Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 4)

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Aachen hat mich wieder. 25 Jahre habe ich hier gelebt, bin sozusagen lange Zeit aus den Molekülen gebaut gewesen, die in Aachen herumschwirren. Was von denen noch da ist in mir begrüßt die Stadt wie eine alte Hausjacke. Im ICE hat mein Freund, Exkollege und Gastgeber mich angerufen und mir mitgeteilt, wo er mit dem Auto auf mich wartet. Ich verlasse den Hauptbahnhof durch den Seitenausgang und ziehe meinen Rollkoffer eine Straße hoch, die parallel zu den Bahngleisen verläuft. Drüben ist die Bahnhofsmission, wo ich mir mal habe helfen lassen, als ich meine Schwiegermutter versehentlich statt in den Zug nach Köln in den nach Brüssel gesetzt, also ins Ausland verschickt hatte, worin etymologisch das Wort Elend steckt. Unsere Vorfahren haben nämlich gedacht, die Leute im Ausland hätten nichts zu essen.

Meine Schwiegermutter bewahrte diese uralte Vorstellung treulich. Sie war nicht vom Gegenteil zu überzeugen gewesen, bis ich sie in den Zug geschubst und ins Ausland verschickt habe. Es war keine böse Absicht gewesen. Wir waren zu spät am Aachener Hauptbahnhof angekommen, und ich war froh gewesen, dass der Zug nach Köln noch da stand. Freilich entpuppte der sich nach dem Anrollen als Zug in Gegenrichtung und riss zu meinem Entsetzen die gute Schwiegermutter nach Belgien davon.

Um sie vor einer langen, schrecklichen Fahrt ins tiefe Elend zu bewahren, rief ich von der Bahnhofsmission im wallonischen Bahnhof Welkenraedt an. Bahnbeamte holten sie dort aus dem Zug. Meine Schwiegermutter sollte sich noch Jahre tief beeindruckt zeigen, erstens von den prächtigen Uniformen belgischer Bahnbeamter, dann von der sprachlichen Eleganz und ausgesuchten Höflichkeit. Sie redeten meine Schwiegermutter nämlich an mit: „Madame in Schwarz“ (Sie trug damals Trauerkleidung.)

Madame in Schwarz wollte natürlich ein Andenken an ihre Irrfahrt. In der Bahnhofshalle von Welkenraedt hing ein verstaubter Schaukasten mit belgischen Biergläsern. „Madame“ gab nicht eher Ruhe, bis einer der Bahnbeamten den Schlüssel für den Schaukasten besorgte und ihr ein Bierglas übergab, wofür er sich selbstverständlich weigerte, Geld anzunehmen. Diese generöse Tat war allerdings mit langer Wartezeit auf den Vitrinenschlüssel verbunden gewesen. Es handelte sich schließlich um einen Verwaltungsakt der Staatlichen Belgischen Eisenbahngesellschaft. Da müssen Formulare in allen drei belgischen Amtsprachen ausgefüllt werden, und es ist die Genehmigung von höherer Stelle erforderlich, dass der belgische König die Dokumente zur Übergabe eines verstaubten Bierglases aus dem Bahnhof Welkenraedt an eine deutsche Madame in Schwarz nicht siegeln muss. Dank der beherzten Entscheidung des Bahnvorstands, den belgischen König außen vor zu lassen, konnten die Welkenraedter Bahnbeamten meine Schwiegermutter und ihr Bierglas rechtzeitig und würdevoll zum Gegenzug nach Köln geleiten. Das alles war für meine Schwiegermutter der Beweis, dass Ausland nicht gleich Elend sein muss. Es geht doch nichts über eigene Anschauung. Sie erst erweitert den Horizont.

Da begrüßt mich auch schon die Lichthupe meines wartenden Freundes. Er umarmt mich wie einen Heimkehrer, nimmt mir Koffer und Rucksack ab, und ich sinke erleichtert in den Beifahrersitz seines Autos. Wir haben uns zuletzt im Februar gesehen. Also gibt es einiges zu erzählen. Während er sein Auto durch die Stadt steuert und ich seinem Bericht lausche, verfolgt ein Teil von mir die Wegstrecke und aktiviert Erinnerungen, die sich hie und dort anknüpfen, manche skurril, wie der von der Irrfahrt meiner Schwiegermutter, manche banal, dass ich beispielsweise in der katholischen Diozösanbibliothek drüben mal ein Buch ausleihen wollte und bei der Anmeldung eine Referenz angeben musste, weshalb ich dreist einen Religionslehrer benannt habe, der aber, wie ich vergessen hatte, evangelisch war. Und da in der Südstraße war eine Druckerei, wo ich einmal zum Test die belgische Discjockeyzeitschrift hab drucken lassen, die ich layoutete, um mein Studium zu finanzieren. Sie wurde monatlich in zwei Sprachen (Flämisch und Französisch) von einem europäischen Discjockeyverband (UPDJ) mit Sitz in Belgien herausgegeben. Man hatte auch eine deutsche Sektion gegründet und mich notariell als Präsidenten benannt, weil ich der einzige Deutsche war, den sie kannten. Ich hatte aber in meinem Discjockeyverband nie ein einziges Mitglied.

