Vorsorgliche Bemerkungen über nichts

An manchen Tagen kann ich nicht gut schreiben. Gestern war wieder so ein Tag. Es geht los damit, dass ich vier Wörter schreibe und fünf wieder lösche. Das ist nicht zum Schmunzeln. Dieser Text hier soll überhaupt nicht erheitern. Ich sehe noch Herrn Leisetöne gestern im Vogelfrei, wie er schmunzelnd sein Notizbuch aufschlägt und diese meine Klage hier notiert. „So ein Mist“, habe ich gedacht. „Jetzt finde ich mein Problem demnächst in Leisetönes Blog wieder, zu aller Leute Heiterkeit.“ Oder er schreibt wieder irgendwas Schreckliches über den Geistesblitz und gibt mir die Schuld, weil ich gesagt habe, er dürfe nicht über eine spekulative Idee schreiben, die ich vertrauenselig am Biertisch geäußert hatte. Leisetöne kann natürlich schreiben, was er will. Darum muss ich ihm zuvor kommen, um wenigstens die Deutungshoheit mir zu sichern. Sorry, der letzte Satz zeigt eine Restsymptomatik meiner Probleme von gestern. Eigentlich gehört das arme Wörtchen „mir“ nämlich nicht hinter das erdrückende Substantiv „Deutungshoheit“, wo es steht, als würde ich noch kurz vor Satzende eine verhunzte Pirouette drehen. Eigentlich stand „mir“ hinter „Um“. Aber weil ich irgendwann letztens behauptet habe, es wäre ein Stilfehler, wenn Wörter mit dem Buchstaben anlauten, mit dem das vorangehende auslautet, also „um mir“ nicht gelten lassen wollte, aber zu faul oder zu eilig war, mir eine bessere Wendung zu überlegen, steht „mir“ jetzt verlegen hinter „Deutungshoheit“ rum und dreht die Kappe in der Hand wie ein Bauer, der seinen Grundherrn um Erlass des Zehnten bitten will, weil die Ernte verregnet ist.

Um das Nicht-gelten-lassen-können geht es nämlich. Wenn ich vier Wörter schreibe und fünf wieder lösche, durchstoße ich mit dem letzten Löschakt die dünne Membran, die meine Wirklichkeit umgibt. Niemand soll leichtfertig glauben, dass einfach zu schreiben wäre, wo Wort Nummer fünf sich ausgelöscht befindet. Ein gelöschtes Wort, das es gar nicht gab. Ich bitte dich. Wenn du ein Wort auslöschst, das es gar nicht gibt, ja, was glaubst du da zu tun? Wo glaubst du befindest du dich?

Schreiben findet in der 3. Dimension statt. Ein Text auf dem Bildschirm ist zweidimensional, wenn ich nur einen Punkt schreibe, also . befinden wir uns in der ersten Dimension, aber wo Wörter gelöscht werden, die gar nicht da waren, ist null Dimension oder schlimmer noch -1. Dimension. Ein Mathematiker könnte vielleicht damit umgehen. Die Kerle rechnen sogar mit negativen Zahlen, aber ich kann an einem solchen Ort nicht stehen, geschweige denn vernünftig schreiben. Es ist da nicht nur kein fester Untergrund, da ist Chaos. Da schwirren Gedanken herum, schießen quasi durch die Gegend wie ein Haufen Schwalben auf der Jagd nach fetten Mücken, wobei sie sich vor lauter Gier gegenseitig in die Quere kommen, so dass kaum eine Schwalbe je was fängt. Aber eigentlich ist da gar nichts, und ich bin hin- und hergerissen.

Exponat der Ausstellung F. W. Bernstein zum 75. Geburtstag – Foto: Trithemius

An meinem Text über den Strategischen Bahndamm kann jeder ablesen, dass ich meine Kindheit in einer reizarmen Gegend verbracht habe. Da war ich gezwungen, auch Kleinigkeiten zu beachten, um genug Nahrung für meine angeborene Neugier zu finden. Folglich ist ein Zuviel an Dingen schädlich für mein Denken. Am besten kann nämlich einer wie ich über gar nichts schreiben. Beziehungsweise über das winzige bisschen zwischen gar nichts und nichts. Entsprechend besteht mein Beitrag zum wunderbaren Wikipedia darin, dass ich ein bisschen über nichts geschrieben habe, nämlich über die Abwesenheit von Information, den Wortzwischenraum, genauer das Leerzeichen.

