Beim Aufräumen fand ich zwei Blätter, die mir vor langer Zeit ein Schüler namens Nikolaj gegeben hat. Die Kopien zeigen 39 Varianten, das Nikolaushaus zu zeichnen. Nikolaj hat sie zusammen mit einem Freund ausgeknobelt und die Zeichenschritte aufgezeichnet. Schon immer habe ich mich für solche Initiativen begeistern können. Also bat ich Nikolaj, seine Aufzeichnungen fotokopieren zu dürfen. (Ein Blatt ist links zu sehen.) Weil Nikolaj und sein Freund nach Versuch und Irrtum, ohne theoretisches Rüstzeug vorgegangen waren, konnten sie nicht sagen, ob sie alle Möglichkeiten gefunden hätten. Meistens wird das Nikolaushaus nebenher gedoodelt. Das Ziel ist es, das Nikolaushaus mit acht Strichen zu zeichnen, ohne eine Strecke zu doppeln. Zur Kontrolle dienen die Silben des Verses „Das – ist – das- Haus – vom – Ni – ko – laus“. Wer bei jeder Silbe einen Strich zieht und am Ende des Verses nicht fertig ist, hat verloren.
Zeigen Nikolajs Blätter alle Varianten? Ich bat einen befreundeten Mathematiker, ein Computerprogramm zu schreiben, um alle Varianten zu finden. Leider entzaubert meine Neugier die Endlosfigur. Zu deren Faszination gehört die Ungewissheit, ob die Figur gelingt oder scheitert. Wer sich diese Ungewissheit erhalten will, darf den folgenden Abschnitt nicht lesen. Nach dem Gong wird ein Konstruktionsprinzip verraten, mit dessen Hilfe die Endlosfigur immer gelingt.
Gong!
Ein Haus wird sinnvoller Weise von unten nach oben gebaut. Wer mit dem Dachstuhl oder Dachfirst beginnt, scheitert. Entsprechend muss man auch beim Nikolaushaus mit dem Fundament beginnen. Vom linken oder rechten Eckpunkt unten gezeichnet, gelingt das Nikolaushaus immer. Es gibt 44 Möglichkeiten, gespiegelt sogar 88. Nikolaj und sein Freund hatten also nur fünf Varianten übersehen. Der Zweig der Mathematik, der ihnen hätte helfen können, ist die Topologie. Man beruft sich auf den Mathematiker Leonhard Euler. Er hatte 1736 das Sieben-Brücken-Problem von Königsberg (heute Kaliningrad) vorgestellt:
In Königsberg befindet sich eine Insel, der sogenannte Kneiphof. Der Fluss teilt sich dort in zwei Arme,über die sieben Brücken führen. Ist es möglich, jede Brücke genau einmal zu passieren?
Der Weg, den ein Spaziergänger nähme, wäre ein Rundweg und entspräche einer Figur aus einem Zug. Euler hat mathematisch bewiesen, dass es diesen „Eulerschen Weg“ nicht gibt. Die schematische Zeichnung zeigt, dass an vier Stellen eine ungerade Zahl von Linien zusammentrifft. Es lassen sich aber nur solche Figuren in einem Zug abschreiten oder zeichnen, die höchsten zwei solcher Stellen aufweist. Zurück zum Nikolaushaus, das die Bedingungen für einen Eulersweg erfüllt. Es ist demnach eine sogenannte eulersche Figur. Wir ahnen, dass nur die Einkleidung dieser Endlosfigur kindlich ist.
Gong!
Schon in der Antike galten Endlosfiguren als mächtige magische Zeichen. Unverkennbar ist die formale Verwandtschaft des Nikolaushauses mit dem Pentagramm, dem vermutlich ältesten magischen Zeichen der Menschheit. Die Verbreitung des Pentagramms durch die Jahrtausende spiegelt sich in seinen zahlreichen Namen: Ring Salomonis, Pentakel, Alpkreuz, Drudenfuß, Pentalpha
(fünf A, vergleiche Gif-Animation).
Wie der Eulersweg zeigt, müssen Endlosfiguren nicht gezeichnet werden. Wichtig ist die in sich geschlossene Bewegung, beispielsweise als Geste. So schlägt man das Pentagramm auf folgende Weise:
Vom Herzen zur Stirn
zur rechten Brust
zur linken und
zur rechten Schulter
und zurück zum Herzen.
