Adventskalender – 9. Türchen – Starke Verben und kristalline Regenbögen im Vogelfrei

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Es war voll im Vogelfrei wie immer in der Adventszeit. Herr Leisetöne hatte zum Glück unseren Tisch reserviert. Als ich eintraf, saß er schon am Kopfende, das Fenster im Rücken, und las angestrengt. Was er las, habe ich nicht wahrgenommen, denn am Nebentisch biss eine Blondine gerade ein großes Stück aus einem Regenbogen. Ich habe schon allerhand gesehen, aber noch nie sah ich eine Blondine so breit beißen, nicht mal eine Rothaarige und erst recht keine Brünette. Da aber die anderen ringsum den Vorgang ignorierten, Leisetöne noch nicht einmal aufsah, schob ich mich auf die Bank an der Breitseite des Tisches, wo ich immer sitze, mit dem Rücken zur Wand.

Leisetöne macht gerade sein Schulpraktikum und erzählte mir von einer Unterrichtsstunde, die er zum Unterschied Erzählzeit und erzählte Zeit gehalten hatte, und obwohl ich meine ganze Phantasie aufbrachte, mir die Klassensituation zu vergegenwärtigen, konnte ich den Blick nicht von dem Rest Regenbogen wenden, den die Blondine vor sich auf dem Tisch hatte. Die ganze Gesellschaft am Nebentisch war ohnehin merkwürdig. Einer Dunkelhaarigen wuchsen aus dem Kopf zwei elastische Drähte, an deren Ende rote Kugeln saßen, die bei jeder ihrer Bewegungen hin und her, vor und zurück wippten. Leisetönes Schilderung unterbrechend, sagte ich: „Ich höre dir zu, bin aber abgelenkt von denen am Nebentisch und dem angebissenen Regenbogen darauf.“ „Geburtstag“, murmelte Leisetöne und fuhr unbeirrt fort.

Regenbögen treten bekanntlich immer paarweise auf. Der deutlich zu sehende ist im weiten Bogen umgeben von einem schwachen Nebenregenbogen, wobei die Abfolge der Farben umgekehrt zum Hauptregenbogen ist, also innen rot und außen blau. Das Stück auf dem Tisch war unten blau, stammte also aus einem Hauptregenbogen. Ein Nebenregenbogen war nicht zu sehen. Nach dieser wichtigen Beobachtung gelang es mir mühelos, das angebissene Teil als ein mit knalligen Lebensmittelfarben gefärbtes Kuchenstück zu identifizieren. Diese Erkenntnis befiel mich erst mit dem Pausenklingeln von Leisetönes Schilderung einer 45-Minuten-Stunde in exakter Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit, quasi in Echtzeit. Zu meiner Entschuldigung wäre zu sagen, dass ich meine Aufmerksamkeit ja teilen musste. Jedenfalls weise ich Leisetönes Behauptung, mein Gehirn habe eine kristalline Struktur und deshalb wäre ich nicht mehr so rasch im Denken, weit von mir.

Obwohl die Vorstellung von einer verzweigten, unermesslichen Höhle mit Hallen aus blitzenden Kristallstufen, in deren Prismen sich die Gedankenfunken tausendfach brechen, so dass sie aufgespalten werden in sich überlagernde Haupt- und Nebenregenbögen, recht artig ist. Dabei habe ich die Schilderung meines wunderbaren kristallinen Gehirns nur abgebrochen, weil ich niemandem einen so langen Satz zumuten will, in dem das bedeutungstragende Verb erst ganz am Schluss erscheint, wobei „ist“ ja nur ein Hilfsverb ist und noch dieses Satzadjektiv “artig” braucht. Über Grammatik geriet ich später mit Leisetöne in einen heftigen Streit, in dessen Verlauf wir uns anschrien. Ich habe das aber genossen, denn wie ich noch nie zuvor eine Blondine gesehen hatte, die ein Stück Hauptregenbogen verzehrt, hatte ich mich auch noch nie zuvor mit jemandem so heftig wegen Grammatik gestritten. Es ging um starke und schwache Nerven äh Verben.

