Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 2)

Folge 1 hier

Was ist gruselig an Wuppertal? Als Kind bin ich mal im Wuppertaler Zoo gewesen und auch mit der weltberühmten Schwebebahn gefahren. Weil die Stadt sich in den engen Talgrund der Wupper quetscht, ist da kein Platz für eine Straßenbahn. Stattdessen hängen die Bahnen in 12 Metern Höhe an einem Schienensystem, das ziemlich genau dem Verlauf der Wupper folgt, eine Meisterleistung deutscher Ingenieurskunst aus dem Jahr 1901. Die Streckenlänge beträgt 13 Kilometer, und noch viel länger scheint die Stadt zu sein. Selbst wenn du mit dem ICE hindurch rauschst, scheint Wuppertal kein Ende zu nehmen, und du hast das Gefühl, diese Stadt will dich nicht weglassen. Und dann, gerade hast du dich gegruselt angesichts der steilen Straßen und der hohen hässlichen Häuser, von denen sie gesäumt sind, gerade hast du dich geschüttelt, weil du dir Leben in diesen Häusern vorgestellt hast, irgendwelche Lebensformen, die einem nur in etwa menschlich vorkommen, da hält der ICE auch noch im schäbigen Wuppertaler Hauptbahnhof, einer Ansammlung von mit Brettern vernagelten Ruinen. Vor dem Hauptbahnhof, stadteinwärts, hat es jahrelang ein riesiges Loch gegeben. Ich staune darüber, Arbeiter in orangefarbenen Warnjacken zu sehen und dass sie es offenbar geschafft haben, das Loch zu schließen. Andererseits sah ich sie schon im vergangenen Februar daran arbeiten. Wieso sind die Arbeiten in sieben Monaten nur geringfügig fortgeschritten? Eventuell reißt das Loch, wenn es gerade geschlossen ist, über Nacht wieder auf, gleich einer schwärenden Wunde, an der alle ärztliche Kunst versagt. Ich frage mich, welchen Menschenschlag drängt es, in so einen feuchten, finsteren Talgrund wie den der Wupper zu ziehen? Warum blieben sie nicht auf den luftigen und manchmal sogar sonnigen Höhen des Bergischen Landes? Vor Jahren traf ich einmal im ICE den psychedelischen Dichter und Zeichner grotesker Dinge Eugen Egner. Er fuhr bis Wuppertal mit.

Dieser Mann hatte beim Reiseantritt in Hannover schon meine Aufmerksamkeit erweckt, als er neben mir Platz nahm und dabei die auf dem Platz liegende Bahnzeitschrift ignorierte. Dann hatte er bis Hamm wie absichtsvoll auf ihr gesessen, weshalb ich nicht wusste, ob es ein Versehen war oder ob er vielleicht einer seltsamen Bahnfahrersekte angehörte, deren Mitglieder sich grundsätzlich auf Zeitschriften setzen, weil sie die Theorie vertreten, Sitzpolster würden mikrobiotische Weltreiche beherbergen, mit denen man sich besser nicht gemein macht. Wunderlich fand ich auch, dass wir ähnliche Kleidung trugen, schwarzes Jackett, dunkelgraues Hemd und Jeans, als hätten wir uns abgesprochen. Allerdings war sein schwarzer Mantel dünner als meiner, quasi für den damals in Hamm gerade ausgebrochenen Frühling gemacht, was er mir durch Anheben demonstrierte. Er habe eine Lesung hinter sich, sagte er, als wir wieder saßen. Eine halbe Stunde habe er auf der Leipziger Buchmesse gelesen, und das sei nicht besonders erbaulich gewesen, weil ein anderer Autor in der Nähe ihn per Lautsprecher zu übertonen drohte. Aber was hätte er machen sollen, der Verlag habe ihn zu dieser Lesung genötigt oder gebeten und so. Bald stellten wir einander vor, er war der Musiker, Autor und Zeichner Eugen Egner. Wir waren, wie wir herausfanden, Titanic-Kollegen, freilich war er viel bekannter und berühmter als ich. Sähe Eugen Egner wie seine gezeichneten Figuren aus, dann hätte er irgendwo an seinem Körper vielleicht eine groteske Ausbuchtung oder er trüge auf seinem Rücken eine aufgeschnallte Truhe.
Dem war nicht so, und die Zeitschrift hat er dann auch endlich ins Netz des Vordersitzes geschoben. Wir redeten bis Wuppertal, das dem Gefühl nach gleich hinter Hamm auftauchte. Er schickte mir darob sein neustes Buch mit düsteren Geschichten über ständig rundum bellende Hunde und so. Ich habe mir gedacht, dass solche Geschichten nur ein Wuppertaler sich ausdenken kann.

