Das Murmeln der Mönche und Mitreden wollen

Wir sehen eine aktuelle Anzeige des Medienkonzerns Madsack für seine beiden Hannoveraner Zeitungen, Neue Presse und Hannoversche Allgemeine (größer: klicken) mit der Headline: „Weil mich jedes Wort mitreden lässt.“ Was ist die Botschaft?

mitredenDie Werbefuzzis des Madsack-Verlags meinen vielleicht, dass inhaltlich mitreden kann, wer ihre Zeitungen Wort für Wort liest. Sie meinen vermutlich nicht die Erkenntnis, dass die Stimmritze des Menschen sich beim leisen Lesen mitbewegt, dass wir also unwillkürlich nachsprechen, was wir lesen.
Das tonlose Lesen ist eine noch relativ junge Kunst. Die frühmittelalterlichen Bibliotheken waren von einem ständigen Murmeln erfüllt. Die unübersichtlichen Zeilen mit ihrem Buchstabeneinerlei, zwangen die lesenden Mönche zum lauten Buchstabieren, worauf der Philosoph Ivan Illich hingewiesen hat, wobei er die wunderbare Metapher prägte: „Murmler im Weinberg des Textes“.

Illich hat auch als erster darauf aufmerksam gemacht, dass der Übergang vom lauten zum leisen Lesen ein geistesgeschichtlicher Umbruch war. Er wurde erst möglich, nachdem im 7. Jahrhundert die Worttrennung eingeführt worden war, damit irische Bauern (idiotae) leichter Latein lernen konnten, wenn sie zu Mönchen ausgebildet wurden, um hinfort auf Europas Festland zu missionieren. Erst die Einteilung der Zeilen in Wörter, und in der Folge die Wortbilderkennung erlaubt das schnelle und leise Lesen. “Der Murmler im Weinberg des Textes” nimmt noch eine unterwürfige Haltung vor seinem Text ein. Denn er lässt die heiligen Texte ertönen, wodurch Schriftzeichen wieder zum gesprochenen Wort werden. Der leise Leser hingegen kann sich vom Text distanzieren, indem er ihm die Vertonung verweigert. Ein Text muss jedoch tönen, damit er seine volle Kraft entwickeln kann. Darum die Vorlesung an der Universität und die Autorenlesung. Ein Notarvertrag muss ebenfalls laut vorgelesen werden, um gültig zu werden.

Heutiger Schriftgebrauch hat sich weit vom Laut entfernt. Weil wir vermeintlich leise Leser sind, neigen wir auch zum leisen Schreiben, sind also versucht, Papierdeutsch zu schreiben, das heißt Sprache, die nicht tönt. Papierdeutsch wird vom Leser unbewusst abgelehnt. Deshalb sollte man beim Schreiben immer prüfen, ob der Text gut klingt, ob man ihn also gut vorlesen kann.

Ein anderer Aspekt ist das Mitreden. Der griechische Philosoph Platon hat im Phaidros schon früh eine Kritik an der Schrift formuliert, die gewiss heute noch gilt. Er lässt Sokrates vier Einwände gegen die Schrift vorbringen. In Kurzform:

1. Die Schrift schwäche das Gedächtnis.
2. Sie scheine zu sprechen, antworte jedoch nicht.
3. Sie richtet sich nicht an einen ausgewählten Adressatenkreis, sondern „schweife unter denen umher, die sie verstehen und unter denen, die sie nicht verstehen, weil sie gar nicht für sie gedacht ist.“
4. Der Autor stehe nicht mit seiner Person für die Rede ein.