Weil Grammatik doch viel zu langweilig ist, folgt jetzt kein Text zum Thema. Ich habe ihn vor langer Zeit gar nicht geschrieben, als Herr Leisetöne noch irgendwo auf dem Mond rumschwamm. Wenn Du trotzdem glaubst, hier Buchstaben zu sehen, die zu Wörtern und Zeilen angeordnet sind und sogar Inhalte transportieren, dann hat es etwas mit deiner Erwartungshaltung zu tun. In Wahrheit steht hier nichts. Alles wird von deinem Gehirn simuliert, sei es kristallin oder fluid. Und so ist der gesamte Text deine eigene Leistung. Du hast keinerlei Beweise, dass es anders ist, wenn du niemanden bittest, deine Wahrnehmung zu bekräftigen. Welchen Text willst du dir einbilden? Du könntest zum Beispiel einige starke Verben mit unregelmäßiger Konjugation im Konjunktiv II nehmen und eine kurze Kriminalgeschichte schreiben. Wortmaterial: helfen, melken, laden, schießen, triefen, sinken, heben, sterben, dreschen, singen, rinnen

Wenn er nicht hülfe und die Kuh nicht mölke,
dann lüde sie das Gewehr und schösse.
Er sänke zu Boden, ihm tröffe das Blut von der Stirn,
und mit einem Seufzer stürbe er sogleich.
Sie hübe ihn nicht auf und drösche noch die Leich.
Dann sänge sie ein Lied und mölke rasch die Kuh.
Hurtig rönne die Milch in den Eimer.

Normalerweise hättest du vielleicht alle starken Verbformen durch den Infinitiv + würde ersetzt.

Wenn er nicht helfen und die Kuh nicht melken würde,
dann würde sie das Gewehr laden und schießen.
Er würde zu Boden sinken, …

Doch dann hättest du dir die Untat gar nicht erst ausgedacht und der Melker würde noch leben. Denn die heute übliche Form ist viel zu umständlich und führt zu eintönigen Wiederholungen. Da macht das Melker-Meucheln keinen Spaß.

Warum sind wohl die alten Verbformen fast verschwunden? Auch die Klasse der ablautenden Verben ist nicht mehr produktiv. Neue Verben werden nur noch regelmäßig konjugiert, verändern also ihren Stammvokal nicht. Die deutsche Sprache hat durch diese Entwicklung an Klangvielfalt eingebüßt. Diese Abnutzungserscheinung ist vermutlich irreparabel, denn starke Verben mit unregelmäßiger Konjugation werden allgemein als veraltet empfunden und deshalb nicht mehr benützt. Man findet sie fast nur noch in alten Büchern. Doch wenn man diese Bücher nicht liest, existieren sie nicht. Ebenso gibt es die starken Verbformen nicht, wenn wir sie nicht mehr verwenden.

Hier jedenfalls findest du keine starken Verbformen. Hier steht gar nichts. Der Eintrag ist leer. Du hast dir diesen Ausflug in die deutsche Grammatik und ins Vogelfrei nur eingebildet.

Guten Morgen und schönen Tag

37 Kommentare zu “Adventskalender – 9. Türchen – Starke Verben und kristalline Regenbögen im Vogelfrei

  1. Das mag ich. Ach, was sag ich. Das liebe ich, lieber Jules. Das wunderbare Türchen!
    Die geschriebenen Bilder des ersten Teils sind toll. Ein angebissener Regenbogen und ab zu einer Handvoll Verben. Sehr fein.
    Vielen lieben Dank für diesen gar nicht leeren, sondern randvollen, herrlich springenden Text.

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  2. Es ging um das „Frl. Else“ in der Unterrichtsstunde. Wir haben zuerst ein bißchen Geometrie gemacht und uns dann am Zeitstrahl entlang gehangelt. Ich habe für ein die Gruppen jeweils eine Doppelseite herausgesucht, die nach Zeitangaben durchforstet werden mussten. Die Seiten hatte ich natürlich vorher schon „präpariert“, damit auch Ergebnisse notiert werden konnten. Als wir damit fertig waren, war von der Unterrichtsstunde kaum noch etwas übrig, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass ich so viele Zeitangaben auf den Seiten übersehen würde. Jedenfalls sammelten Schülerinnen und Schüler eifrig und wir ordneten alles. Es kam zu einem kleineren Widerspruch, der sich aber später aufklärte. Ich hätte für mein gesamtes Programm ungefähr soviel Zeit gebraucht, wie nötig ist, um „Frl. Else“ zu lesen. Das sind für den durchscnittlichen Leser ca. 2 Stunden. Ich hatte leider nur anderthalb, denn es war eine Doppelstunde.

