Der Bahnsteig in Duisburg steht voller Borussia-Mönchengladbach-Fans. Sie stürmen herein und nehmen lärmend die Waggons in Besitz. Die größten Krakeeler streben nach vorn in den zweiten Wagen. Die in den dritten Wagen kommen, betragen sich friedlicher. Sie sind offenbar altgediente Fans. Vier von ihnen nehmen schräg gegenüber auf einer Sitzgruppe Platz. Sie tragen schwarze Poloshirts mit einer weißen Stickerei überm Herzen. Da ist der Umriss von Deutschland zu sehen mit der Aufschrift: „IMMER DABEI“. Das B in DABEI ist ersetzt durch die Borussia-Raute mit dem B darin. Als der Zug sich in Bewegung setzt, bekommt der am Fenster einen Anruf, meldet sich gutgelaunt mit „Entbindungsstation!“ und sagt, dass man im dritten Wagen sei.
In Mülheim steigen weitere Borussiafans zu. Einer mit gesträubten roten Haaren und Brille trägt ein grün-weißes Borussia-Trikot, auf dessen Rückseite WOLLE steht und darunter eine große 13. Wolle hält es nie lange auf seinem Sitz. Manchmal kniet er darauf, guckt zu den Vieren herüber und spricht auf sie ein, mal läuft er auf den Gang, um bei anderen das große Wort zu führen. Da taucht Wolle erneut hinter den Vieren auf und fragt über die Rückbank hinweg: „Elektrolyte?“ Er hievt eine schwere Plastiktüte hoch und holt schlanke Stangen heraus, die in Zeitungspapier eingerollt sind. Sie sind unten säuberlich zugefaltet und oben zusammengedreht. „Der Zipfel ist oben“, sagt Wolle, indem er die eingewickelten Bierdosen verteilt. „Wo hast du die denn her?“ „Für 59 Cent aus Holland!“
Allmählich erschließt sich ein starker Zusammenhalt der Gruppe. Jedes Gruppenmitglied ist wie ein Instrument, und jeder in der Gruppe weiß, wie der andere am besten angeschlagen wird, damit er zur Entfaltung kommt. Wolle ist ein Vielredner und findet nichts dabei, ein Gespräch zu unterbrechen. Man lässt ihn gewähren. Als Wolle sich wieder in die Tiefe des Waggons verzogen hat, sagt der am Fenster: „Der hat mal wieder auf’m Supermannheftchen gepennt.“ Der unruhige Wolle verteilt seine Anwesenheit gerecht. So macht er sich allen erträglich, und dann überwiegen seine Vorzüge. Man weiß zu schätzen, dass Wolle die Gruppe wie eine fürsorgliche Supermutter mit gekühltem Veltins versorgt. Es wird auch daran erinnert, dass er schon mal eine Halbzeit in der Schlange vor der Bierbude verbracht hat, um Nachschub für die anderen zu holen. Die Gruppe zieht ihre bindende Kraft aus der gegenseitigen Akzeptanz, aus der Gruppensprache und ihrem gemeinschaftlichen Witz. Dieser Witz hilft auch in Notsituationen. Wolle hat einen Wind gelassen. Der ist heftig, denn Wolle pennt schließlich auf einem Supermannheft. Da gibt es gutmütige Ausrufe des Entsetzens, und der am Fenster sagt: „Davon kriegt man ja einen Schatten auf der Lunge.
Der links vorne erzählt, er habe gehört, dass englische Fußballfans sich mittlerweile in den Billigflieger setzen, um in deutschen Stadien noch einmal das richtige Fußballgefühl zu erleben. Denn in englischen Stadien gebe es ja nur noch Sitzplätze und alkoholfreies Bier. „Ohne Bier?! Das ist für mich kein Fußball mehr!“, sagt der am Fenster. Die Logik seiner Aussage erschließt sich beim zweiten Hinsehen. Bier ist einfach ein nötiges Elixier. Wer da in den Zug gestiegen ist, hat vielleicht einen Rucksack mit Sorgen zum Bahnhof getragen, und die gilt es jetzt abzuschütteln, um ein nützliches Mitglied der Gruppe sein zu können. Man muss Bier tanken, damit der Verein vorankommt, denn er ist das Vehikel der Alltagsenthebung. Ist der Verein erfolgreich, sind es all jene, die sich mit dem Verein identifizieren.