Uff, das war Wuppertal, zum Glück sind wir durch. Ich habe mir redliche Mühe gegeben, davon abzulenken. Jetzt werden auch die Hügel des Bergischen Lands flacher und weichen zurück. Wir sind im weiten Rheintal und durchqueren rechtsrheinische Vororte von Köln, wo immerhin schon Werbetafeln für Kölsch zu sehen sind. Immerzu freue ich mich, den Rhein zu überqueren, denn jenseits des Rheins liegt meine Heimat. Hinter mir das finstere Ausland, von dem ich früher immer voller Unbehagen gedacht habe, dass es ja nahtlos in die schier endlose sibirische Steppe übergeht und noch weiter sich erstreckt bis in die Innere Mongolei.

Wit tuckern über die Hohenzollernbrücke, unter uns das breite silberne Band des Rheins. Was für ein Krach empfängt uns im Kölner Hauptbahnhof! Namentlich zur Seite der hohen Bahnsteignummern ist ein ständiger Lärm von aufgeregten Lautsprecherdurchsagen, die von den Motoren der laufend ein- und abfahrenden Zügen übertönt werden. Dieses kakophone Getöse fängt sich im Gewölbe der gläsernen Dachkonstruktion, kann nicht hinaus und dreht sich deshalb brutal in die Ohren der Reisenden. Öffnen die Reisenden den Mund zum Sprechen, kommt der Lärm als Geschrei wieder hervor.

fIch hege doch so eine schöne Erinnerung an einen Bahnsteig im Kölner Hauptbahnhof, wie ich nämlich als Kind das kleine f kennengelernt habe. Jetzt stehe ich verloren in der Lärm umwaberten Menge, wartend auf den ICE nach Aachen und denke, dass meine Vorstellung weitab von jeder Realität ist. Zu Zeit der zischenden, pfeifenden und schubbernden Dampfloks, der schrillen Flöten der Bahnvorsteher muss ja der Lärm noch viel schrecklicher gewesen sein, so dass der leise F-Laut des Besens, von dem uns Erstklässlern meine hochverehrte Lehrerin Fräulein Lamboy erzählt hat, doch gar nicht zu hören war. Der ICE nach Brüssel rollt ein, und ich werde ein heikles Erlebnis haben, über das nur mit Fingerspitzengefühl zu berichten ist.

Folge 3

23 Kommentare zu “Bericht von meiner ethnologischen Forschungsreise von Hannover nach Aachen und zurück (Folge 2)

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  2. Ich habe den Artikel sehr gerne gelesen. Erstaunlich finde ich dein Gedächtnis in „Laut des Besens“. Wie schaffst du es, dich an Erlebnisse aus deine Kindheit zu erinnern? Ist man nur ein guter Autor, wenn man so ein gutes Gedächtnis hat? Mir fällt in dem Zusammenhang auch das Buch „Ein springender Brunnen“ von Martin Walser ein.

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    • Das freut mich sehr! Eigentlich ist mein Gedächtnis nicht besonders gut. Aber wirklich prägende Ereignisse behalte ich, in diesem Fall, weil ich Fräulein Lamboy lange Zeit regelrecht verehrt habe.
      Ein Freund von mir ist Eidetiker, hat also ein fast fotografisches Gedächtnis. Er schreibt auch schön, aber hat keine erkennbaren Vorteile davon, nur den Efeekt, dass ich ihn immer wieder etwas frage. 😉 Den Roman kenne ich leider nicht. Mir ist am Vergleich mit meinen Tagebüchern immer wieder aufgefallen, wie verfälschend meine Erinnerung ist. Dagegen hilft nur, rechtzeitig aufzuschreiben, wenn die Erinnerung noch frisch ist.

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  3. Dein Reisebericht mäandert so schön vor sich hin, du unterhälst uns während der Fahrt mit kleineren oder größeren Erlebnissen und machst nebenbei Wuppertal so runter, dass die Bewohner der umliegenden Gemeinden vermutlich mit Schaufeln losziehen, um dieses Tal einfach zuzuschütten, was natürlich an diesem gräßlichen Loch scheitern dürfte, in dem alles einfach verschwindet.

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  8. Faszinierend, diese Wuppertal-Bühne. Als ob man bei einer Beckett-Aufführung landete, doch der Regisseur verzichtet auf Beckettsche Mininalismus und stopft die Bühne voll mit verschiedenen Ebenen.

    War da nicht irgendwo auch ein Herrenboutique geöffnet?

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