Das katholische sich bekreuzigen ist dem nachempfunden. Verachten wir also das Nikolaushaus nicht, wo es doch sehr ehrwürdige Verwandte hat.
Zuletzt soll noch von einem ganz großen Nikolaushaus die Rede sein. Der französische Autor Georges Perec hat in seinem wundersamen Roman La vie mode d’emploi (dt.: Das Leben Gebrauchsanweisung) als eulerschen Weg konstruiert. Ausgangspunkt ist ein fiktives herrschaftliches Haus Nr. 11 mit zehn Stockwerken in der Rue Simon-Crubellier in Paris. Es hat genau 99 Räume. Perec bewegt sich erzählerisch im Rösselsprung (wie der Springer über das Schachbrett geht) durch das Gebäude. Jeder Raum wird nur ein einziges Mal berührt und bietet den Anlass einer phantastisch-bizarren Erzählung.
Im 44. Raum kramt ein graubärtiger Mann in den Schubladen einer Kommode und findet zwei Fotokopien. Darauf sind zu sehen 39 Varianten, das Nikolaushaus zu zeichnen. Na, das ist jetzt aber wirklich gelogen.
Guten Morgen und schönen Nikolaus-Sonntag und 2. Advent
Der Beitrag ist der älteste der Serie und war 1994 im Jahrbuch eines Aachener Gymnasiums abgedruckt, für die Blogfassung erweitert und bearbeitet, erstmals veröffentlicht im Teestübchen-Adventskalender 12/2015. Alle Grafiken und Gif-Animationen: Jules van der Ley (Trithemius)
Da benötige ich diesmal glatt ein Taschentuch, um mir den, doch eigentlich längst vergangenen, mathematischen Angst Schweiß von den Händen zu wischen. Hatte ich ja früher genug Zeit, um Nikolaus Häuschen, in leere Lösungskästchen zu zeichnen.
Doch selbst die wurden ja rot angestrichen.
Hätten ich den Spoiler doch bloß schon früher gekannt…
Schönen Nikolaus Tag, du Lieber.
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Oh! Schon wieder ist ein Taschentuch nötig? Den Angstschweiß habe ich nicht ahnen können. Dabei ists nur Mathematik aus der Ferne betrachtet – als würdest du verkehrt herum durch ein Fernrohr schauen. Ich vermute, dass Mathematik nicht dein Lieblingsfach war 😉 Ich finde, die Nikolaushäuser hätte dein Mathelehrer nicht rot anstreichen dürfen, sondern er hätte die Chance ergreifen sollen, dir etwas Topologie beizubringen.
„Spoiler“? Ein Spoiler ist der Text ja nur, wenn du den vorsorglich eingebauten Gong missachtest.
Schönen Sonntag
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Natürlich habe ich den Gong missachtet.Ich wollte doch wissen wie es weiter geht! Tatsächlich zählte die Mathematik nie zu meinen Lieblingsfächern. Mit biegen und brechen hab ich mich letztendlich doch noch zu zwölf Punkten durchkämpfen können. Von daher ist der Angstschweiß wisch und weg gewischt. Doch die Erinnerung bleibt auch durch verkehrte Rohre betrachtet, rot und düster. 😉
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Noch immer sind Reaktionen auf Texte für mich überraschend. Ein Großteil der Kommentare bezieht sich auf den nebenher angedeuteten mathematischen Aspekt. Andere Aspekt bleiben fast unbeachtet. Ich will mal versuchen, deinen Blick grün und hell zu machen. Mich fasziniert beispielsweise der schriftmagische Gesichtspunkt, wie auch der ethnologische, nämlich die Tatsache, dass im kindlichen Spiel Ideen der Endlosfigur quasi über Jahrtausende transportiert werden. Mir fällt die Entsprechung beim Hüpfekästchen ein. Es stammt vermutlich aus dem antiken Mithraskult und zeigt die Initiationsstufen. Dann natürlich ist noch die Leistung des Schülers bewundernswert, wie er die Möglichkeiten zeichnerisch dokumentiert hat. Darauf muss man ja erst einmal kommen. Dazu kommt die immense Konzentrationsleistung, den Überblick zu behalten. Dann gibt es ja noch die Erweiterung um ein zweites Häuschen (und – ne – ben – an – vom – Weih – nachts – mann).
