Holpern und Rumpeln, eine Zeitreise im Karren

Als ich noch in Aachen lebte, fuhr ich manchmal mit dem Bus nach Maastricht, um beispielsweise im Coffeeshop Easy Going Gras zu kaufen, natürlich aus rein wissenschaftlichen Gründen. Der Bus der Linie 52 fuhr eine Schleife durch Aachen, sammelte an drei Haltestellen Fahrgäste und brauste dann durch bis zum Grenzort Vaals, wo am Markt die ersten holländischen Fahrgäste zustiegen. Da kam sogleich Leben in die Bude, denn die Holländer pflegten sich zu unterhalten. Das ging so lange, bis der private Linienbetreiber endlich für Ruhe im Bus sorgte und Fahrgastfernsehen einführte.

Inzwischen hat sich das Verhalten von Holländern und Deutschen angeglichen. Wer täglich ein öffentliches Verkehrsmittel benutzt, kennt die üblichen Verhaltensweisen. Manfred Voita hat gestern in seiner hübschen Kurzgeschichte: Buddha hat Urlaub davon erzählt, Mitzi Irsaj hat mir aus der Münchner S-Bahn einen Kommentar geschickt und berichtet, wie sie meinen Krimi von gestern unterwegs gelesen hat. Man möge sich einen Augenblick mit mir darüber wundern, dass es technisch möglich ist, sie fährt und ich sitze still an meinem Rechner und wir kommunizieren.

Mich haben Systeme der öffentlichen Verkehrsmittel immer fasziniert. Weil sie alltäglich genutzt werden, haben sie den Anschein des Selbstverständlichen und finden meist nur Beachtung bei Verspätung, Überfüllung oder wenn sie gar nicht fahren wie in Brüssel der letzten Tage, wo wegen der höchsten Terrorwarnstufe das öffentliche Leben beinah stillstand und heute erst wieder langsam in Gang gesetzt wird. Die Gleisnetze der Münchener MVG, der Brüsseler Metro oder der Deutschen Bahn sind natürlich auch Netze der Fernkommunikation. Sie befördern freilich nicht nur Kommunikation, sondern die Erzeuger von Kommunikation gleich mit.

Trithemius, komm zur Sache! Sorry, ich habe mal wieder so ein großes Durcheinander im Kopf, will sagen, die Wagen haben die Gleisspuren verlassen, und rumpeln kreuz und quer. „Rumpeln“ ist das Stichwort, was die Gedanken wieder spuren lässt. Vor 460 Jahren, im Jahr 1555 war Reisen ein beschwerliches Unternehmen. Man saß im ungefederten Pferdewagen. Der holperte und rumpelte über Stock und Stein, dass die Reisenden ihre Knochen kaum zusammenhalten konnten. Und wenn du im Augenblick den Herrn neben dir anrempelst, im nächsten der Dame gegenüber auf dem Schoß liegst, dann kannst du nicht „keinen gesehen!“ pfeifen, sondern ihr lernt euch kennen und kommt ins Erzählen.

Der frühneuhochdeutsche Schriftsteller Jörg Wickram aus Colmar (Elsass) hat im Jahr 1555 eine Sammlung von Erzählungen herausgebracht, mit denen sich die Reisenden die beschwerliche und langwierige Reisezeit verkürzt haben, das Rollwagenbüchlein. Das Rollwagenbüchlein enthält 67 Schwänke, von denen ich jetzt einen Schwank nacherzähle, nacherzähle deshalb, weil der Schwank eine mündliche Form ist wie der Witz. Schwänke sind kurz, manchmal derb oder obszön, handeln von dummen und tölpelhaften Leuten, von Fahrenden, Pfaffen, Studenten, Handwerkern, Wirtsleuten und Bauern. Du liebe Zeit, die Vorrede ist länger als der Schwank. Also bitte, wir steigen in den Rollwagen:

