Kleine Geschichten (6) – Kirchtürme sehen

Kleine Geschichten
„Den Hansen müssen Sie mal besuchen“, sagte Ortsvorsteher Theo Lammen, „der hat viel Zeit, der hat ja nur ein Bein. Ach, wissen sie wat, ich jehe mit Ihnen.“ Lammen, ein rotwangiger Bauer im Ruhestand, hatte schon mehrmals den Türöffner für mich gespielt und begann offenbar Gefallen daran zu finden. Wir gingen über die Straße zum Haus des Einbeinigen und durchquerten den überwucherten Vorgarten. Er klingelte an der Haustür. Eine alte Frau öffnete.

„Juten Morjen, Frau Küttelwäsch!“, sagte Lammen. „Das hier ist der Herr van der Ley. Der will im Dorf Geschichten sammeln. Kann der ens mit ührem Broder kalle?“

Sie wischte sich die Hände an der Kittelschürze ab und reichte mir die Hand. „Ja, von Ihnen hann ich schon jehürt!“, sagte sie, „dann kommen Sie ens erein!“ Frau Küttelwäsch zog die Tür auf und trat zur Seite.

Der Flur war niedrig und hatte wenig Licht. An den unordentlich angebrachten Wandpanelen hingen diverse Bilderrahmen mit religiösen Motiven, offenbar Mitbringsel aus den Wallfahrtsorten Kevelaer oder Banneux, die der Mütterverein alljährlich anfuhr. Wir durchquerten eine kleine Küche, dann führte uns die Frau nach rechts ins „jute Zimmer“, dessen zwei Fenster zur Straße hinauszeigten. Das gute Zimmer erstreckte sich über die Frontseite des Hauses und war durch eine faltbare Trennwand aus nikotingelbem Plastik unterteilt.

Hinter der Falttür bot sich ein bizarrer Anblick. Über die gesamte Stirnseite des Raumes erstreckte sich eine eichene Schrankwand. Aus dieser Wand war ein Schrankbett ausgeklappt. Dort saß inmitten seines zerwühlten Bettzeugs ein kleiner alter Mann. Er trug einen braunen Frottee-Schlafanzug. Das rechte Hosenbein war hochgeschoben. Heraus schaute ein schrundiger Beinstumpf, der endete, wo das Knie hätte sein sollen. Ein großer Tisch beim Fenster war mit Medikamentenpackungen bedeckt. Hansen lächelte uns erwartungsfroh an. Er schien nichts dabei zu finden, seinen Beinstumpf zu zeigen.

„Pitter, der Herr will ma mit dir sprechen. Der is us Oche!“, sagte Lammen.
„Ja, dat Sie us Aachen sinn, weeß isch, isch hann jo dat Nummernschild von Ührem Auto jesenn!“

Ich schüttelte dem Einbeinigen die Hand. Sie war warm und klebrig.

„Bitte entschuldigen Sie die Unordnung!“, sagte Frau Küttelwäsch, „mein Bruder erwartet die Gemeindeschwester, damit die sein Bein versorgt. Ich mach Ihnen mal Platz, dann können Sie sich an den Tisch setzen.“ Sie schob mit ihrem Unterarm die Medikamente zu einem Haufen zusammen.
„Nein, machen Sie sich keine Umstände, Frau Küttelwäsch!“, wehrte ich ab, „ich komme schon zurecht.“
„Sie brauchen mich ja sicher nicht mehr“, fragte Lammen.
„Ja, danke schön, Herr Lammen“, sagte ich, „wir sehen uns später.“
„Dann will ich mal denen da draußen auf die Finger gucken!“
„Ja, Herr Lammen, die mösse Se ens in de Fott tredde“, rief der Einbeinige, „dat sin voule Lömmele. Die donn nix!“ ( … die müssen Sie mal in den Hintern treten, das sind faule Lümmel, die tun nichts!) Dabei wippte sein Beinstumpf bestätigend auf und ab. Ich schaute aus dem Fenster, schräg hinüber zu den gescholtenen Gemeindearbeitern. Sie waren zu dritt. Als ich eintraf, hatten sie Anstalten gemacht, ein altes Transformatorenhäuschen niederzulegen, das auf der Ecke von Lammens Anwesen stand. Jetzt standen sie wie machtlos vor dem hohen Ziegelbau und rauchten.