Einst vor einem Café am Aachener Münsterplatz, wo ich oft gesessen und geschrieben, manchmal auch durchs Fenster fotografiert habe:
Philosophie-mit-Brötchen

Jeder hat solche Erinnerungen an einen Wohnort, die sich mit den Jahren wie Sedimente übereinander legen. Und an manchen Stellen lohnt es sich, ein archäologisches Fenster aufzumachen, um hineinsehen zu können. Solche gibt es real in Aachens Altstadt. Man schaut in die Tiefe und kann die Reste verschiedener Siedlungsepochen erkennen. „Alle tausend Jahre versinkt eine Stadt um einen Meter“, hat mein guter Freund Coster mir mal erklärt, der sich leider erschossen hat. Er war in Aachen Stadtplaner gewesen, aber das war nicht der Grund für seinen Freitod.

Fortsetzung

21 Kommentare zu “Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 4)

  1. Pingback: Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 3) |

    • USA? Ich glaube, der Heimatschutz lässt mich gar nicht rein, nachdem was ich immer Subversives geschrieben habe 😉 Meinst du Ressentiments gegen Belgien? Das ist nur Spaß, ich bin immer gerne dort gewesen und höre hier in Hannover übers Internet den flämischen Musiksender „Studio Brussel“. Ich liebe Flämisch. Das sind für mich fast Heimatklänge.

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        • Dann bezog sich dein Kommentar auf Folge 3. Die Außenpolitik der USA kritisiere ich zu Recht, aber natürlich täte mir da auch eigene Anschauung gut. Man kann freilich nicht überall hin. Ich war auch noch nicht auf dem Mount Everest 😉

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                    • Ich bin den USA dankbar, dass sie uns von den Nazis befreit haben (hab ich auch nur gelesen, aber kenne in Holland und Belgien viele US-Soldatenfriedhöfe). Da haben sie meinen Respekt. Aber sonst sehe ich viele Kritikpunkte, habe aber im fraglichen Text nichts genauer ausgeführt. Um es mal neutral zu formulieren: Nachdem die USA im Irak Saddam gestürzt hatten, haben sie ein Machtvakuum hinterlassen, in dem der Islamische Staat sein Terrorregime hat etablieren können, ausgerüstet und unterstützt von den Saudis, zu denen die USA (aber auch Deutschland) freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Darum gibt es auch eine deutsche Mitschuld an dem Desaster.

                      Aber ich fürchte, mein Text von heute geht darüber ganz unter. Und ich habe Herzblut reingesteckt.

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  2. So, Moment, in Aachen angekommen… das Leben im Ausland, das mit dem Elend gleichgesetzt wurde… da bin ich dann gleich wieder bei dir: Da wohnten doch Freunde von uns in einer Straße, die „Im Elend“ hieß, aber gar nicht im Ausland lag, sondern in Wuppertal – was aber, wenn wir uns an Teil 1 erinnern, durchaus dem Ausland zuzurechnen wäre, zumindest aber dem Elend. Eine schöne Geschichte erzählst Du uns da von deiner Tante und der belgischen Bahn – aber das Du den Klang des Flämischen magst, ist nur entschuldbar, weil Du „um die Ecke“ gelebt hast. Mich hat das ABN-Niederländisch geprägt und mich schauderts, wenn ich Flämisch höre.

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    • Hübscher Zusammenhang. Alte Flurnamen haben für mich immer etwas Besonderes. Den schönsten sah ich mal in Mausbach, einem Dorf bei Stolberg. Da gibt es einen Weg namens „Düre Koof“ (Teurer Kauf)
      Wenn meine Schwiegermutter meine Tante wäre, müsste ich meine Cousine geheiratet haben. Das wüsste ich aber. Oder wie der Kölner auf Hochdeutsch etwas anzweifelt: „Da wissen Sie mehr als ich.“
      Die holländische Provinz Limburg ist viel schöner als das angrenzende belgische Limburg. Die Niederlande sind fein herausgeputzt, Belgien ist dagegen vielerorts schäbig. Aber das Flämische gefält mir besser, weil es weicher und nicht so kehlig wie das Holländische klingt, also kaum Rachenlaute hat. Die Schriftsprache ist ja identisch.

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  3. Ich kann mich daran erinnern, daß Du mal mit dem Gedanken gespielt hast, wieder nach Aachen zurück zu ziehen. Hast Du ihn wieder verworfen?

    Wie war das in der Bibliothek, man mußte eine Referenz angeben – und dann? Man konnte irgendeinen honorablen Namen sagen, und sie haben einem das geglaubt?

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    • Das geht bei mir wie Ebbe und Flut. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Tatsächlich ging das in der Diozösanbibliothek genau wie du vermutet hast. Aufschreiben musste ich den honorablen Namen nur, dann kam der Leiter der Bibliothek persönlich und hat mich in deren Benutzung eingewiesen.

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