RollwagenbüchleinEin fahrender Student klopfte eines Nachts an die Tür eines einsamen Bauernhauses und bat um ein Nachtlager. Der gutmütige Bauer holte den durchgefrorenen Studenten in die Stube, wo die Familie sich gerade um den Tisch versammelt hatte, um das Nachtmahl einzunehmen. Der Student blies froh in seine klammen Hände.
„Warum machst du das?“, fragte der Bauer.
„Na, damit sie warm werden“, sagte der Student. Man reichte dem Studenten einen Teller dampfender Suppe. Der Student wollte sich nicht den Mund verbrennen und blies in die Suppe.
„Ja, und warum machst du jetzt das?“, fragte der Bauer.
„Damit die Suppe abkühlt“, sagte der Student arglos.
„Oho!“, rief der Bauer. „Bist du etwa einer, der heiß und kalt zugleich aus dem Maul blasen kann?! Das kann nur mit dem Teufel zugehen, also pack dich wieder!“ Rief’s und setzte den Studenten vor die Tür.

Abbildung aus Wikipedia: Das Rollwagenbüchlein (größer: bitte klicken!)

20 Kommentare zu “Holpern und Rumpeln, eine Zeitreise im Karren

  1. Von der Geschichte gibt es doch bestimmt nicht nur diese eine Version, oder? Ich hatte sie im Kopf mit einem Kobold, der einen Menschen beobachtet und befragt. Weil ihm das mit dem heißen und kalten Atem aber nicht geheuer ist, sind die Kobold heute aus unserem Blickfeld verschwunden, so sinngemäß. Wahrscheinlich könnte auch jedes andere Fabelwesen dort eingesetzt werden.

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  2. Herrlich. Die Vorrede und natürlich der Schwank, die Interpretation des Verhaltens des Studenten und der Situation aus der subjektiven (in diesem Fall auch „eingeschränkten“ Sicht des Bauern, sehr lehrreich. Und so ein „nettes“ Wort: Rollwagenbüchlein 🙂

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      • Gefunden!
        Ein Bauernsohn lässt einen Ring machen

        Indem wir da beim Barbier waren, erzählte ein Jubilierer oder Goldschmiedegesell ein artig Stücklein: Es sei vor vierzehn Tagen ein Bauernknecht zu seinem Herrn gekommen, der mit ihm um einen Ring einig geworden. Der Bauernknecht habe auch begehrt, diese Worte draufzustechen: „Ich Schulze Hänsel hab Gretle lieb, sie mich auch, so mein ich.“ Da nun der Bauer wiedergekommen sei, den Ring abzuholen, habe ihm sein Herr die Worte vorlesen müssen: „Ich Schulze Hänsel hab Gretle lieb“ usw. Das Bäuerchen aber sei zornig geworden, weil der Herr gesagt: „Ich hab Gretle lieb.“ Dann sagte der Bauer: „Du hast sie nicht lieb, ich hab Gretle lieb.“ Der Herr habe des Gecken gelacht und versprochen, die Worte anders und nach seinem Begehr zu setzen, aber Schulze Hänsel müsse etliche Viertel Weizen weitergeben. Heute sei er wiedergekommen, da ihm sein Herr die Worte so vorgelesen: „Du Schulte Hänsel hast Gretle lieb, sie dich auch, so meinst du.“ – „Jetzt ist es recht“, sprach er und lieferte den versprochenen Weizen. (Aus: Gepflückte Fincken oder Studenten-Confect; Frankenau 1667; in: Petzoldt, Deutsche Schwänke, Stuttgart 1979)