„Da haste Reäch, Pitter, isch jonn dann ens!“, sagte Lammen und ging mit Frau Küttelwäsch hinaus. Ich setzte mich zu den Medikamenten an den Tisch und packte meine Karteikarten aus. „Sie haben ja freien Ausblick“, sagte ich und deutete zum Fenster.
„Ja!“, rief der Einbeinige, „isch kann von meinem Bett aus sieben Kirchen sehen!“ Sein Finger wanderte über die Felder hinweg zum Horizont. Ich schaute hinterher. Tatsächlich sah man in der Ferne die Türme mehrerer Kirchen. Er zählte mir stolz die Namen der Pfarreien auf, und ich schrieb sie auf eine Karteikarte. Mehr erfuhr ich nicht von ihm. Denn derweil ich notierte, worin er seinen Trost fand, brachte Frau Küttelwäsch die Gemeindeschwester herein.

Einige Wochen später fand ich auf dem Kirchhof sein Grab. Er war fünf Tage zuvor gestorben. Ich stand eine Weile still, las seine Lebensdaten und sah ihn vor mir, wie er freudig die Kirchen aufgezählt hatte, da, aus seinem Schrankbett heraus. Wie klein seine Welt zuletzt gewesen war. Und doch hatte er Weite darin gefunden. Hatte sich die fernen Kirchen durch sein Fenster ins Schrankbett geholt, sich erinnert, wie er noch kräftig auf zwei Beinen und da und da gewesen war. Und jetzt lag er unter der Erde. Es regnete. Bald würde das Grab einsinken. Die Blumen hingen nass und welk auf den Kränzen. Die Aufschriften der Bandschleifen waren ausgewaschen, und ihre Enden ruhten in lehmigen Pfützen. „Letzter Gruß – Die Nachbarschaft.“ Das klang ungewöhnlich kühl. Später sollte ich den Grund erfahren. Denn je länger ich in der 240-Seelen-Gemeinde unterwegs war, um so mehr begannen sich die Geschichten zu verknüpfen.


Alle Namen geändert – Bild oben: Pfarrhaus in Kirchheim mit Friedhof – Foto: Gudrun Petersen
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15 Kommentare zu “Kleine Geschichten (6) – Kirchtürme sehen

  1. Das ist so dicht, so nah an den Menschen und ihrer Umgebung, dass ich Frau Küttelwäsch fast hören kann, wie sie dir in einem Hochdeutsch antwortet, dem leicht anzumerken ist, dass sie sich Mühe gibt. Auch die Stimmung auf dem Friedhof passt und das nicht nur wegen des Wetters. Am Ende des Textes noch ein Cliffhanger… perfekt!
    Das ist die eine Seite, die andere ist die des Lebens in diesem Dorf, die Ruhe, aber auch das gelassene Akzeptieren, dass es so ist, wie es nun mal ist. Deshalb kann man trotzdem noch mal jemand in den Arsch treten.

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    • Vielen Dank fürs aufmerksame Lesen und dein profundes Lob.Inzwischen sorge ich mich nicht mehr wegen der Dialektanteile, obwohl einige Wörter sicher schwer zu verstehen sind wie „kalle“ für „reden“. Ich könnte es bei einer späteren Bearbeitung machen wie die Frühdrucker, nämlich ein Glossar anhängen, wo die wichtigsten Wörter übersetzt werden. (Ist mir gerade erst eingefallen). Zum gelassenen Akzeptieren: Besonders der Ortsvorsteher hat mich mit seiner ruhigen Selbstgewissheit, seiner natürlichen Autorität und seiner gelassenen Weltklugheit für sich eingenommen. Manchmal zeigte sich ein feiner Spott. Erst nachher habe ich gemerkt, dass er meine wichtigste Quelle war.