Gerade Punkt 3 bringt nach Platon Scheinweise hervor, Leute also, die glauben aus der Schrift etwas verstanden zu haben und deshalb überall mitreden, auch bei Dingen, die sie nicht verstehen oder sich nur sinnlich erfahren lassen. Leider sind wir fast alle in der letzteren Situation. Außer den Alltagsbeobachtungen können wir nur in Erfahrung bringen, was irgendwo geschrieben steht. Das macht den jungen Mann aus der Zeitungswerbung zur Karikatur. In seiner Zeitung steht, „was schlau macht.“ Der amerikanische Journalist und Schriftsteller Ambrose Bierce höhnte schon Anfang des 20. Jahrhunderts in seinem sarkastischen Wörterbuch: The Devil’s Dictionary

„Erfrischend: Einen Menschen treffen, der alles glaubt, was in den Zeitungen steht.“

Schrecklich, wenn so ein Schlauberger auch noch überall mitreden will.

Fortsetzung folgt: „Über die Kraft des Mündlichen“

10 Kommentare zu “Das Murmeln der Mönche und Mitreden wollen

  1. Wieder einmal sehr lesens- und nachdenkenswerte Gedanken über das Lesen und das Schreiben, lieber Jules. Übrigens habe ich mir schon vor Zeiten angewöhnt, meine Texte laut zu lesen und dann gegebenenfalls den Satzbau noch einmal zu verändern oder Worte auszutauschen. Ein weiterer Vorteil: Man meldet sich dann nicht mit eingerosteter Stimme oder „Frosch im Hals“ am Telefon, weil man den ganzen Tag noch kein Wort gesagt hat.

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    • Freut mich! Vielen Dank! Man merkt deinen Texten an, dass du deren Klang überprüft hast. Ich glaube, mit der Zeit stellt sich ein Bewusstsein für Klang und Rhythmus ein. Als ich noch unter Graseinfluss geschrieben habe, hörte ich sogar die Sprachmelodie in der Tastatur, vorausgesetzt, ich habe mich nicht zu oft vertippt 😉 Eine Weile habe ich meine Texte sehr verknappt, alles was redundant war, getilgt, um möglichst kurz und bündig zu schreiben. Das war keine gute Idee. Viele Wörter, die im jeweiligen Kontext wie redundant daherkommen, sind eben für den guten Sprachrhythmus wichtig.

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      • Vielen Dank für Dein Bemerken. – Vor Jahrzehnten – es kommt mir vor, als sei es in einem früheren Leben gewesen, habe ich kurzzeitig an einer Schreibwerkstatt teilgenommen. Da behauptete jemand, man erkenne den Gehalt eines Textes, indem man nur die Substantive laut lese. Wenn da kein Bild entstünde (Mann – Tisch – Schüssel – Kartoffeln …), dann tauge der Text nichts. Nach diesem Schema könnte man ein Gutteil unserer wertgeschätztesten Literatur „in die Tonne kloppen“.

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        • Bei solchen Rezepten bin ich skeptisch. Gerade entfernt und nicht naheliegende Bereicher zu verbinden, so dass dem Leser nicht ständig die bekannten Kontexte vorgesetzt werden, sind damit diffamiert. Schade. Da halten wir uns doch lieber an den Wohlklang.

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  2. Gedichte lese ich halblaut, wenn ich allein bin, da merkt man schnell, ob sie gut sind.

    Mitreden wird weit überschätzt. Wenn ich mich in einer Mitredesituation befinde, ermüdet mich das oft so sehr, daß ich immer stiller werde und darauf hoffe, den anderen möge es doch bitte auch so gehen.;-)

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    • Man traut sich sowas nur, wenn man alleine ist. Geht mir auch so. Als ich letztens für meine Lesung geprobt habe, wollte ich auch nicht, dass Nachbarn mich hören. Das Mitreden sehe ich wie du. Oft wird man mit abenteuerlichen Behauptungen konfrontiert, und hat Mühe, dem zu begegnen. Außenpolitische Themen meide ich fast ganz. Hier fehlen uns gesicherte Informationen, und selbst wenn es die gedruckt oder im Netz zu finden gäbe, hat man sie nicht beizeiten parat.

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  3. Pingback: Einiges über die Magie der gesprochenen Sprache |

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