So stimmen sich im ganzen Zug viele kleine Fangruppen auf ihr Fußballspiel ein. Im Stadion treffen all die vorgeglühten Gruppen zusammen, bilden einen Schwarm und sehen sich gegenüber einem gegnerischen Schwarm. Beide Schwärme verkörpern ein gemeinschaftliches Sehnen. Nicht allein die Spieler sind die Akteure, sondern die Mannschaft ist es, und zur Mannschaft gehören die echten Fans, die sich im Stadion zum Schwarm vereint haben. Es gewinnt die Mannschaft, deren gemeinschaftliches Sehnen am stärksten ist. Angenommen die Partie steht in der 90. Minute noch immer 0:0. Und Sekunden vor dem Abpfiff schießt ein gegnerischer Spieler ein Eigentor. Das hat nicht der Fußballgott so entschieden, da war ein gemeinschaftlicher Wunsch so stark, dass das eher Unwahrscheinliche passieren konnte.
Damit man nicht ständig das Unwahrscheinliche bewirken muss, hoffen die Fans, dass der Verein es ihnen in der nächsten Saison leichter macht. Unter diesem Gesichtspunkt werden die Spielerzukäufe diskutiert. Hat der Verein mit dem Brasilianer einen guten Griff getan? Es gibt Grund zur Sorge: „Hast du das gesehen, als der eingewechselt wurde, hat der sich zuerst die Haare gekämmt!“Solche Gesten geben Anhaltspunkte; die Fans sind darin geübt, die Persönlichkeit eines Spielers nach seinem Verhalten zu beurteilen, unabhängig von dem Bild, das über die Medien an sie herangetragen wird. Mit der eigenen Anschauung können medial vermittelte Betrachtungen nicht konkurrieren.
Ein echter Fan ist immer dabei und macht es nicht wie jene, die nur mitfahren, „wenn wir die Hand schon am Pott haben.“ Man muss auch dabei sein, wenn die Mannschaft im DFB-Pokal auswärts gegen den Landesligisten Fichte Bielefeld antritt. Ganz egal, ob sich Fichte Bielefeld anhört, als würden die Spieler wie Weihnachtsbäume auf dem Platz herumstehen. Solche Spiele gilt es erst einmal zu gewinnen, bevor man überhaupt daran denken kann, die Hand nach dem Pott auszustrecken.
Der am Fenster ist Arbeiter im Stahlwerk. Er hat die besten Sprüche auf Lager, und die platziert er mit selbstverständlicher Zielsicherheit. Wenn Wolle sich sorgt, dass man seine Geburtstagsfete vergessen könnte und deshalb daran erinnert, sagt der Stahlwerker: „Doch, wir wissen, dass du fast jedes Jahr Geburtstag hast.“ Er wirkt gänzlich unbefangen, wie es nur Menschen sind, die sich in ihrem Umfeld völlig aufgehoben fühlen. Aus dieser Sicherheit entstehen seine Anziehungskraft und sein Witz. Wolle hat die Selbstgewissheit des Stahlarbeiters nicht. Er muss sich ständig der Aufmerksamkeit versichern. Darum weiß er nie, ob er genug für die Gruppe getan hat. Er hat für die anderen Bier mitgebracht. Doch diese freundliche Geste scheint längst vergessen. So lässt er das Thema noch einmal aufleben, indem er sagt, Manni hätte auch schon angeboten, Dosenbier aus Holland zu holen. „Taubenmanni?!“ Sie lachen, und dann fangen sie an zu spinnen, dass Taubenmanni ja seine Tauben als Bierkuriere einsetzen könnte. Das wird man nicht unbedingt ein vernünftiges Gespräch nennen. Doch es geht nicht um Vernunft, sondern darum, sich mit absurden Bildern von den Fesseln des Alltags und vor allem der Logik und Plausibilität zu befreien. Nur so lassen sich im Stadion die notwendigen geistigen Kräfte mobilisieren, einen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Es gilt schließlich zu verhindern, dass der neue Abwehrspieler in der letzten Spielminute ein Eigentor köpft, weil er nicht hoch genug gesprungen ist, aus Angst um seine schöne Frisur.
tja, diesen Typ Mensch werde ich nie verstehen. Als junge Studentin hatte ich einmal ein kleines Projekt machen wollen und bin zu einem Bundesligaspiel gegeangen und habe in der Fanecke für die gegenerische Mannschaft gebrüllt. Das habe ich damals fast mit meinem Leben bezahlt. Seitdem weiss ich, sie meinen es ernst und ich nehme sie nicht mehr ….und ich dachte immer, Frauen werden dort nicht ernst genommen !!