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Ich glaube wir suchen in fremden Texten das Verbindende. Darauf gehen wir in unseren Kommentaren ein. Ich lese aus deinen Worten die Faszination für den Inhalt dieses Textes heraus. Die Leistung des Schülers fand ich natürlich sofort bewundernswert…Hm. Zwei Denkanstöße an einem Tag. Tatsächlich fühle ich mich gerade ein wenig grün. Ich kann ja nur für mich sprechen aber vielleicht hätte dem Text mehr Zeit schenken sollen. Vielleicht hätte ich ihn einfach mehrfach lesen und richtig ankommen lassen sollen, bevor ich ihn kommentiert habe…
Danke.
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Was für eine Tiefstapelei. Zwölf Punkte entsprechen doch einer 2+ . Da kann man dich doch eigentlich beglückwünschen.
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Eine wunderschöne Blog-Vorlesung zu einem feinen Topologie-Problem der Mathematik, lieber Jules!
*clap hands*
Have a pleasant Nikolausi!! 🙂
Herzliche Herbstgrüße vom Lu
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Dass meine Vorlesung vor den Augen eines Mathematikers bestehen kann, freut mich mathematischen Laien wirklich. Vielen Dank für deinen lobenden Kommentar, lieber Lu,
Schönen Sonntagsgruß,
Jules
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Übrigens bin natürlich als Mathemusikuss auch ein großer Fan der Schriftsteller, die sich unter dem Namen oulipo zusammenschlossen, also vor allem von Raymond Queneau natürlich, aber auch von Georges Perec, dessen grandioses Werk „Leben. Eine Gebrauchsanweisung“ du ja auch erwähnst.
Liebe Morgengrüße vom Lu
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Ps:
https://finbarsgift.wordpress.com/2013/12/21/die-zahlen-queneau/
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Danke für den Link. Über Queneau haben wir uns letztens erst bei Manfred ausgetauscht. Von Perec habe ich außer „Das Leben Gebrauchsanweisung“ noch den Roman ohne e „Anton Voyls Fortgang“, der in meiner Ausgabe, übersetzt von Eugen Helmlé, versehentlich auf der ersten Seite ein e enthält. Dazu bald ein Text im Adventskalender. Ich bin auch ein Fan der Bewegung oulipo, das waren ja alles Pataphysiker.
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zwei mathematiker;-)
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… und kein Widerspruch. Dann bin ich ja quasi geadelt.
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Ein sehr schöner Beitrag! Es war eine Freude ihn zu lesen! Schönen Sonntag!
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Dankeschön für deinen Kommentar; das freut mich sehr. Beste Grüße!
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Ich gestehe zuerst gezögert zu haben. Mathe war mir zur Schulzeit ein Rätsel, aber in Physik war ich seltsamerweise sehr gut. Ein Widerspruch, sagte mein Lehrer damals. Es hat mir Spaß gemacht deinen Beitrag zu lesen. Beiträge aus deiner Feder regen immer den Geist an.
Also ho, ho, ho, mal sehen ob Wotan und der Krampus dir heute erscheinen.
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Warum? Stand doch nichts von Mathe drüber. Mich interessierten beim Schreiben sowieso mehr die bildnerisch-symbolischen Aspekte. Ist zwar auch nichts mit Physik, aber kommt ohne Mathe aus. Dankeschön fürs Lob!
Ich will nicht hoffen, die Wilde Jagd zu sehen. Werde mich zur Sicherheit ein bisschen betrinken.
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Ein Sammelsurium an feinen Gedanken aus Mathematik, einem wundersamen Roman und dem Nikolaushaus Experiment – herrlich, lieber Jules. Lesend, die Animationen mehr als nur einmal betrachtend, mit den Fingern das Häuschen auf dem Tisch nachzeichnend und die Königsberger Brücken mit den Augen ablaufend, habe ich mich lange in deinem Text verloren. Ich mag ihn sehr.
Von eulerschen Figuren hat man mir einmal erzählt. Vielleicht in der Schule, vielleicht auch viel später. Ich hatte sie vergessen. Danke für das zurück holen und dieses sehr, sehr schöne Türchen.
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Ach, welch schöne, herzerwärmende Kommentare du zu schreiben verstehst, liebe Mitzi. Dankeschön für das sehr, sehr schöne Lob! Da macht das Bloggen erst richtig Vergnügen.
