Meinung aufgrund neuer Erkenntnisse zu revidieren, wird schwieriger, peinlicher, … Ist nicht so manche verknöcherte Ansicht eines Greises nur das Resultat jahrelangen Beharrens auf einem einmal postulierten Standpunkt? – Gut, ich sehe ein, dass es die Menschheit auch nicht voranbrächte, wenn jeder nur im Stillen dächte, doch der Rundfunk kann von mir aus bleiben wie er ist, und aus Höreranrufen habe ich selten Interessantes erfahren.

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    • Das Wechselseitige, wie Brecht und andere fordern, ist in unserem Medium bestens zu organisieren. Sei nicht so streng mit dir und mit uns: Wir üben ja noch. Nach jahrzehntelangem passiven Medienkonsum, bei dem uns andere immer etwas vorgedacht haben, ergibt sich in den Blogs die Chance zum selbstständigen Denken. Das ist naturgemäß in dieser Anfangsphase noch ein bisschen unbeholfen, aber es entwickelt sich. Ich bin da optimistisch. Guck, als Deutschlehrer musste ich den Wert des Schreibens als gegeben voraussetzen, indem ich Aufsätze schreiben ließ und bewertete. Um das Schreiben zu vermitteln, habe ich nach realen Schreibanlässen gesucht. In den Blogs ergeben sich die Schreibanlässe und mithin die Anlässe, sich Gedanken zu machen, die Gedanken auszuformulieren, Adressatenbezogen zu schreiben wie von selbst.

      Natürlich ist es schwieriger, von einer einmal bestens dargelegten Meinung noch mal abzuweichen. Ich glaube nicht, dass das ein Problem des Alters ist, sondern der Eitelkeit. Einen Fehler oder Fehlschluss einzugestehen ist eine ganz schwierige Übung, die eine Souveränität des Geistes voraussetzt., Aber wie gesagt: Wir üben noch.

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      • Danke, Deine Worte haben wirklich etwas Beruhigendes. Und bitte akzeptiere meine Entschuldigung dafür, dass mein Kommentar sich so gelesen haben muss, als kritisiere ich nicht nur mich selbst sondern alle anderen gleich mit. Wir üben noch. Und in letzter Zeit habe ich das Gefühl, ich sollte üben, öfter die Klappe zu halten.

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  4. Von Brechts Radiotheorie habe ich noch nie gehört und eben erst den Link überflogen. Interessant. Austausch, Gespräche und Debatten…Das wünschen wir uns hier im Grunde auch. Sonst würden wir, oder zumindest ich, Tagebücher für die Nachttischschublade schreiben.
    Die Freude am Radiohören wird mir durch die unsägliche Werbung verdorben und ich kann mich leider zu oft nicht auf das pure Zuhören konzentrieren. Auf unserer Hütte ist es anders. Dort läuft die Zeit langsamer und passend dazu steht dort ein uralter Radio (Bayern, der Radio). Macht man ihn an, geht langsam das Licht an und es beginnt leise zu knacken und zu rascheln. Er ist ein Röhrenradio aus den 50igern und muss sich erst aufwärmen. Ich kann es nicht beschwören, aber ich glaube die Sendungen die er uns vorspielt sind interessanter, besser und auf wundersame Weise frei von Werbung.
    Einen schönen dritten Advent, lieber Jules.

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    • Es freut mich immer, wenn ich etwas Neues vermitteln kann. Man will schließlich nicht langweilen. Du hast mit Recht die Parallele von der Radiotheorie zu den Blogs gezogen. Was der Rundfunk nicht leistet, das schafft unser gemeinsames Medium. Wir sind allesamt Sender und Empfänger in Personalunion. Wir tauschen uns aus, erleben im persönlichen Kontakt verschiedene Weltsichten, sind gleichzeitig Lehrer und Schüler, ein Idealfall des Lernens.

      Ich höre seit 30 Jahren fast ausschließlich niederländisches bzw. flämisches Radio. Inzwischen verstehe ich aber alles viel zu gut, so dass mich deren Werbung auch nervt, obwohl sie mir weniger bescheuert vorkommt als die deutsche Radiwerbung, die offenbar von Idioten für Idioten gemacht wird.

      Eure Hütte scheint mir ein zauberischer Ort zu sein, liebe Mitzi. Darum glaube ich sofort, dass der alte Röhrenradio das Programm aus einer besseren Welt empfängt, so dass man bereitwillig inhaliert.

      Schönen Abend und gute Nacht, meine Liebe

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