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Todesmutiger Selbstversuch! Zum Glück hast du ihn überstanden.
Im Zug hatte ich die Wahl, von den Fans genervt zu sein oder sie zu beobachten und zu verstehen versuchen. Das letztere fand ich produktiver.
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ich würde es heute als jugendlichen Leichtsinn und Fehleinschätzung bezeichnen.
Es war eine treffende Analyse…..was sie wohl von Dir gedacht haben 😉
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Sie haben mich vermutlich nicht wahrgenommen. Ich kann mich nämlich so gut wie unsichtbar machen. 😉
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…herrliche Analyse, hast wunderbar hingeschaut und hingehört…hier hab ich zwar „nur“ das Vergnügen der HSV und Pauli (und wenn mich jmd fragt bin ich eher für letztere, eben weil die so herrlich ehrlich sind, ob Fans oder Bild ist denen wurscht) -Fanvertretung …aber im Grunde läufts auf dieselben Menschentypen hinaus 😉
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Vielen Dank! Du hast Recht, die Fans unterscheiden sich von Verein zu Verein nur durch Fan- bzw Vereinstraditionen, der Menschentypus Fan ist überall gleich.
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Aber Hallo, Fußballfans sind doch keine Verbrecher 😡
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Wer sagt das denn?
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Alle 😎
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Ach was? Ich habe in meinem Text wohl das Gegenteil geschrieben.
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Trennst du Artikel und Kommentare?
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Nein, wieso? Meinst du den Kommentar von Ann über ihren Selbstversuch?
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Zum Beispiel.
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Sie beschreibt da einen Eindruck, den anzuzweifeln steht mir nicht an. Ich kann mir schon vorstellen, dass radikale Fans (Hooligans) nicht zimperlich sind, wenn man in ihrer Fankurve für die gegenerische Mannschaft brüllt. Aber Ann ist doch nicht „alle“.
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Autor und Kommentator verallgemeinern. Warum darf ich mich dem nicht anschließen?
Du stellst Fußballfans als Volldeppen dar und andere als Verbrecher. Ziemlich vermessen.
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Tut mir leid, wenn du das so liest. Ich habe mit Sympathie ziemlich genau beschrieben, was ich beobachtet habe und meine Schlüsse gezogen. Der Text war sogar monatelang auf der Fanseite von Borussia Mönchengladbach zu lesen. Offenbar war man da nicht der gleichen Ansicht wie du.
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Freut mich, wenn du zur allgemeinen Belustigung beiträgst.
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Könnte auch sein, dass die Fans sich gefreut haben, exemplarisch portraitiert worden zu sein. Jedenfalls hat sich keiner von ihnen bei mir beschwert. Darum fiel ich eben aus allen Wolken, als ich deinen Vorwurf las.
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Echt? Momentan bin ich hochempfindlich. Sieh’s mir bitte nach, lieber Jules.
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Schon OK. Was ist denn der Grund? Hast du Ärger oder nur herbstlichen Blues?
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Vermutlich beides.
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Tut mir leid und gefällt mir gar nicht.
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Fußballfans und Hooligans sind zwei Gruppen, die nur teilweise Überschneidungen aufweisen. Die Anwesenheit betrunkener Fans nehme ich – besonders im Zug – schnell mal als bedrohlich wahr, besonders, wenn ich ihre Zuneigung zu einem Verein nicht teilen kann – aber besser teilen sollte. Deine Betrachtung zur Soziologie der Gruppe sind sehr unterhaltsam, viel unterhaltsamer, als ein Tag im Bus oder Zug mit einer Fangruppe.
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Dankeschön, freut mich. Als die Fans den Zug stürmten, war mir zuerst auch mulmig. Dann aber habe ich gemerkt, dass sie friedlich waren und habe aufgeschrieben, was ich sah und hörte.
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Ich habe im Job mit BvB-Fans zu tun und das mach Spaß und ist sehr unterhaltsam, die kennen aber die „dunkle“ Seite sehr genau.
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