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    • Wow, lieber Leisetöne, das ist gut in allen Einzelheiten erinnert. Wenn ich ehrlich bin, habe ich das damals gar nicht aufgeschrieben und lieber auf die breit beißende Blondine geachtet, weil ich gar nicht so gern an mein eigenes Lehrerdasein erinnert werden mag, was mir aber von dir so plastisch vor Augen geführt wurde und jetzt wieder wird, dass du mich jetzt dabei sehen könntest, wie ich schon wieder nach Blondinen ausschaue (ah! Mitzi im Kommentarfenster über dir ist eine), womit ich aber nichts Negatives über deine gewiss faszinierende Doppelstunde gesagt haben will, wobei mich diese Satzkonstruktion an eine der möglichen Distanzformen erinnert, mit denen sich der manchmal unliebsame Konjunktiv vermeiden lässt: Das Modalverbgefüge. Zur Vermittlung der Distanzformen: Konjunktiv, würde plus Infintiv, Modalverbgefüge, Infinitiv mit zu – ist sicher mindestens eine Doppelstunde nötig.

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    • Dann antworte ich natürlich nicht, wäre ja noch schöner, zumal ich mich jetzt verziehen muss, denn mein Putzmann rückt gerade mit dem Staubsauger an und liebt es gar nicht, wenn ich im Weg rumsitze. Dankeschön für die „fantastische Illusion“, den „Genuß“ und den Dreh ins reale Leben. Jetzt hocke ich im Raum nebenan auf meinem Bett und wünsche dir ebenfalls einen schönen Tag.

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  3. wunderbar….diese Vorstellung, den Regenbogen zu verspeisen, würde mir gefallen…..mir gefiel Dein Beitrag sehr……und irgendwie scheint Schule immer noch nicht aufregend geworden zu sein ….grammatikalisch gesehen ;-)))

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    • Vermutlich ist ein Regenbogen sogar ziemlich lecker. Freut mich, dass dir der Beitrag gefallen hat. Grammatik ist ja als trocken verschrien. Mich hat sie immer schon fasziniert. Genau betrachtet schillern Grammatikmodelle mindestens wie Nebenregenbögen. Unter meinen Lehrerkollegen galt ich als Grammatikexperte, so dass da nie jemand mit mir gestritten hat. Aber Leisetöne hat das Privileg seiner Jugend auf seiner Seite.

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  4. Herrlich. Ich mag Regenbogen! Und die heiße Blondine, die ihn aß! Du schrubst eine herrliche Geschichte. Ich wäre froh, sie würde aus meiner Feder geflossen sein. Ha! Zu meiner Schulzeit gab es, zumindest hat unser Deutschl-Lehrer das so gelehrt, Konditionial I und Konditional II.

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  5. Ups, sorry, Enter gedrückt. Also Beispiel Aktiv, Konditional I: „ich würde Enter drücken“, und Konditional II „ich würde Enter gedrückt haben“. Vermischt sich aber irgendwie im Deutschen doch mit dem Konjunktiv. Na, auf jeden Fall war es eine herrliche Vorstellung, Deine Geschichte. Wobei, Du hast die Verantwortung Deines „Nichtgeschriebenen“ dem Leser überlassen bzw. in die Schuhe gelegt. Sehr interessant. VG Willi

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    • Freut mich, dass der Beitrag dein Wohlgefallen findet. Vorsorglich weise ich darauf hin, dass das Adjektivattribut „heiße Blondine“ von dir stammt. Aber so kanns gehen, wenn ein Eintrag quasi die totale Leerstellenfüllung verlangt 😉 Dankeschön für die Beispiele des Konditionalis. Konditional I entspricht ja der Ersatzform würde+Infinitiv , Konditional II dem Futur II des Konjunktiv II. In heutigen Schulgrammatiken kommt der Konditionalis nicht mehr als eigene Form vor.

      Beste Grüße, Jules

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      • Ah, stimmt, hihi, heiß wurde sie von alleine, in meinem Hirn, vor lauter Regenbogen :-)! Und danke für die Aufklärung, ich hatte dieses Konditionalis schon vermisst irgendwie, unbewusst. Das verschwand, so klammheimlich, wie die alten Verformen. Heute wird alles vereinfacht in der Schule, tse, tse, tse.