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  2. Ein aus der Zeit gefallenes Schrankbett hinter einer nikotingelben Faltwand aus Plastik. Wenigstens hatte er noch sein Fenster und die Erinnerungen. Nah und dicht dran, so geht es mir auch. Auch ich habe das Gefühl, gleich neben dem Geschichtensammler zu stehen und den Gesprächen zuzuhören. Der, für mich fremde und ungewohnte Dialekt passt zur Neugier die mit jedem Besuch mehr geweckt wird.
    Das frische Grab mit einem der wenige Sätze zuvor noch erzählte und von dem man nun natürlich wissen möchte, warum er keine wärmeren und herzlicheren Worte mit auf den letzten Weg bekommen hat.
    Lieber Jules, in diese kleinen Geschichten habe ich mich verliebt. Es fällt mir schwer, nicht einfach „Weiter!“ zu rufen.

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    • Wobei die Schrankwand recht stabil wirkte. Sie war jedenfalls nicht so wie die billigen Imitate aus furnierter Eiche, die man in Belgien häufig findet, und bei denen nach kurzer Zeit die Schranktüren schief in den Angeln hängen. Ich freue mich, dass ich Nähe vermitteln kann, liebe Mitzi. Mir selbst geht es beinah anders. Die Erinnerung ist schreibend Text geworden. Je besser ich etwas aufgeschrieben habe, desto dominanter ist der Text. Gegen den kann sich die Erinnerung kaum behaupten. Aber heute habe ich zufällig weitere Karteikarten mit Aufzeichnungen gefunden. Sofort kehrt die Erinnerung zurück. Daher auch der Nachtrag unter dem Text von gestern.
      Dass du dich in die Kleinen Geschichten verliebt hast, ist so ein schönes Kompliment, das es mir leicht macht, weiter zu schreiben. Lieben Dank und gute Grüße,
      Jules

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      • Ich hätte vermutet, die Erinnerung wird intensiver je mehr du dich damit befasst und der Text spiegelt sie nur wieder.
        Aber eigentlich macht es Sinn. Du schreibst ja nicht blanke Erinnerungen nieder, sondern lässt sie in eine schöne Erzählung einfließen.

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        • Ja, es ist erzählende Literatur, auch wenns nicht so daherkommt. In jeder Erinnerung gibt es Leerstellen. Die füllt man beim Aufschreiben so, das es plausibel erscheint. Später ist nicht mehr festzustellen, wo die Erinnerung an tatsächliche Ereignisse aufhört, wo literarische Bearbeitung anfängt. Ich habe mal eine Reportagreihe über die Straßenbahnlinie 9 gemacht. Manche Teilstücke musste ich zweimal befahren, weil ich nach dem ersten Mal nicht genau errinnerte und viele Leerstellenfüllungen erfordlich waren. Da war ich total erstaunt, wie verfälschend eine aufgeschriebene Erinnerung ist. Was anderes sind meine Kaerteikarten. Sie enthalten nur Stichpunkte.

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  3. Ich rufe auch ganz laut „Weiter!“ – nach dem Cliffhanger erst recht 😃
    Als Kind habe ich auch in einem Dorf gewohnt, die Geschichten fallen mir gerade auch alle wieder ein.
    Danke für diese Gedankenreisen!

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  4. Lieber Jules, hab gerade gemerkt, dass ich mich zwar gestern in Deinen kleinen Geschichten fest gelesen habe, aber durch eigene Erinnerungsfetzen zu abgelenkt war, als dass ich nur gelikt, geschweige denn etwas kommentiert hätte…*schmunzel* so geht’s manchmal.
    Danke fürs teilhaben lassen…und ich bin sooo neugierig 😉
    Liebe Grüße

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