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  3. Jaja, der Maastricht-Express. Ich habe ihn mehrfach auch nur aus rein technischem Interesse benutzt, um deren Stoßdämpfer zu fühlen. Dass ich dann in Maastricht oft ziellos nach einer wissenschaftlichen Tasse Kaffee in den Cofeshops gesucht hatte, das ist eine andere Geschichte … ich war mir nie sicher, ob bei den zugestiegenden Fahrgästen nicht auch der ein oder andere Schleierfahnder gen Maastricht oder in Maastricht selber eingestiegen war. Denn davor hatte man mich in meinem rein wissenschaftlichen Interesse gewarnt gehabt, dass solche Störparameter jeden wissenschaftlichen Anspruch in Null komma Nüscht annulieren konnten … 🙂

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  4. So, so „aus rein wissenschaftlichen Gründen“ ? Ich steh dazu, wir haben früher das Kraut ab und an aus Vergnügen geraucht. Am Anfang als ich täglich Zug fuhr habe ich immer den „Spiegel“ gelesen, dann lernte ich andere Pendler kennen und wir hatten es jeden Tag gemütlich im Zug beim Schwatzen. Da blieb die Lektüre in der Tasche, das war viel amüsanter. Da wir aus verschiedenen Berufen kamen oft auch sehr informativ.

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    • Einmal ging es mir wirklich um ethnologische Studien, dann aber um Versuche, wie sich Grasrauchen auf mein Schreiben auswirkte. Es machte mich nicht träge wie mab üblicherweise dem Kiffer nachsagt, sondern beflügelte meine Kreativität, und ich habe viel unter Grasewinfluss geschrieben, auch den Krimi von gestern oder meine Blogtexte aus der Anfangszeit. Ich weiß übrigens nicht, ob heute noch in Bahnen geschwatzt wird, fahre allerdings auch nicht immer mit der gleichen Bahn.

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  5. Tja – ist das jetzt eine Geschichte vom dummen Bauern, weil der nicht kapierte, was der Leser sofort versteht? Ist es eine Geschichte, die von der naiven Religiosität der Landleute handelt, die, fest im Glauben, manchmal etwas schwach im Denken waren? Oder ist es eine Geschichte vom Studenten, der, so klug wie er war, beim Bäuerlein den Kürzeren zog? Dem all seine Bildung nicht hilft, während der einfache Mann seine Mahlzeit in der warmen Stube hat? Ach, vermutlich ist es eine Geschichte von all dem.

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    • Ja und aus heutiger Sicht zeigt sie, wie schnell man in den Verdacht geraten konnte, mit dem Teufel im Bund zu sein und wie allgegenwärtig der Teufel war. Andererseits machte man sich über diese Form des Volksglaubens schon lustig und schrieb sie dem ungebildeten Bauern zu. Da deutet sich ein Geist an, der später zur Aufklärung führte.

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  6. In so einem rumpelnden Wagen ließ es sich wohl nicht vermeiden ins Gespräch zu kommen. Ich hätte nichts dagegen, wenn man mir im Zug auch heute noch einen Schwank aus dem Rollwagenbüchlein oder dem Leben erzählt. Man könnte mir auch eine Geschichte erzählen oder etwas vorlesen, solange man mich mit zwangsweise mitgehörten Handytelefonaten verschont. Nicht weil ich es rücksichtslos finde. Im Gegenteil – die Kommunikation in Zügen ist herrlich. Ich bedaure es nur regelmäßig, den zweiten Gesprächspartner weder zu sehen noch zu hören. Dann muss mich bremsen, um nicht nachzufragen, worum genau es gerade in dem Telefonat geht.

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    • Leider ist diese Erzähltradition fast völlig versunken. Wann hört man wohl noch eine richtig gute Geschichte? Allenfalls die urbanen Sagen, die in den 80ern durch den Enthnologen Rolf-Wilhelm Brednich bekanntgemacht wurden (Die Spinne in der Yuccapalme u.m.), knüpfen daran an. Zu deinem letzten Satz habe ich einen lustigen Text, den ich nächste Woche im Teestübchen-Adventskalender veröffentlichen werde.

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  7. Pingback: Ein Netz wird zerfetzt

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