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  6. Als die Kuh anhob, den Melker zu melken, indem sie dem Stier befahl, das Gewehr zu laden, und, wenn es sein musste, nicht zu zögern zu schießen, weil triefen – sie sagte immer triefen, wenn sie treffen meinte – triefen würde er ihn mit der Schrotflinte ohnehin, da hob und senkte sich des Melkers Brust im Dreivierteltakt und er schrie, aber es war mehr ein Singen als ein Schreien: Ihr könnt mich dreschen, wenn es sein muss windelweich, aber bitte, bitte nicht erschießen, weil sterben möchte ich noch nicht, und soll denn mein ganzes Blut auf den frisch gewienerten Kuhstallboden rinnen?

    Die Kuh und der Stier sahen sich verdutzt an und dachten, jetzt spinnt er, der Melker. Sie, die Kuh, hatte doch gar nichts getan, außer diesem handgreiflichen Melker die Euter verweigert …

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    • Hehe! So sieht die Geschichte also in deinem Kopf, quasi ösisch gwandelt aus? Ich hätte nie gewagt von Östereich zu sagen, dass da die Kühe die Melker mölken und dabei von Stieren mit dem Gewehr bedroht würden und das alles wäre begleitet vom Walzertakt, der alle Lebensbereiche wienerisch durchdränge. Ich gehe lieber nicht auf weitere Einzelheiten ein, falls hier Kinder mitlesen 😉

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  7. wenn herr ösi hier so hochdeutsch schreibt, mach ich doch einfach das gegenteil. man beachte die vokale.;-)
    +
    waun des bluad ned so rinat, und ois umadum ned scho so driafat, stabat a woascheinlich a.
    wauns eam no höfat, lodat i duach, schiaßat, und da feige mörda sankat – selbst waun a no mökat oder singat – aufd erd, wo i daun auf eam eidreschat bis eam kana mea dahebat.
    *

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    • „Sterbat“ dat i sogn, wei „stiabat“ des klingat, grod wauns ums Steam gangat, a bissl großkopfat, wo jo a kana mehr großkopfat sei suitat, oba wer waß, sicha is des „stiabat“ a schon an aussi grutscht … versehentlich …

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  8. …und noch ne Blondine hier 😉 …Die Vorstellung mit dem Regenbogen fand ich köstlich, aber dass Du mich dann an meine ERSTE und EINZIGE 3 in Deutsch – und natürlich in Grammatik – erinnern musstest, das kam wirklich aus dem Hinterhalt gesprungen *heul*. Bei uns wurde das noch unterrichtet und auch wenn es 33 Jahre her ist, erinnere ich mich ungern daran 😉 Ich wünsch Dir einen schönen Abend, lieber Jules…und mal unter uns gefragt: Welche Mondgöttin braucht schon Grammatik 🙂 ?

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    • Grammatikmodelle sind der Versuch, die Struktur einer Sprache zu beschreiben. Kein Muttersprachler braucht das, weil mit dem Spracherwerb eben auch grammatische Kompetenz einhergeht, was definiert wird als die Fähigkeit, endlos viele grammatisch korrekte Sätze hervorzubringen. Da unsere Sprache aber als lebendige Sprache sich wandeln muss, gilt die Bemerkung von Jacob Grimm, dem Ahnvater der Germanistik: “Jeder Deutsche, der sein Deutsch schlecht und recht weiß, d. h. ungelehret, darf sich (…) eine selbsteigene, lebendige Grammatik nennen und kühnlich alle Sprachmeisterregeln fahren lassen.” (Jacob Grimm in der Vorrede zur Deutschen Grammatik). Schade, dass die Schulgrammatik dir die Deutschnote verdorben hat, werte Mondgöttin. Aber du hast es offenbar verwunden,denn du schreibst wohlgemut und frisch auf.

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  9. Tztztztztz… Breit in einen Regenbogen beißen! Als Regenbogenfeinschmecker sollte man wissen, dass man den Regenbogen wie Spaghetti um eine Gabel aufwickelt – freihändig, ohne Unterstützung durch einen Löffel. man dreht die Gabel auf dem Himmelsteller. Das gilt sowohl für Haupt- als auch für Nebenregenbögen. Wobei Nebenregenbögen – gleich zu lange gekochten Spaghetti – die Tendenz haben, sich in ihrer aufgequollenen Fülle nicht nur um die Gabelzinken, sondern auch um den Gabelstiel, die Hand, das Handgelenkt, den Unterarm, …

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