Weil in meinem Kopf so ein Durcheinander von sich gegenseitig behindernden Gedanken war, konnte ich gestern kaum ordentlich kommentieren. Wer einen einigermaßen vernünftig erscheinenden Kommentar von mir bekam, sollte bedenken, dass ich ewig lang daran herumgeschnitzt habe und am Schluss dachte, naja, ein krummer Stock wird auch nicht gerade, wenn ich Muster in seine Rinde schneide. Und genauso erging es mir, als ich versuchte, einen eigenen Text zu schreiben.

Mein gestriger Text hat es nur mit Müh und Not durch die strengen Teestübchen-Qualitätskriterien geschafft, der krumme Hund. Wenn überhaupt hätte er enden müssen bei dem Wort „hässlich.“ Die Sache war ausgereizt. Und nur weil ich dachte, die Leute sollen nicht mit dem Wort „hässlich“ im Gepäck nach Hause gehen, derweil ich gesellig im Vogelfrei sitze, habe ich noch einen Schluss drangewurschtelt, in dem ein neuer Aspekt aufgeworfen wurde. Ursprünglich hatte da noch was ganz anderes gestanden, aber das will ich jetzt nicht ausführen, sonst lösche ich alles wieder. Und ein Wort mehr. Jedenfalls kann Leisetöne jetzt schreiben, was er will, denn die Deutungshoheit über mein Schreibproblem habe jetzt ich, mein junger Freund.

35 Kommentare zu “Vorsorgliche Bemerkungen über nichts

    • Als meine zweite Beziehung in Hannover scheiterte, stand ich da und kannte hier niemanden. Ich hatte gerade ein Buch herausgebracht über meine Lesereise mit dem Rad von Hannover nach Aachen. Da schrieb mich jemand an, er würde sich das Buch gerne abholen, um das Porto zu sparen. Er wäre nämlich Literaturstudent und habe Zeit herumzulaufen, aber nicht viel Geld. So lernte ich Leisetöne kennen, der so nicht heißt, aber sein lesenswertes Blog heißt so (im Text zweimal verlinkt). Seither sind wir befreundet, und über ihn lernte ich noch viele andere kennen, die in meinen Texten schon mal auftauchen, beispielsweise Herrn Putzig und Filipe d’Accord, mit dem ich letztens aufgetreten bin. Ein Schluck Wasser – AH! Das tat gut! Es ist immer anstrengend, rhetorische Fragen zu beantworten. 😉

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  1. Nachdem ich heute Morgen bereits eine ganze Weile an deiner Deutungshoheit gearbeitet habe, muss ich dir jetzt doch noch einmal danken. Ich hatte nämlich längst vergessen, dass ich etwas in mein Notizbuch kritzelte. Und soll ich dir jetzt mal sagen, was ich tatsächlich aufgeschrieben habe? Da steht: „Bei der Antwort auf die Erkundigung nach der eigenen Gesundheit gestorben. An einer Erbse im Hals.“ Du bist natürlich nicht gestorben und ich habe mir das auch nicht gewünscht, aber die Vorstellung, so etwas passierte jemanden, die befand ich für aufschreibenswert.
    Das ist jetzt auch wieder so etwas wie das fünfte Wort, wenn ich darüber nachdenke.

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  2. Da warst und bist du aber sehr kritisch mit deinem gestrigen Text. Ich habe ihn eben erst gelesen.
    Und ganz leise muss ich dir sagen, dass es doch das Wort hässlich ist, das hängen blieb. Nicht alleine, sondern sogar doppelt. „Wer so hässlich über die Welt spricht, dessen Welt ist auch hässlich.“….Ein schöner und guter Satz, über den man gerne mal nachdenkt, wenn man die Lust verspürt, alles hässlich zu reden. Ich nehm ihn mir mit.
    Den Stilfehler eines „um mir“ habe ich ebenfalls gespeichert. Oder auch nicht… gerade wollte ich „und den“ schreiben.

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    • Du hast völlig Recht. Ich hätte den Text also ruhig mit „hässlich“ enden lassen können. Es hätte mir klar sein müssen, was du schreibst. Aber wenn ich so gestimmt bin wie gestern, fehlt mir das Vertrauen zu dem, was sonst innere Gewissheit ist. Zum Stilfehler: Das Problem zeigt sich erst beim Vorlesen. Man kann solche Gleichlaute direkt hintereinander nicht gut sprechen.

