Wunderliches einer Herbstnacht

Bevor ich zu Bett ging, es war schon mitten in der Nacht, öffnete ich das Fenster, schaute hinaus und atmete die kühle Herbstluft. Nebel war aufgekommen, und atmen war wie saufen. Das Licht der Laterne strahlte einen Lichtkegel ab. Die Laterne war mehr im Zentrum einer Lichtkugel aus milchigem Gelb, das sich nach außen in der Dunkelheit verlor. Es schien mir unmöglich, die Grenze der Lichtkugel zu bestimmen, und derweil ich das aufschreibe, fällt mir ein, dass die Randzone des Lichts nicht nur verwaschen aussah, sondern auch nur unscharf berechenbar, vermutlich nur zu beschreiben wäre durch rekursive Mathematik, was ich aber nicht genau weiß, weil mir leider die Kenntnisse fehlen, denn ich bin nur ein dummer Mensch, der aus dem Fenster schaut, atmet und horcht. Der Nebel steht, es geht kein Luftzug, aber da ist ein unentwegtes Rascheln von fallenden Blättern, das durch die Feuchte der Herbstluft überdeutlich herangetragen wird. Kurz überlege ich, warum die Bäume gerade jetzt ihre Blätter fallen lassen. Ja, glauben denn die Bäume, sie müssten ihre Blätter ungesehen abwerfen gleich Urlaubern, die ihre Hunde heimlich an Autobahnraststätten aussetzen? Aber ich beobachte sie doch. Warum unterbrechen sie dann ihr schändliches Tun nicht? Warum halten sie ihre Blätter nicht fest, solange ich aus dem Fenster schaue? Der etwas unpassende anthropomorphe Vergleich zeigt an, dass jede meiner Beschreibungen die menschliche Sicht auf die Welt zeigt. Sie ist überwiegend selbstbezüglich, denn es geht ja um Eindrücke, die meine Sinne mir vermittelt haben. Wenn du sagst, aber meine Sinne arbeiten ähnlich wie deine, und weil ich die gleiche Sprache spreche wie du, kann ich die Beschreibung deiner nächtlichen Eindrücke nachvollziehen, dann wirst du gewiss mit mir darin übereinstimmen, dass die Beschreibung eigentlich eine Schilderung ist, ein audiovisuelles Gemälde aus Wörtern, die kurioser Weise als Anordnung winziger schwarzer Pixel auf deinem hellen Computerbildschirm erscheinen. Der Rest spielt sich auf deiner inneren Bühne ab. Das alles kommt dir nicht ungewöhnlich vor, weil es alltäglichen Gewohnheiten entspricht, ist aber eigentlich so seltsam, dass ich dich bitten muss, dich einen Augenblick mit mir über alles zu wundern.

Dieser Beitrag wurde unter Kopfkino veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

30 Kommentare zu “Wunderliches einer Herbstnacht

  1. So ist es. Gestern nächtens trat ich vor die Tür, um ein Zigarettchen zu rauchen, und wunderte mich über die Tropfgeräusche in der stillen Nacht aus dem Gebüsch und Gebäum heraus, da es nicht regnete und nicht geregnet hatte. Der Nebel perlte von den noch verbliebenen Blättern ab und ohne dass ich in den Himmel schauen musste, war klar, dass „dicke Suppe“ die Sicht auf Mond und Sterne eintrüben müsste.
    So bewusst hatte ich dieses Phänomen bisher noch nicht beobachtet. Die Stille der Nacht hat’s gebracht.

    Gefällt 2 Personen

  2. Nähme man sich doch immer die Zeit, sich zu wundern – in dem Sinne, dass man stets hinterfragt: Ist es so, wie es mir erscheint, und warum ist es so? Allerdings fürchte ich, dass wenn wir uns stets gebührend wunderten, wir effektiv nichts gebacken bekämen.

    Ein „Nebelbild“. das sich mir ins Gedächtnis gefressen hat, ist das einer weiß gestrichenen Bank die an einem nebeligen Morgen, aus dem Grau-in-Grau heraus leuchtete, angestrahlt von einer Sonne, die selbst hinter den Nebelschwaden nicht zu sehen war. Wie kann es etwas Weißes im Nebel derartig leuchten, und warum sind dann Nebelscheinwerfer gelb?

    Gefällt 2 Personen

    • Die Getriebenheit durch Alltagsgeschäfte hindert uns allzuoft, unsere Realität und unsere Art wahrzunehmen und zu urteilen zu befragen. Aber ich glaube, dass dieses Innehalten und sich Vergewissern überaus produktiv ist. Danke für das anschauliche Nebelbild. Warum Nebelleuchten gelb sind, weiß ich grad auch nicht. Aber das Internet hilft hier sicher.