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Schon bei den Rechenaufgaben schwirrt dem Herrn Ösi der Kopf. Ist aber noch gar nix im Vergleich zu den aufwendigen Gifs. Alle Achtung. Da hat sich Herr Trithemius selbst übertroffen, wenn man das so sagen kann …
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Wer sich selbst schon mal an Gif-Animationen versucht hat wie Herr Ösi, weiß die Gifs zu schätzen. Das freut mich, weil sie meistens unerwähnt bleiben, (abgesehen bei Mitzi oben.)
Dankeschön für die lobende Würdigung. Mich täglich selbst zu übertreffen ist mein Ziel, wenn ich morgens aufstehe. Klappt zwar nicht immer, aber ist eine produktive Haltung.
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Ich finde Mathematik interessant. Lustigerweise habe ich mir auch schon mal Gedanken über das Häuschen gemacht und wieviel Möglichkeiten es gibt, es in einem Zug zu zeichnen….mir gefiel dieser Beitrag besonders gut! Happy Nikolaus, lieber Jules 😉 Ann
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Ich verstehe nur wenig von Mathematik und habe hier nur auf den mathematischen Aspekt hingwiesen, weil er dem Nikolaushaus eine weitere Dimension gibt. Ich finde toll, dass du dich schon mal damit beschäftigt hast. Dankeschön für das dicke Lob, liebe Ann. Ich wünsche dir ebenfalls einen schöne Nikolaustag,
Jules
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Mein mathematisches Wissen beschränkt sich auch nur auf ein wenig erweitertes Schulwissen, aber mich interessiert es sehr.
Und lieben Dank für die Wünsche, Ann
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Vermutlich ist es meine Schuld, weil ich im Text nicht besonders betont habe, wie mich der Schüler beeindruckt hat. Wenn sich ein junger Mensch freiwillig eine solche Aufgabe stellt und so konsequent und intelligent durchzieht, dass will ich hier doch auch einmal herausheben, weil Schule eher bewirkt, solche Eigeninitiativen verkümmern zu lassen.
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mein Kleiner war im 2. Schuljahr und er hatte das kleine 1×1 gelernt und sollte es von der Tafel abschreiben…..alle waren fertig und er schrieb immer noch……er hat einfach von alleine weitergemacht und wollte bis zum Ende …… ich denke, eine ähnliche Neugierde war das bei Deinem Schüler…..
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Offenbar hat mich gestern nicht nur der Textteil dieses Türchens beeindruckt, sondern mehr noch der Aufmarsch der Weihnachtsmänner. Das Geräusch der marschierenden Stiefel holte mich nämlich heute Nacht im Schlaf ein. Muss gerade richtig lachen, da ich den Auslöser hier erkenne.
Eigentlich war ich nur zu diesem Türchen zurück gekehrt, um endlich den Nikolausbeitrag zu loben. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Möglichkeiten gibt, das Haus vom … zu zeichnen. Aber hier in der Nähe gibt es einen Eulerweg; immerhin weiß ich das. Vielen Dank und liebe Grüße – Samtmut
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Ein Fall von Synästhesie, denn ich habe die Nikoläuse ja nur scheinbar marschieren lassen,marschierende Stiefel entstammen deiner Traumphantasie. Jedenfalls finde ich kurios, sowas ausgelöst zu haben. Ich hatte ja keine Ahnung, was ich anrichte.
Für die Rückkehr und dein Lob danke ich dir sehr. Bevor ich Nikolajs Studien sah, hatte ich auch keine Idee, dass es so viele Varianten gibt. Bist du den Eulersweg schon gegangen?
Gerne und lieben Gruß,
Jules
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Ja, den Eulerweg bin ich gegangen, gelaufen, geradelt. Nur im Traum noch nicht, obwohl ich ihn schon mal ins Auge gefasst habe. Ich werde auf jeden Fall davon berichten, wenn es erst mal soweit ist.
Synästhesie, so so … Du bist also ganz sicher, dass da nie eine Tonspur war, Du eine solche nie entfernt hast, auch nicht in Schlaf und Traum?
Da siehst Du mal, was Du anrichtest! 🙂
Liebe Grüße – Samtmut
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Diese Sieben Brücken machen mich verrückt!
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Nein, bitte nicht. Du wirst noch gebraucht!
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