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      • Recht will ich gar nicht haben, lieber Jules.
        Es gefällt mir einfach einen schönen Satz im Gedächtnis zu behalten, der trotz des harten Wortes „hässlich“, weich und sanft klingt. Und da ist es eigentlich egal wo im Text er steht.

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        • Dein feinsinniges Urteil verblüfft mich, liebe Mitzi. Nie hätte ich gedacht, dass der Satz „Wer so hässlich über die Welt spricht, dessen Welt ist auch hässlich.” weich und sanft klingt. Da steht ja nirgends, dass ich den jungen Mann bedauert habe, der mit soviel Bitterkeit über die Welt sprach, und dachte, welche Menschen eine Großstadt doch hervorbringt, die sich mit einer harten Sprache glauben gegen alle Unbill wehren zu müssen. Es steht nicht da, weil ich gestern nicht annähernd fähig war, das zu umschreiben, und da kommst du wundersame Frau und hast es trotzdem so ähnlich herausgelesen. Sag noch einer, das Schwarze wären die Buchstaben.

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  3. Die Sache mit der negativen Dimension lässt sich im Grunde einfach darstellen, es bedarf keiner höheren Mathematik dafür, wie Sie oben mutmaßen – siehe:

    Wenn zwei Leute in einem Auto sitzen und drei steigen aus,
    muss einer wieder einsteigen damit keiner mehr drinsitzt.

    Es ist also gar nicht so kompliziert, wie man vielleicht meinen möchte.

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  4. Nicht zu viel Text und nicht zu viele Ideen, habe auch ich beim Schreiben ständig im Sinn, denn sobald sich ein Gedanke auf die Reise macht, könnte ein zweiter und ein dritter sich womöglich dazu gesellen und Dimensionen eröffnen, die sich in alle Richtungen ausbreiten, wogegen man mit der gekonnten Löschung von Wörtern, geschickt ausgeführt, die Entstehung einer Geschichte meist im Keime zu ersticken vermag …

    PS: eine herrlich und vergnüglich ausgeführte Bemerkung über (fast) nichts

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    • Man kennt das ja. Wenn irgendwo zuviel Gerümpel im Weg liegt, kommt man nicht voran. Am liebsten sind mir die Texte, bei dem sich die Ideen artig anstellen und warten bis sie dran sind, vor allem nicht drängeln und maulen, weil ich so langsam schreibe. Ja, am liebsten wäre ich ein Posthalter hinterm Schalter mit Dienstmütze und eine um die andere Idee träte manierlich vor, um sich abfertigen zu lassen.
      Vielen Dank dir für Lob und Kommentar!

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  5. Meine Lieblingspassage in deinem Text handelt von dem armen Wörtchen mir und seinem traurigen Schicksal. Ansonsten gilt natürlich, dass wir mit unseren kargen Ideen haushalten müssen und ein Feuerwerk nicht unbedingt mehr als ein Streichholz braucht. Wenn es läuft, dann sind Texte, die sich nur um sich selbst kümmern, eine wahre Freude, weil man sich ihnen anvertrauen kann, ohne anschließend irgendwo angekommen zu sein, wo man eh nicht hin wollte.

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    • Ich danke dir. Eine Entscheidung ist nicht nötig. Wenn du erlaubst, zitiere ich aus meinem Editorial: „Daher bilden Blogtext und Kommentare eine Einheit. Mein Blog ist für mich ein dynamisches soziales Kunstwerk, an dem Autor und Leser weiterbauen.“ Als Blogger ernähre ich mich quasi geistig von den inspirierende Kommentaren, die heute beispielhaft hier eintrudelten.

      Vielen Dank für den angenehmen Besuch und lieben Gruß,
      Jules

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  6. ich finde, etwas über nichts schreiben zu können, viel besser als nichts über etwas schreiben zu können. so geht es mir viel öfter! und jetzt les ich den vorigen text, um den beitrag und die vorigen kommentare rückwirkend zu verstehen;-)

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    • Im twoday-Blog verlinke ich ja eigentlich nur zu neuen Beiträgen ins derzeit leider verwaiste Teppichhaus. Derzeit bin ich intensiv mit dem Aufbau des Teestübchens beschäftigt und schaffe es nicht, mich um alle Blogprojekte gleichermaßen zu kümmern.

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