      Gefällt 2 Personen

    • Vielen Dank für das Mehrfachlesen und das Kompliment! Wenn ich mir die Situation gestern Nacht vergegenwärtige, dann war da keine Wehmut im Spiel. Ich war im Reinen mit mir, froh und zufrieden, dass ich das Fibonacciprojekt endlich fertig hatte, und war darüber hinaus fasziniert vom ungewöhnlichen Geschehen draußen. Wenn ich eins bedauert habe, aber erst beim Aufschreiben, dass ich so gut wie nichts verstehe von der einzigen Sprache, mit der wir emotionslos beschreiben können, der Mathematik. Die Textsorten Beschreibung und Schilderung haben ebenso fließende Randbereiche. Selbst eine nüchterne sprachliche Beschreibung ist immer auch ein bisschen Schilderung, enthält entweder Gefühlswerte des Schreibers, oder der Leser legt dem Text beim Lesen Gefühlswerte bei wie du es tust, wenn du Wehmut vermutest.

      Gefällt 2 Personen

      • Da kann ich Dir nur Lu’s (finbarsgift) blog empfehlen. Seine ganze Mathematikabteilung 😉 ist faszinierend. Ich habe schon häufiger sein dort geparktes Enzensberger Essay gelesen. Die Texte sind sehr fruchtbar! Ich mag Mathematik, am liebsten, wenn sich alles auflöst, ein grosses Durcheinander Klarheit zeigt. Er hat mir dabei geholfen, eine Sache für mich zu lösen, die mich lange beschäftigt hat! Ich wollte einmal die Schönheit der Mathematik erfahren, wie sich das anfühlt !

        Tja ist so ne Sache, ich fühle halt gern 😉

        Gefällt 2 Personen

        • Danke für den Tipp, ich wusste, dass Lu Mathematiker ist, aber mir fehlen leider die Grundlagen und ich werde sie mir in diesem Leben nicht mehr aneignen können. Aber die Grenzen der Verbalsprache sind mir klar, und ich bin froh, dass ich mich wenigstens damit einigermaßen auskenne.
          Ich fühle auch gern, und gerade im Herbst sind meine Gefühle sehr lebhaft und überraschen mich oft.

          Gefällt 2 Personen

  3. Ab und zu muss man wohl innehalten, um sich klar zu machen, was wir da tun. Unsere Augen nehmen Informationen auf, leiten sie an unsere Gehirne und konstruieren ein Bild, von dem wir wissen, dass es keineswegs immer stimmt. Dieses Bild, das also nicht unbedingt der physischen Realität entspricht, beschreiben wir mit einem Zeichensystem, das aus dem Bild ein Wort macht, es also um eine weitere Ebene von der Realität entfernt, vermitteln das mit unseren jeweiligen mehr oder weniger ausgeprägten sprachlichen Fähigkeiten – und trotzdem sagt da jemand, er habe uns verstanden – und wir glauben ihm auch noch.

    Gefällt 3 Personen

    • Danke für deinen ergänzenden Kommentar. Du hast die Intention des Textes anschaulich dargelegt. Darüberhinaus hat mich die Tatsache befremdet, mit welchem Instrument wir im Blog operieren. Die Projektion meines Textes auf deine innere Bühne geschieht doch auf eine absolut erstaunliche Weise, von deren Implikationen und Abläufe wir kaum etwas wissen.

      Gefällt 2 Personen

    • Danke für Lob und Link, lieber Lu (wie schön das alliteriert) Es hat mir gefallen, mal wieder einen längeren Text von dir zu lesen. Er hat in der Tat Gemeinsamkeiten mit meinem, nur bist du romantischer als ich.

      Beste Grüße,
      Jules

      Like

        • Dann wärst du aber jetzt bedauerlicher Weise schon tot. Ich gebe überdies zu bedenken, dass im Oktober 1846 die Anästhesie in der Zahmedizin erstmals angewendet wurde. Davor war jeder chirurgische Eingriff eine lebensgefährliche Quälerei. Also bessser ab 1848, vor allem wegen der Geburtstunde der Demokratie.

          Gute Grüße,
          Jules

          Like

          • Hahaha, da hast du auch wieder recht, lieber Jules!

            Obwohl, wenn du wüsstest, welche Zahnqualen ich schon seit meinem sechsten Lebensjahr auch im zwanzigsten Jahrhundert mitgemacht habe, dann hättest du das wohl nicht extra erwähnt, was da ab 1846 erstmals angewandt wurde…

            aber von 1840 bis 1914 hätte mir auch schon gelangt! *lächel*
            Denn in jenem furchtbaren Jahr hörte das wundervolle romantische Zeitalter ja definitiv auf!!

            Herbstsonnengrüße vom Lu

            Gefällt 1 Person

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..